Buchtipp: „Griechenland liegt im Hinterhof“.

Aus dem Band : „Griechenland liegt im Hinterhof“, von Nikos Papadakis.

Jeder Tag wird abgelebt
Morgens mit einer Tasse warmer Milch
Und da es an Geld mangelt ohne Zwieback
Den sie doch so gerne eintaucht
Einige Sekunden warten
Und diesen im Mund, wenn er noch weicher geworden ist
Genüsslich mit dem Gaumen noch feiner zermalmt
Mit einem „Poli Oreo“ runtergeschluckt.

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Guter Buchtipp

Jeder Tag wird abgelebt
Vormittags hoffend, dass ein Nachbar
Zwei Tomaten und eine Zwiebel bringt
Die man dann zum Mittag
Mit drei getrockneten Sardellen isst
„Poli nostimo“ sagt und Gott dankt
Dass Apostolis am Markt mehr Tomaten geholt hat
Um zwei verschenken zu können.

Der Fernseher läuft den ganzen Tag
Man könnte die Welt verpassen
Wobei das Ende der Welt
Noch das kleinere Übel wäre.

Die alte Frau hat knapp 300 Euro Rente
Und wenn sie das Geld nicht gleich bar abhebt
Wird ihr Sohn, der sogar mal ihr Gebiss verpfändet hat
Das Geld abheben, knapp 20 Euro übrig lassen
Mit dem Satz: Die Steuern fressen alles auf.

Jeder Tag wird abgelebt
Und da sie noch etwas Reis hat
Kocht sie die übrig gebliebene Milch
Und dieser Milchreis dient als Abendbrot.
Das Stück Fleisch, dass ihr Anastasia
Die Gegenüber wohnt gebracht hat
Landet im Kühlschrank.

Falls ihr Sohn, der einzige der noch verblieben ist kommen sollte
Meistens dann, wenn er wieder alles Geld versoffen hat
Das Meeresrauschen hat sie lange nicht mehr gehört
Obwohl das Meer keine Fünf Autominuten fern ist
Sie freut sich über die Flugzeuge
Die täglich über den Hof fliegen
Und wenn entfernt Kirchenglocken erklingen
weiß sie, dass sie noch lebt.

Jeder Tag wird abgelebt
Wie der zuvor
Und der, der vielleicht folgen wird.
Nächsten November wird sie neunzig
Und wenn der Milchreis gegessen ist
Aus dem Lautsprecher des Fernsehers
Die Nationalhymne erklingt
Und farbige Bilder von der Akropolis zu sehen sind.

Dann zündet sie die Kerzen vor der Ikone an
Sagt ihr „Vater unser“
Betet für alle Menschen in der Welt
Sogar für den Mörder ihres ersten Sohnes
Und die Tränen der Trauer
Wiegen sie in einen Dämmerschlaf.
Dieser Tag ist abgelebt.

Von Nikos Papadakis