Kreta: Gavdos, die winzige Insel.

Am Rande Europas: Die lange Geschichte des kleinen Gavdos.

Von Ray Berry am 30. November 2025.


Wer jemals das Gefühl haben möchte, ganz im Süden Europas angekommen zu sein, sollte nach Gavdos reisen. Die Insel ist so klein, dass sie auf den meisten Karten kaum zu erkennen ist und wie ein winziger Felsbrocken aus Buschwerk unterhalb der Südküste Kretas liegt. Doch sobald man in Karave von der Fähre steigt und den Kai betritt, spürt man, dass man an einem Ort angekommen ist, an dem die Welt ihren Griff ein wenig zu lockern scheint.

Gavdos ist mehr als nur Strände und Barfußcamper. Die Insel birgt Geschichten von der Steinzeit bis zum Atomzeitalter. Mythen von Odysseus und Kalypso. Verbannte, die hierher in Ketten geflohen sind. Kriegsängste. Verlassene Häuser und halbvergessene Terrassen. Russische Wissenschaftler, die Tschernobyl überlebten und bis auf diese winzige Insel am Rande Europas kamen, um neu anzufangen – und die sogar den riesigen Holzstuhl bauten, der heute auf das Libysche Meer hinausblickt.

Es ist eine Fülle an Geschichte und Emotionen, die in einem Felsen konzentriert sind, den man an einem Tag zu Fuß durchqueren kann. Lasst uns ihn in gemächlichem Tempo erkunden.

Eine kleine Insel mit einem weiten Horizont

Gavdos ist nur wenige Dutzend Quadratkilometer groß. Es wirkt weniger wie eine klassische Insel, sondern eher wie ein verstreutes Dorf, das sich von Kreta aus nach Süden verlagert hat. Das Land steigt sanft an, nicht dramatisch. Der höchste Punkt liegt bei etwas über 300 Metern, daher findet man anstelle von schroffen Gipfeln langgestreckte, niedrige Bergrücken, flache Täler und Hänge, die mit Sträuchern, Wacholder und Kiefern bewachsen sind.

Die Erde ist leicht und bröckelig. Jahrhundertelanges Abholzen und Beweiden haben den ursprünglichen Wald weitgehend gerodet, sodass vielerorts das Gestein durchscheint. Alte Steinterrassen schmiegen sich an die Hänge und erinnern an Zeiten, als jeder Fleck Erde genutzt und nichts verschwendet wurde. In der Sommerhitze verblassen die Farben zu einem blassen Strohgelb und einem staubigen Grün. Im Winter überrascht die Insel mit frischem Gras und zarten Blüten, wenn endlich der Regen kommt.

Das Klima wirkt eher afrikanisch als griechisch. Gavdos liegt südlicher als Kreta, näher an Libyen als an Athen. Im Sommer brennt die Sonne unerbittlich und direkt. Mittags ist das Licht so hell, dass das Meer fast weiß erscheint und die Schatten messerscharf sind. Im Winter ziehen Stürme Schlag auf Schlag auf. Der Wind peitscht gegen die Klippen, und die Fähre kann tagelang festliegen. Die Inselbewohner wissen, was es heißt, buchstäblich von der Außenwelt abgeschnitten zu sein.

Offiziell hat die Insel etwas über hundert registrierte Einwohner. Tatsächlich beläuft sich die ständige Winterbevölkerung auf etwa einige Dutzend Menschen, die sich auf Kastri, Vatsiana, Karave und einige Häuser in der Nähe des Leuchtturms und der Strände verteilen. Im Sommer steigt diese Zahl sprunghaft an, wenn Besucher mit Zelten und Rucksäcken anreisen. Manche bleiben nur ein paar Tage. Andere verweilen wochen- oder sogar monatelang, bis die ersten Herbststürme sie sanft zurück nach Kreta treiben.

Gavdos ist zugleich der südlichste bewohnte Punkt Europas. Das klingt imposant, doch in Wirklichkeit ist es ganz einfach. An seiner südlichsten Spitze, Kap Tripiti, verjüngt sich der Felsen zu einem schmalen Finger, der ins Libysche Meer ragt. Natürliche Steinbögen wurden hier von den Wellen geformt. Darüber, auf der Klippe thronend, steht ein riesiger Holzstuhl. Setzt man sich in diesen Stuhl, befindet man sich buchstäblich am südlichsten Punkt Europas, blickt nach Süden, und zwischen einem und Afrika liegt nichts als Wasser. Es ist verspielt und ernst zugleich, und diese Stimmung passt hervorragend zur Insel.

Eine Insel voller Namen und Geschichten

Weil Gavdos so abgelegen im Libyschen Meer liegt, ist es Seeleuten und Geschichtenerzählern schon seit Urzeiten aufgefallen. Im Laufe der Jahrhunderte hat es viele Namen erhalten: Ogygia, Clauda, ​​Cauda, ​​Gaudos, Gondzo, Gotzo. Jede dieser Varianten erzählt etwas darüber, wer vorbeisegelte und wer die Karten zeichnete.

In der griechischen Mythologie ist Ogygia die Heimatinsel der Nymphe Kalypso. Hier, so Homers Erzählung, wird Odysseus sieben Jahre lang festgehalten und ist versucht, seine Heimreise aufzugeben. Die Insel wird als abgelegen und schwer zugänglich beschrieben, ein Ort jenseits der üblichen Wege. Diese Beschreibung hat viele Menschen dazu angeregt, nach einem realen Ogygia zu suchen. Gavdos, einsam im Libyschen Meer gelegen, ist zu einem der Hauptkandidaten geworden. Ob es sich nun tatsächlich um Kalypsos Insel handelt oder nicht, spielt heute kaum noch eine Rolle. Die Idee hat sich festgesetzt. Einheimische und Besucher sprechen ungezwungen von Kalypso, wenn sie am Meer sitzen, und die Vorstellung, dass Odysseus auf denselben Horizont blickte, passt zur Atmosphäre des Ortes.

Die Insel taucht in einem ganz anderen Text wieder auf. In der Apostelgeschichte des Neuen Testaments findet sich eine kurze, praktische Passage über ein Schiff, das in einen Sturm gerät. An Bord ist Paulus, der als Gefangener nach Rom unterwegs ist. Die Seeleute, die auf hoher See kämpfen, erreichen die geschützte Seite einer kleinen Insel namens Cauda und ergreifen Notmaßnahmen, um das Schiff zu retten. Viele glauben, dass Cauda Gavdos ist. Es ist nur eine kurze Erwähnung, aber sie zeigt, dass die Seefahrer jener Zeit diesen winzigen Felsen bereits als Zuflucht bei schlechtem Wetter kannten.

Später finden sich auf mittelalterlichen Seekarten Gaudos und ähnliche Namen. Arabische Seeleute, venezianische Kapitäne und osmanische Beamte markierten die Insel ihrerseits auf ihren Seekarten. Für manche stellte sie eine Gefahr dar, die es zu meiden galt. Für andere war sie ein nützlicher Orientierungspunkt. Schiffe, die von Nordafrika nach Kreta oder zum Peloponnes fuhren, kannten ihre Form am Horizont. Sie war ein Fixpunkt, ein Ankerpunkt für ihre mentale Seekarte.

Unter diesen schriftlichen Spuren verbirgt sich eine viel ältere menschliche Präsenz.

Von Besuchern aus der Steinzeit zu einem Außenposten aus der Bronzezeit

Archäologische Ausgrabungen auf Gavdos belegen, dass die Insel seit Jahrtausenden besiedelt ist. Steinwerkzeuge und andere Funde deuten auf Besuche oder saisonale Aufenthalte bereits in der späten Steinzeit hin. Das Meer stellte schon damals kein Hindernis, sondern einen Weg dar. Frühe Seefahrer konnten mit kleinen Booten von Kreta oder dem Festland nach Gavdos übersetzen, dort jagen, fischen und Ressourcen sammeln und anschließend weiterziehen.

In der Bronzezeit gewann die Insel an Bedeutung. An den Nordhängen, bei Katalymata, legten Archäologen die Überreste eines bedeutenden Gebäudekomplexes frei. Grundriss und Baumaterialien deuten auf minoischen Einfluss hin. Es handelte sich nicht um eine zufällige Ansammlung von Hütten, sondern um eine organisierte Siedlung. Spuren von Lagerräumen, Arbeitsbereichen und Wohnräumen sind erkennbar. Keramik und Werkzeuge belegen Verbindungen zum südlichen Kreta und der weiteren minoischen Welt.

In jener Zeit verband das Meer Ägypten, Kreta, die Levante und Zypern. Schiffe transportierten Kupfer, Zinn, Keramik, Olivenöl und Ideen. Gavdos lag genau an einer strategisch wichtigen Route zwischen Südkreta und weiter südlich gelegenen Häfen. Es bot Schutz, Wasser und vielleicht die Möglichkeit, eine kleine, dauerhafte Siedlung zu errichten, die den Küstenhandel unterstützen konnte. Steht man an einem heißen Tag oberhalb von Katalymata und blickt nach Norden Richtung Kreta und nach Süden auf das offene Meer, kann man sich gut vorstellen, wie kleine minoische Boote mit ihren Besatzungen ständig ein- und ausfuhren.

Später, unter römischer Herrschaft, blieb diese Funktion erhalten. Die Römer verstanden es meisterhaft, karge Böden zu nutzen. Offenbar schlugen sie auf Gavdos Holz, hielten Weidetiere, bauten Feldfrüchte an und betrieben einige Anlagen. Die Funde deuten darauf hin, dass die Insel zwar nicht reich, aber dennoch belebt war. Über Generationen hinweg wichen die Wälder dem Druck von Bauern und Schiffbauern. Die kahlen Hänge, die man heute sieht, sind zum Teil die langfristigen Folgen dieser Entwicklung.

In der Spätantike und der frühen byzantinischen Zeit erreichte das Leben auf Gavdos möglicherweise seinen Höhepunkt. Schätzungen gehen von mehreren Tausend Einwohnern aus. Wie genau die Zahlen auch sein mögen, es ist klar, dass hier deutlich mehr Menschen lebten als heute. Kleine Kirchen entstanden. Häuser und Terrassen nahmen zu. Die Insel entwickelte sich zu einem wichtigen Grenzposten des Reiches, der die Schifffahrtswege überwachte und seinen Anteil an Getreide, Wolle und Fisch lieferte.

Heute finden sich auf der Insel verstreut Kapellen und Kirchenruinen aus jenen Jahrhunderten. Manche erstrahlen in frischem Weiß, mit leuchtenden Blumen am Eingang. Andere sind nur noch verfallene Ruinen, an deren Wänden sich schwache Spuren von Ikonen erkennen lassen. Besucht man genügend davon, beginnt man zu spüren, wie lange schon Menschen auf diesem Felsen Kerzen anzünden und auf ihren Reisen um Schutz bitten.

Piraten, Sarazenen und der langsame Niedergang

Vom Mittelalter an war das Schicksal von Gavdos eng mit den Mächten verbunden, die um Kreta und die umliegende Region kämpften. Byzantinische Flotten, arabische Seeräuber, venezianische Konvois und osmanische Geschwader durchquerten immer wieder die Gewässer um die Insel.

Der Name eines der Hauptstrände, Sarakiniko, erinnert an ein dunkles Kapitel der Geschichte. Sarakiniko bedeutet „von den Sarazenen“. Arabische Plünderer nutzten die Insel als Ausgangspunkt für Angriffe auf Kreta und vorbeifahrende Schiffe. In der Sicherheit ihrer Buchten konnten sie Schiffe reparieren, Beute verteilen und den nächsten Raubzug vorbereiten. Für die Küstenbewohner Kretas war die Insel Gavdos am Horizont sowohl Warnung als auch Orientierungspunkt.

Später kamen weitere Piraten, darunter der gefürchtete Barbarossa. Die geschützten Buchten an der West- und Nordküste boten ideale Verstecke. Wenn man heute von einer Landzunge bei Lavrakas oder Potamos hinunterblickt und die ruhige Sandbank und das Meer sieht, kann man sich vorstellen, wie dort einst karge Galeeren vor Anker lagen und raue Besatzungen auf Nachricht von lohnenden Zielen warteten.

Unter venezianischer Herrschaft wurde Gavdos fester in ein organisiertes Seefahrtssystem eingebunden. Steuern wurden erhoben, Patrouillen geplant. Die Insel war Teil einer Kette von Wachtürmen, die die Seewege bewachten. Dennoch blieb sie klein und peripher. Ihre Hauptfunktion bestand darin, als Beobachtungsposten und zur Holzgewinnung zu dienen.

Im 17. Jahrhundert, als die Venezianer Kreta endgültig verloren, fiel die Insel an das Osmanische Reich. Unter osmanischer Herrschaft war sie als Gondzo bekannt. Aufzeichnungen aus dem 19. Jahrhundert deuten auf eine Bevölkerung von wenigen Hundert Menschen hin. Das reichte zwar für den Unterhalt einiger Dörfer, war aber nur ein Bruchteil der Bevölkerungsdichte des frühen Mittelalters. Der lange Niedergang hatte begonnen.

Das Leben hier war immer hart. Wasser war knapp. Der Boden karg. Anderswo boten sich immer mehr Möglichkeiten. Mit dem Wandel der Schifffahrt und dem Übergang vom Segelschiff zum Dampfschiff verlor Gavdos als Zwischenstation an Bedeutung. Seine Buchten waren hauptsächlich für Fischer nützlich. Nach und nach zogen Familien nach Kreta oder aufs Festland, und die Terrassen verstummten.

Insel der Verbannten und Schatten der Kriegszeit

Das 20. Jahrhundert brachte Gavdos eine neue und recht harte Rolle. Der moderne griechische Staat nutzte, wie einige andere zu jener Zeit, abgelegene Inseln als Verbannungsort für politische Gegner. In den 1930er Jahren wurden Hunderte linker Aktivisten und Kommunisten auf Außenposten wie Ikaria, Agios Efstratios und Gavdos deportiert.

Auf Gavdos wurden über zweihundertfünfzig Männer verbannt. Einige von ihnen spielten später eine bedeutende Rolle im griechischen Widerstand und im Bürgerkrieg. Hier lebten sie in einfachen Hütten und teilten sich Zimmer, arbeiteten an öffentlichen Projekten, lasen, diskutierten und versuchten, den Mut nicht zu verlieren. Einheimische Familien halfen ihnen manchmal mit Essen und Gesellschaft. Für die Inselbewohner fügten diese Jahre den vertrauten Hügeln und Gebäuden eine neue Erinnerungsschicht hinzu. Ein verfallenes Haus wird vielleicht noch heute als „das Haus der Verbannten“ bezeichnet. Ein Weg wird vielleicht noch als „der Weg der Wachen“ in Erinnerung behalten.

Dann kam der Zweite Weltkrieg und die Schlacht um Kreta 1941. Während die deutschen Truppen vorrückten, versuchte das alliierte Oberkommando, die Truppen aus dem Süden Kretas zu evakuieren. Einige Evakuierungsrouten führten über Gavdos, das als Zwischenstation auf dem Weg nach Ägypten diente. Nach dem deutschen Sieg auf Kreta geriet die Insel unter die Kontrolle der Achsenmächte.

Der alte Leuchtturm an der Nordwestspitze von Gavdos spielte in dieser Geschichte eine Rolle. Errichtet im späten 19. Jahrhundert, besaß er einst einen der stärksten Lichtstrahlen im östlichen Mittelmeer. Im Krieg wurde er zum Ziel und beschädigt. In den folgenden Jahrzehnten geriet das Gebäude mit dem Fortschritt der Navigationstechnik in Vergessenheit. Erst in den letzten Jahren wurde es auf sanftere Weise wiederbelebt, mit einem kleinen Café und einer Ausstellung zu seiner Geschichte. Der Lichtstrahl ist heute ein modernes, automatisches Licht. Die umliegenden Räume, die einst vom Lärm der Maschinen und Sturmwarnungen erfüllt waren, sind nun erfüllt vom Klirren von Tassen und dem leisen Gespräch der Besucher, die den Sonnenuntergang genießen.

Den Felsen verlassen und wieder zurückkehren

Nach dem Krieg traf die allgemeine Entwicklung des ländlichen Griechenlands auch Gavdos auf ganz direkte Weise. Im ganzen Land verließen die Menschen Bergdörfer und abgelegene Inseln auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben. Dasselbe geschah hier, nur noch viel intensiver. Der Staat ermutigte die Einwohner von Gavdos sogar, ihr Land auf der Insel gegen Besitztümer auf Kreta einzutauschen. Viele nahmen das Angebot an und ließen sich in Orten wie Paleochora nieder, wo einige Viertel noch heute den Namen Gavdiotika tragen.

In den 1960er und 1970er Jahren war die ständige Bevölkerung von Gavdos auf nur noch wenige Dutzend Menschen gesunken. Häuser standen leer. Zisternen waren rissig. Terrassen wurden langsam vom Gestrüpp überwuchert. Im Winter wirkte die Insel fast verlassen. Es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn sie schließlich völlig aufgegeben worden wäre.

Doch dazu kam es nie ganz. Ein hartnäckiger Kern von Familien blieb. Andere kehrten im Alter zurück, um ihre Häuser zu reparieren und das Land zu bewirtschaften. Ziegen streiften noch immer mit läutenden Glöckchen über die Hänge. Bienen sammelten weiterhin Thymianblüten. Die Inselbewohner zündeten noch immer Kerzen in ihren Kirchen an und behielten das Wetter und den Fährplan im Auge. Gavdos hielt sich in den Zeiträumen zwischen Entvölkerung und Überleben.

Eine Insel, die zum Symbol wurde

In den 1990er Jahren geriet diese winzige Insel plötzlich ins Zentrum diplomatischer Aufmerksamkeit. Streitigkeiten zwischen Griechenland und der Türkei um die Souveränität über Inseln und Meeresgebiete in der Ägäis sorgten für Schlagzeilen. Gavdos, obwohl weit im Süden gelegen, wurde zum Symbol für die Ausdehnung griechischen und europäischen Territoriums.

Griechische Politiker besuchten die Insel, um ihre Bedeutung zu unterstreichen. Es war die Rede von Entwicklung, Investitionen und neuer Infrastruktur. Kameras begleiteten die Minister auf staubigen Feldwegen, die sonst nur von Pick-ups befahren wurden. Einige Tage lang stand das Leben auf Gavdos im Mittelpunkt des nationalen Interesses. Dann verlagerte sich der Fokus wieder auf andere Dinge.

Manche Versprechen führten tatsächlich zu Verbesserungen. Die Stromversorgung stabilisierte sich allmählich. Eine Telemedizin-Einheit wurde eingerichtet, auch wenn sie anfangs unter Strom- und Gerätemangel litt. Die Insel erhielt zumindest eine Grundversorgung, die das Leben ganzjährig erleichterte. Dennoch blieben die Probleme bestehen. Die Straßen waren weiterhin eng und in schlechtem Zustand. Versorgungsengpässe waren nach wie vor möglich. Das Gefühl, weitab von allem zu sein, verschwand nicht.

Gavdos heute, zwischen Einfachheit und Druck

Wer heute auf Gavdos ankommt, findet eine Insel mit einem ganz besonderen Gleichgewicht vor. Auf der einen Seite gibt es die ständige, kleine, aber tief verwurzelte Gemeinde. Auf der anderen Seite die saisonale Besucherwelle, die gerade deshalb kommt, weil es hier nicht viel gibt.

Die Fähre bringt Sie nach Karave, einem beschaulichen Hafen in einer felsigen Bucht. Dort gibt es eine Rampe, einige Gebäude, ein paar geparkte Autos und eine kleine Gruppe von Tischen, wo Kaffee und Essen freundlich serviert werden. Von dort führt eine schmale Straße den Hang hinauf nach Kastri.

Kastri ist der Hauptort. Ein Rathaus, eine Schule, ein Laden, ein Café, eine Kirche. Einfache Häuser, manche frisch gestrichen, andere verwittert und ausgebessert. Hühner scharren in den Höfen. Alte Männer sitzen im Schatten und unterhalten sich. Kinder flitzen mit ihren Fahrrädern über die Straße. Es ist ein Dorf, das fast überall im ländlichen Kreta liegen könnte, nur dass das Meer nie weit entfernt ist und man weiß, dass hinter dem Horizont kein weiteres Dorf liegt.

Von Kastri zweigt die Straße ab und führt nach Sarakiniko, zum Leuchtturm und weiter nach Vatsiana und in den Süden der Insel. Der Asphalt weicht stellenweise holprigeren Abschnitten. Staub wirbelt hinter vorbeifahrenden Fahrzeugen auf. Ziegen treten gelassen beiseite.

Unten in Sarakiniko findet man den entspanntesten kleinen Treffpunkt des Insellebens. Ein sanft geschwungener, heller Sandstrand. Tamarisken. Tavernen und Zimmer, die den ganzen Sommer über geöffnet sind. Zelte im Schatten. Menschen, die gemächlich zwischen Meer, Schatten und Essen hin und her wandern. Nachts taucht das Licht der Veranden den Strand in ein warmes Licht. Oft erklingt Musik, mal live, mal nur jemand mit Gitarre. Die Zeit scheint hier stillzustehen.

Weiter nördlich, in Agios Ioannis, herrscht eine wildere Atmosphäre. Man lässt die letzten geparkten Autos hinter sich und wandert über die Dünen zum Strand. Hinter dem Ufer bilden sanfte Hügel und Wacholderbäume eine idyllische Kulisse. Diese Gegend ist bei Wildcampern und Menschen, die ein einfaches Leben führen, sehr beliebt. Hängematten spannen sich zwischen den Bäumen. Man baut kleine, provisorische Unterkünfte und kocht auf Campingkochern. Die Tage verschwimmen ineinander. Morgendliches Schwimmen. Lange Gespräche. Nächte unter dem Sternenhimmel. Die Freiheit ist spürbar, doch auch die Gefahren für die empfindliche Landschaft sind real, und es herrscht ein ständiges Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch, die Dünen zu schützen, und ihrer Anziehungskraft.

An der Westküste belohnen Strände wie Lavrakas und Potamos all jene, die sich etwas anstrengen möchten. Es gibt keine Einrichtungen, keinen offiziellen Schatten, keinen schnellen Rückweg. Man läuft dorthin und trägt alles Notwendige. Wenn man ankommt, wirkt die Stille umso intensiver, da man sie sich hart erarbeiten musste.

Weiter oben bietet der Leuchtturm einen der schönsten Aussichtspunkte der Insel. Das alte Gebäude wurde so weit restauriert, dass es heute ein kleines Café und eine einfache Ausstellung beherbergt. Von der Terrasse aus breitet sich das Libysche Meer unter einem aus. An klaren Tagen kann man die geschwungene Form von Gavdos und in der Ferne die verschwommene Silhouette Kretas erkennen. Es ist ein idealer Ort, um die Geografie all dessen, worüber man gelesen hat, in der Realität zu erleben.

Ein seltsames neues Kapitel: die Russen von Tripiti und der große Holzstuhl

Unter all den Geschichten von alten Seefahrern, Piraten und Verbannten hat Gavdos eine viel jüngere Erzählung zusammengetragen, die sich fast wie eine Romangeschichte liest. Sie spielt an der Südspitze der Insel, am Kap Tripiti, und an jenem riesigen Holzstuhl, der zu einer Art inoffiziellem Symbol von Gavdos geworden ist.

Der Stuhl entstand nicht einfach als skurriles Kunstprojekt. Er wurde von einer kleinen Gruppe russischer Wissenschaftler und Ingenieure gebaut, die sich nach der Katastrophe von Tschernobyl in Gavdos niedergelassen hatten.

Einer von ihnen war ein Kernphysiker, der im sowjetischen Atomsektor gearbeitet und nach der Katastrophe von Tschernobyl Strahlung ausgesetzt gewesen war. Wie viele andere, die diese Zeit miterlebt hatten, litt er unter gesundheitlichen Problemen und dem tiefen Gefühl, sein Leben ändern zu müssen. Um ihn scharte sich ein Kreis von Spezialisten aus Wissenschaft und Technik: Physiker, Ingenieure, ein Chemiker, ein Geologe und sogar ein Psychoanalytiker. Sie alle hatten jahrelang anspruchsvolle, teils geheime Arbeit im Bereich Kernenergie und Hochtechnologie geleistet.

Sie gelangten zu der Überzeugung, dass sie, um zu heilen oder zumindest den Schaden zu verlangsamen, einen Ort mit sauberer Luft und einem ruhigeren Lebensrhythmus finden mussten. Irgendwo fernab von Großstädten und Industriegebieten. Ein Ort, der vielleicht auch eine tiefere symbolische Bedeutung hatte.

Gavdos zog sie an. Die südlichste Spitze Europas. Eine Insel, die eng mit griechischer Philosophie und Mythologie verbunden ist. Keine Schwerindustrie. Klares Licht und frische Winde. Klein genug, dass ein paar entschlossene Menschen sich ein anderes Leben aufbauen konnten, aber nicht so klein, dass sie völlig von der Welt abgeschnitten wären.

Sie nahmen Kontakt zur lokalen Bevölkerung auf und erwarben mit Hilfe des Inselpriesters und der Behörden ein Stück Land. Dort begannen sie zu bauen: einfache Häuser, Werkstätten und Gärten. Sie lebten sehr praktisch und erledigten viele Arbeiten selbst. Sie halfen bei der Reparatur von Straßen und Fahrzeugen, bei der Instandhaltung der Kirchen und tüftelten an Erfindungen und Geräten, die das Leben auf der kleinen Insel erleichtern könnten.

Im Laufe der Zeit entwickelten sie eine Art selbstgemachte Philosophie. Sie stützte sich auf Pythagoras und andere griechische Denker, auf Ideen über Unsterblichkeit und die Wandlung der menschlichen Natur sowie auf ihre eigenen Erfahrungen mit Strahlung und Krankheit. Manchmal nannten sie sich selbst oder wurden von anderen so genannt: die „Unsterblichen von Gavdos“. Es war halb ernst, halb spielerisch. Das Ziel war nicht, im wörtlichen Sinne ewig zu leben, sondern bewusster zu leben und, wenn möglich, die Grenzen eines Körpers zu erweitern, der bereits überlastet war.

Vielen Einheimischen erschienen sie zwar exzentrisch, aber nützlich. Geschickte Menschen mit kräftigen Händen, die Dinge reparierten, Bäume pflanzten und ernsthaft über Zahlen und die Ewigkeit philosophierten. Manchen Fremden wirkten sie geheimnisvoll. Es wurde gemunkelt, sie seien Spione, lebten in geheimen Bunkern unter der Erde oder führten seltsame Experimente durch. Solche Geschichten kursieren auf kleinen Inseln. Ein Körnchen Wahrheit steckt darin. In Cafés und Tavernen wird sie mit viel Fantasie ausgeschmückt.

Was auch immer die Gerüchte sein mögen, eine ganz offensichtliche Schöpfung dieser Gruppe steht fest: Sie bauten den riesigen Holzstuhl am Kap Tripiti.

Sie wählten den südlichsten Punkt der Insel. Ein Ort, der bereits eine symbolische Bedeutung hatte. Hier stellten sie einen Stuhl auf, der weit größer war als jeder normale Sitz. Massive Balken. Schlichte Linien. Nach Süden ausgerichtet. Die Botschaft war eindeutig. Setz dich hierher, und du sitzt am südlichsten Punkt Europas. Du kannst dich fühlen wie ein Kind im Schoß von etwas Größerem. Du kannst hinaus nach Afrika blicken und die Leere dazwischen spüren.

Dieser Stuhl ist mittlerweile auf unzähligen Fotos zu sehen. Besucher wandern extra nach Tripiti, nur um darauf zu sitzen. Manche schreiben ihren Namen darauf. Andere blicken einfach nur aufs Meer und lassen den Gedanken auf sich wirken, dass sie sich an einem realen Rand befinden, nicht an einer Linie auf einer Landkarte. Viele wissen nicht, wer ihn gebaut hat, nur dass er ein attraktives und etwas surreales Wahrzeichen ist. Kennt man jedoch seine Geschichte, verleiht er dem Besuch eine stille, besondere Note.

Man stellt sich Männer vor, die einst in den schweren sowjetischen Anlagen arbeiteten, umgeben von Beton, Kabeln und Reaktoren, und die nun mit Werkzeug in den Händen auf dieser kahlen Landzunge stehen und eine Sitzbank bauen, die von all dem wegweist. Es ist eine Art Antwort auf ihr altes Leben. Ein Stück Holz, das Trauma in klare Sicht verwandelt.

So sind die russischen „Unsterblichen“ nun Teil der Folklore von Gavdos. Neben Geschichten von Sarazenenräubern und Kriegsflüchtlingen können die Inselbewohner auch von den Tschernobyl-Bewohnern erzählen, die kamen, um zu heilen und zu philosophieren, und die einen Stuhl zurückließen, der das Gefühl, am Rande der Welt zu sitzen, perfekt einfängt.

Eine Insel der Kreuzungen

Gavdos ist im Grunde ein Ort der Kreuzungen. Je mehr man darüber erfährt, desto deutlicher erkennt man dieses Muster.

Für Vögel ist es ein Sprungbrett zwischen Afrika und Europa. Für antike Seefahrer markierte es die Grenze zwischen Kreta und dem offenen Meer. Für byzantinische Steuereintreiber war es ein Grenzpunkt. Für Piraten bot es ein nützliches Versteck. Für den griechischen Staat in den 1930er Jahren war es ein fernes Gefängnis. Für im Exil lebende Kommunisten war es eine harte Schule, in der sie Geduld und Solidarität lernten.

Für die russischen Wissenschaftler nach Tschernobyl bildete es eine Brücke zwischen einem zerstörten Industrieleben und einem ruhigeren, beschaulicheren Dasein. Für die freien Camper in Agios Ioannis ist es ein Übergang zwischen dem Alltag und einer flexibleren Lebensweise.

In den letzten Jahren ist die Insel auch auf der Karte der Migrationsrouten gelandet. Als die Kontrollen in anderen Teilen des östlichen Mittelmeers verschärft wurden, steuerten einige Boote aus Nordafrika Kreta und die umliegenden Gewässer an. Gavdos liegt in diesem Seegebiet. Es gab Rettungsaktionen und leider auch Schiffbrüche. Einige wenige Einheimische helfen plötzlich erschöpften Menschen, die alles riskiert haben, um europäischen Boden zu erreichen. Für sie ist der Strand nicht nur ein Ort der Erholung, sondern manchmal auch ein Ort der Ersten Hilfe, der Decken und der Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt.

Die Insel sucht sich diese Rollen nicht aus. Sie kommen mit dem Meer. Doch ihre Lage und ihre Beschaffenheit scheinen diese sich kreuzenden Geschichten immer wieder aufs Neue anzuziehen.

Welchen Zweck hat Gavdos?

Den „Zweck“ eines solchen Ortes zu definieren, mag etwas seltsam anmuten. Eine Insel ist kein Werkzeug. Sie existiert einfach. Dennoch sind Menschen gut darin, dem Land um sie herum Aufgaben zuzuweisen, und Gavdos hat viele davon übernommen.

In der Antike half es Schiffen bei der Navigation und bot ihnen Schutz vor Stürmen. Es lieferte Holz, Weideland und etwas Ackerland. Es diente als Aussichtspunkt und Stützpunkt für den jeweiligen Herrscher Kretas.

Im 20. Jahrhundert wurde es für den Staat zu einem Ort, an dem er seine inneren Feinde verstecken konnte. Seine Isolation entwickelte sich zu einer politischen Ressource.

Für die russischen „Unsterblichen“ sollte es ein Zufluchtsort sein. Ein lebendiges Labor für eine andere Art von Leben.

Heute ist es vieles zugleich. Zuhause, vor allem für die Menschen, die dort das ganze Jahr über leben. Sie wachen nicht jeden Morgen auf und denken: „Ich lebe am Rande Europas.“ Sie denken an Wassertanks, Ziegen, Fährpläne, Schulunterricht und Reparaturen. Ihr Lebenssinn ist eng mit Familie, Land und den alltäglichen Aufgaben verbunden.

Für Besucher wirkt Gavdos oft wie ein Ventil. Es ist ein Ort, an dem man zur Ruhe kommt. Um eine Weile im Zelt zu leben. Um die Sterne ohne Lichtverschmutzung zu beobachten. Um zu schwimmen, ohne von einer Reihe Sonnenschirme gestört zu werden. Um ein Buch zu lesen, während man dem Zirpen der Zikaden lauscht, statt dem Verkehrslärm.

Für Europa insgesamt ist Gavdos ebenso sehr Symbol wie Ort. Es markiert eine Grenze. Es ist ein Test dafür, wie ernst wir abgelegene Gemeinschaften nehmen. Es ist einer der Orte, an denen übergreifende Themen wie Migration und Umweltschutz sehr konkret werden.

Vielleicht besteht der Zweck der Insel einfach darin, all diese Geschichten zusammenzuhalten und jeden Besucher daran zu erinnern, dass Grenzen selten einfach sind.

Warum es sich lohnt, Gavdos kennenzulernen

Es gibt weitaus leichter erreichbare Inseln. Es gibt Orte mit berühmteren Ruinen oder luxuriöseren Hotels. Warum also so viel Aufmerksamkeit einem kleinen Felsen mit winziger Bevölkerung und einer Fähre schenken, die manchmal nicht fährt, wenn sie sollte?

Ein Grund dafür ist die schiere Tiefe seiner Vergangenheit. Auf Gavdos kann man Spuren fast jedes wichtigen Kapitels der Mittelmeergeschichte berühren. Besucher aus der Steinzeit. Minoische Händler. Römische Beamte. Byzantinische Priester. Arabische Plünderer. Venezianische Kanoniere. Osmanische Beamte. Moderne Exilanten und Migranten. Russische Wissenschaftler, die unsichtbare Strahlungsnarben in ihren Körpern trugen und hierher kamen, um eine andere Zukunft zu gestalten. Nur wenige Orte vereinen eine solche Vielfalt auf so kleinem Raum.

Ein weiterer Grund ist das Nebeneinander von Mythos und Realität. Man kann Homer am Strand von Sarakiniko lesen und sich Odysseus an einem solchen Ufer vorstellen, hin- und hergerissen zwischen Bleiben und Weitergehen. Man kann in Tripiti stehen, in diesen absurd großen Stuhl steigen und wissen, dass das, was wie ein lustiges Fotomotiv aussieht, auch das Ergebnis einer sehr realen menschlichen Geschichte ist, die von Tschernobyl, Krankheit, Philosophie und Hoffnung handelt.

Gavdos zeigt auch, wie eine Gemeinschaft aussieht, die schrumpft, aber nicht verschwindet. Statt zu einer Geisterinsel zu werden, hat sie sich am Leben gehalten, unterstützt von eigensinnigen Einheimischen und Menschen, die von anderswo kamen und beschlossen zu bleiben. Das hat etwas still Inspirierendes.

Und ganz einfach betrachtet erinnert einen die Insel daran, dass die Welt größer ist als die eigenen Sorgen. Der Himmel wirkt dort weiter. Die Sterne leuchten heller. Stürme haben mehr Charakter. Wenn die Fähre nicht ablegen kann und man in einer Taverne auf Neuigkeiten wartet, merkt man, dass man nicht alles kontrollieren kann und dass das völlig in Ordnung ist.

Ein Spaziergang durch die Zeit auf Gavdos

Stellen Sie sich vor, Sie haben ein paar Tage Zeit und möchten den gesamten Bogen Gavdos‘, von der Mythologie bis zum Atomzeitalter, unter Ihren Füßen spüren.

Man beginnt in Kastri mit einem Kaffee in einem kleinen Café. Das Bürgermeisteramt liegt gleich den Hang hinauf. Die Schule ist nicht weit. Man unterhält sich mit demjenigen am Nachbartisch und erfährt einiges über das Leben im Winter. Die Stürme. Die Stromausfälle von früher. Die Kinder, die zum Studieren weggingen und manchmal zurückkamen. Das Gefühl, gleichzeitig stolz, frustriert und verbunden zu sein.

An einem anderen Tag wanderst du Richtung Katalymata. Die Ruinen wirken auf den ersten Blick unscheinbar. Niedrige Mauern. Verstreute Steine. Doch wer sich ein wenig damit befasst hat, kann sich die fehlenden Informationen vorstellen. Ein Gebäudekomplex aus minoischer Zeit. Vorratskrüge. Werkzeuge. Menschen, die in Sandalen dieselben Hügelkämme entlanggingen und über Wetter, Ernte und Seereisen nachdachten. Der Wind, der deinen Hut im Wind flattern lässt, mag derselbe sein, der einst ihre Segel füllte.

Von dort aus gleitet man hinunter nach Sarakiniko und schwimmt. Während man im Wasser treibt, schweifen die Gedanken zu sarazenischen Plünderern und venezianischen Konvois. Die Bucht wirkt jetzt friedlich. Das war nicht immer so.

An einem anderen Tag fährst du zum Leuchtturm. Drinnen betrachtest du die alten Fotos von Leuchtturmwärtern und ihren Familien und genießt dann die Aussicht. Du stellst dir die Piloten aus Kriegszeiten vor, die in ihren engen Cockpits schwitzten und auf dasselbe Licht und denselben Meeresabschnitt hinunterblickten.

Später folgst du dem staubigen Weg nach Agios Ioannis und weiter zu den wilderen Stränden. Du kommst an Campern vorbei, Gitarren auf den Knien, Töpfe auf kleinen Kochern köcheln. Du denkst darüber nach, wie schwer und erzwungen sich das Exil der 1930er-Jahre anfühlte und wie diese neue Art des freiwilligen Exils leichter ist, aber dennoch ein Element der Flucht in sich birgt. Die Menschen kommen hierher, um für eine Weile ihrem Leben zu entfliehen, genau wie einst politische Gefangene, denen man das Leben nahm und die ohne jede Wahlmöglichkeit hierher geschickt wurden.

Schließlich erreichst du Tripiti. Der Pfad führt über dem Meer entlang. Das Rauschen der Wellen begleitet dich. Als du die Südspitze erreichst und die drei vom Meer geformten Bögen siehst, spürst du, dass du an einem Ort angekommen bist, der mehr sich selbst gehört als jeder menschlichen Geschichte. Dann blickst du auf und siehst den großen Holzstuhl.

Du kletterst hinauf und setzt dich. Deine Füße baumeln. Das Meer erstreckt sich vor dir, leer und schimmernd. Afrika ist unsichtbar, aber in deinen Gedanken präsent. Du erinnerst dich, dass eine Gruppe russischer Wissenschaftler, die die Erinnerung an Tschernobyl in sich trugen, hierherkamen und beschlossen, genau dies zu bauen. Einen riesigen Sitz am südlichsten Punkt Europas. Einen Ort, an dem jeder kommen, sitzen und sich winzig und doch verbunden fühlen kann.

Es ist ein so einfacher Gegenstand. Holz. Nägel. Ein wenig Arbeit. Und doch verknüpft er so viele Fäden. Uralte Träume von Kalypso’s Insel. Sehr moderne Ängste vor einer nuklearen Katastrophe. Die Suche nach Heilung. Der Drang, den Rand einer Landkarte mit etwas Greifbarem zu markieren.

Wenn man schließlich hinabsteigt, zum Pfad zurückgeht und sich auf den Heimweg macht, trägt man diese Mischung mit sich. Gavdos ist nicht mehr nur ein Punkt auf einer Landkarte, sondern eine lebendige Geschichte, die von Steinwerkzeugen bis zum radioaktiven Niederschlag, von Piraten bis zu Philosophen in Latzhosen, von verbannten Kommunisten bis zu barfüßigen Campern reicht.

Deshalb lohnt es sich, diese kleine Insel kennenzulernen. Sie zeigt auf sehr kompakte und menschliche Weise, wie Geschichte, Geografie und persönliche Entscheidungen ineinandergreifen. Und sie beweist, dass die interessantesten Orte manchmal nicht im Zentrum der Landkarte liegen, sondern ganz am Rand, wo das Land endet und das Meer beginnt.

Ein Kommentar

  1. ich muss abbitte tun bei ray berry ,trotz seines recht verzerrten bildes von georgopoulis und mires .alle folgenden artikel sind sehr pregnant ,lehrreich und mit viel empathie geschrieben und geben ein wirklichkeitsgetreues bild des jeweiligen themas wieder
    congratulations
    with regards ,
    wolfgang

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