Winterzeit – Lesezeit
Und endlich kommt die Radio-Kreta-Literaturredaktion wieder dazu, wundervolle Bücher zu durchschmökern und die Besten davon als Buchtipps an Euch weiterzugeben. Mit das Schönste daran ist, wieviel man einfach so beim Lesen auch lernt, wieviel man von Kultur und Mentalität vermittelt und einen Einblick bekommt, mit welchen Schwierigkeiten auch die „Gastgeber“ zu kämpfen haben.
Ein solch wundervolles Buch ist „Milch in Papier“ vom „Kofferkind“ Stefano Polis, der in diesem Werk seine Kindheit – zerrissen zwischen Griechenland und Deutschland – auf sehr einfühlsame und berührende Art und Weise beschreibt.
„Milch in Papier“ ist kein fröhliches oder gar lustiges Buch – dennoch weit davon entfernt, depressiv zu sein.
Es beschreibt eindrucksvoll die Gedanken, Gefühle und die Zerrissenheit eines Gastarbeiterkindes im Deutschland der 1970-er Jahre – und all das gibt und gab einfach wenig Grund zu Frohsinn und Lustigkeit.
Stefano setzt sich auch „gnadenlos“ mit seinen griechischen Landsleuten auseinander und diesen Abschnitt von „Milch in Papier“ wollen wir gerne mit Euch teilen, denn das ist einer derer, die einem schon mal zumindest ein Schmunzeln entlocken.
Vorab ein Auszug aus dem Buchrückentext, dann geht´s an´s Eingemachte, soll heissen, um Lebensart und Charakteristika der Griechen – beschrieben von einem ebensolchen!
Viel Spaß bei der Leseprobe!:
Wenn Eltern zu „Gastarbeitern“ wurden, ließen sie ihre Kinder oft in der Heimat zurück. Über die Folgen haben sie nicht nachgedacht, auch war ihre wirtschaftliche Situation häufig so desaströs, dass sie sich über alle möglichen Rücksichten hinweg für die Arbeitsmigration entschieden. Dass das Leid ihrer Kinder sich später einmal zurückmelden könnte, haben viele nicht erwartet.
Hier kommt nun ein solches Kind zu Wort, Jahre später: Als Erwachsener erinnert sich Stefano Polis an die harte und verwirrende Lebenssituation, ein zwischen den Ländern wanderndes Gastarbeiterkind zu sein. Er erzählt von den aufreibenden Gefühlen, die mit Trennung und Aschiedsschmerz einhergehen, und vom langen Weg der Integration in seine neue Heimat.
„Überhaupt ist die treibende Kraft vieler Griechen ihre Neugier und ihr unerschöpflicher Drang, sie zu stillen. Es geht dabei nicht um die Effizienz möglicher Lösungen, sondern um Provisorien, die unermüdlich neu erfunden werden.
Alles hier ist provisorisch.
Wenn wir ein Haus bauen, fangen wir zuerst an zu mauern und erteilen erst später dem Architekten den Auftrag, einen Bauplan zu fertigen. Das Dach am Haus haben wir noch nicht erfunden und falls wir es erfinden werden, errichten wir es, so Gott will, in einer späteren Epoche.
Wir richten uns dann provisorisch ein und behalten uns vor, es zu einer anderen Gelegenheit besser zu machen, wenn Gott will. Zeit spielt im täglichen Leben so gut wie keine nennenswerte Rolle.
Es liegt alles in Gottes Hand.
Wenn wir ein Problem mit dem Nachbarn haben, so informieren wir mit Ausnahme desselben jeden im Dorf von unserem Anliegen. Als wenn wir es anderen überlassen wollten, eine Schlichtung herbeizuführen. Wir sind geduldig und warmherzig, solange niemand unseren Stolz antastet. Für den Fall, dass es dennoch jemand bewusst oder unbewusst tut, ist Krieg angesagt.
Ohne eine Entschuldigung zu akzeptieren – was gänzlich einem Wunder gleichen würde, denn ich kann mich nicht erinnern, dass je eine Entschuldigung seit der Gründung unseres Ortes ausgesprochen wurde – werden unerbittlich Fehden über Jahre aufrechterhalten.
Vererbt werden sie mit großer Sorgfalt vom Vater auf den Sohn und von der Mutter auf die Tochter. Wenn die Brut zweier in Fehde lebender Familien emotional zueinander findet, wird sich zu guter Letzt gegenseitig Hexerei vorgeworfen. Nach endlosen und ohne Erfolg geführten Trennungsverhandlungen in den jeweiligen Familien wird unauffällig dem Wunsch des Nachwuchses, zusammenzukommen, stattgegeben und über diverse Vermittler das einvernehmliche Hochzeitsprozedere vereinbart. Nach einer Zeit voller Ambivalenzen landet man letztlich in der Kirche und wünscht dem Nachwuchs alles nur Erdenkliche, so Gott will.
Gravierende Konstruktionsfehler begleiten uns ein Leben lang.
Wir kultivieren sie unaufhörlich und entwickeln sie weiter. An eigenen Fehltritten stören wir uns nicht, aber wehe, jemand anders hat sie begangen. Unsere vage erdachten Vermutungen sind zweifelsfrei richtig und Bescheidenheit ist uns ein Fremdwort. Unseren ruhmreichen Vorfahren sei Dank ruhen wir uns behaglich auf ihren Lorbeeren aus.
Alles in allem leben wir in einem hochmütigen Land mit schönem Wetter und sind infolgedessen hochmütige Menschen, die voreilig hochmütige Schlüsse ziehen, während wir schmackhafte Speisen zu uns nehmen und uns hochmütig subversiven politischen Debatten hingeben.
Eine hochexplosive Mischung und dennoch beneiden uns viele Nichtgriechen, was mich sehr oft auf Unverständnis stoßen lässt. Habe ich mich etwa so sehr verändert? Ich meine, habe ich mich meinem Gastland so sehr angepasst, dass ich die Stimme meines Geburtslandes nicht mehr verstehen kann?
Ich höre die Äußerungen unserer deutschen Nachbarn, die voller Unverständnis waren über unseren Auszug aus Griechenland: „Ihr seid doch verrückt, dass Ihr so ein schönes Land verlassen habt.“
Die Klischees kannten kaum Grenzen. Vom ewigen Licht war die Rede, sanften Meereswellen und langen Mittagspausen. Von arbeiten, um zu leben und nicht von leben, um zu arbeiten. Die beginnenden Siebzigerjahre standen Pate für die Sehnsucht der Menschen in Deutschland, sich einer scheinbar perfekten Idylle hinzugeben. Ähnliche Gedanken kannten wir Gastarbeiter jedoch auch. Letztlich waren diese Gedanken der Grund für unsere Niederlassung in Deutschland. Darum möchte ich noch einmal dorthin zurück und weitere Bilder aus dieser unvergesslichen Zeit betrachten.“
Für mehr Informationen über dieses wirklich ganz wundervolle Buch eines Deutsch-Griechen, der „nirgendwo anders leben (will), als in diesem wundervollen Land (Anm.d.Red: Deutschland!)“ bekommt Ihr hier.
Radio Kreta – immer gute (Buch-)Tipps!