Der Spiegel – Zauber der Primitivität

Zauber der Primitivität
Global Village: Wie die Alt-Hippies von Matala den Griechen neuen Mut geben wollen. Der Spiegel, Manfred Ertel.

Einfach nur den ganzen Tag rumgehangen? In den Höhlen gelegen
und gekifft? Über das unendliche Blau der Bucht von Matala das Hier und Heute vergessen?

Nein, da sei mehr gewesen, damals in dieser berühmten Hippie-Kolonie auf Kreta, sagt jemand, der dabei war. Und der sich, wie Hunderte anderer hierher Zurückgekehrter, heute gern daran erinnert: Fritz Will, 74, ein Aussteiger aus dem Westfälischen. Damals sei auch Politik gemacht worden: Interessiert beäugt von ein paar einheimischen Fischern und Olivenbauern, sei es um den weltweiten Kampf gegen den Vietnam-Krieg gegangen. Genau dafür hätten die Hippies gesorgt, die sich hier in den prä-historischen Felsenhöhlen von Matala eingenistet hatten.

„Wir haben nicht einfach nur so rumgelegen am Strand“, sagt Will, „wir wollten die Welt verändern, Vietnam war ein Teil davon.“ Wehrdienstverweigerer aus aller Welt hatte es bald hergezogen. Selbst ein Star wie Joni Mitchell habe hier gelebt. Ach, die Tage von Matala: „Wir hatten einen Traum“, sagt Alt-Hippie Will. Nun steht er wieder in der Bucht, mit seinem grauen Haar und dem weißen, zotteligen Rauschebart, wie einer anderen Zeit entsprungen. Um ihn herum feiern an diesen Pfingsttagen Tausende die Wiederauferstehung von Matala.

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„Today is life, tomorrow never comes“, der alte Hippie-Spruch steht
frisch getüncht an der Hafenmauer; jetzt ist jetzt, ein Morgen gibt es nicht – vor dem Hintergrund der Finanzkrise, die ein ganzes Land, womöglich einen ganzen Kontinent an den Abgrund treibt, klingt der Spruch zynisch und passt so gar nicht zur nostalgiegetränkten Sanftmut der alt gewordenen Rückkehrer.

Denn von überall her sind sie gekommen, die Hippies von damals. Noch einmal wollen sie jung sein, zumindest im Kopf, und zwar an ihrem „Ort der Sehnsucht“. Sie sind dem Ruf des Bremer Autors Arn Strohmeyer gefolgt, der ein paar seiner alten Bekannten angemailt und zu einem Matala-Ehemaligentreffen aufgefordert hatte. Den Rest erledigten Facebook und Twitter. „Ein bisschen wie Kirmes“, findet Will das Treiben nun, aber es erfüllt seinen Zweck: „Wir wollen uns ja erinnern.“ Der gelernte Zimmermann war in den sechziger Jahren einer der ersten deutschen Bewohner der abgelegenen Bucht, wo der Sage nach der in einen Stier verwandelte Zeus die schöne Europa an Land trug. Damals entwickelte sich der Flecken auf halbem Weg zwischen San Francisco und Goa gerade zu einer Europazentrale für Sinnsucher und Aussteiger aus aller Welt. Und Will ist einer der letzten Bewohner von damals. Noch heute wohnt der Maler, Autor und Hobbygeologe mit seiner Familie ganz in der Nähe.

Erinnern will sich auch Shirley ReadJahn, 66. Sie ist extra aus San Francisco angereist, ebenso wie Pam, 68, ihre Schwester, die aus Sydney eingeflogen ist. „Ich fühle mich, als wäre ich nach Hause gekommen“, sagt Shirley, die zum ersten Mal nach 44 Jahren wieder in Matala ist. Damals, 1967, habe sie gemeinsam mit Pam den „Zauber der Primitivität“ gesucht. Von dem habe sie sich gefangen nehmen lassen und sei für ein paar Wochen geblieben. Pam kam dann noch zwei weitere Sommer: „Die Amerikaner flogen gerade zum Mond, wir wollten so etwas wie das Gegenteil des Fortschritts sein. Es war toll.“ Sie suchten nach eigener Identität, neuen Werten und anderen Formen des Zusammenlebens. Sie fanden Gleichgesinnte in den primitiven Felslöchern, sie entdeckten Retsina und Sirtaki und die Gastfreundschaft der Bauern, die sie mit Brot und Bohnensuppe durchfütterten.

Doch viele Klischees von heute über die Zeit von gestern sollen nie gestimmt haben: von wegen freie Liebe, Drogen und Verwahrlosung. „Alles Quatsch“, sagt Shirley. Feste Paare seien in Matala die Regel gewesen, wenngleich, nun ja, vielleicht nur wochenweise fest. Sie erzählt von alten Freunden, von dem hohen Richter aus Bonn, dem Philosophen aus Lausanne oder dem Maler aus Kanada, mit dem sie auch mal zusammen war und der inzwischen Galerien in New York betreibt. Alle hätten später was erreicht. „Es war die beste Zeit meines Lebens“, schwärmt Pam. Und dann kraxeln die beiden alt gewordenen Schwestern gemeinsam mit Freundinnen von damals noch einmal die Felsen hoch zu ihren einstigen Schlafstätten: zur wohl luxuriösesten Höhle mit drei Kammern knapp über dem Meeresspiegel, die sie „Hilton“ genannt hatten, oder zur größten, mit sechs Schlafplätzen eine Etage höher, „Globe City“. Dann stürzen sie sich mit Blume im Haar zurück ins Festgetümmel am Strand.

Maria Petrakagiorgi, Bürgermeisterin von Matala und mit 44 Jahren eine Generation jünger als ihre Besucher, hofft, dass das Hippie-Revival dazu beiträgt, „einen Teil der Depression zu vertreiben“, die sich über das krisengeschüttelte Griechenland gelegt hat. „Lebt jetzt, besser wird’s nicht werden“, fordert sie ihre Gäste auf. Petrakagiorgi gehört der Regierungspartei Pasok an, offenbar weiß sie, wovon sie spricht.

Fritz Will hofft darauf, dass die alte Hippie-Tugend der Anspruchslosigkeit noch einmal neu erblüht. „Alle verlangen von den Griechen doch, dass sie wieder eine Stufe runterschalten und ihre Bedürfnisse zurückschrauben“, sagt er, „vielleicht kann ja ganz Europa etwas von uns lernen.“

Er hat einen Traum, immer noch. Von Manfred Ertel, Der Spiegel.

Manfred Ertel aus Athen zur Griechenland-Krise:

In der Trutzburg des Selbstmitleids