Seit nun fast fünf Jahren lebt Herr Dr. Aurer auf Kreta. Der ehemalige Kunstlehrer des Otto-Hahn-Gymnasiums hat die erste Zeit seines Ruhestandes genutzt und ein Buch geschrieben: „Lernen ist intensives Leben“. Darüber sprachen wir gestern bei 23° und Sonnenschein auf unserer Terrasse. Anbei Frappè. Das ist ja auch wichtig.
Rezension: Von Hartmut Wagner
Es gibt Bücher, die lese ich kreativ. Ich lasse mich vom Vorwort, von einer zufällig aufgeschlagenen Seite, von einer Kapitelüberschrift anziehen. Und dann passiert es zuweilen: eine aufkommende Neugier, ein starker Gedanke, ein Sog ziehen mich ins Buch hinein, ich vergesse die Zeit und lese, lese, lese. So ging es mir bei der ersten Begegnung mit Hans Raimund Aurers Buch. Da sprangen mich Sätze und Reflexionen an, die meiner eigenen Erfahrung mit dem Moloch Systemschule – als Schüler und Lehrer – genau entsprachen.
Der promovierte Autor, der bis 2009 an Gymnasien Kunst, Arbeitslehre und Philosophie unterrichtete und in der Lehrerfortbildung an Universitäten tätig war, lebt jetzt als freier Künstler und Autor in Korakiana auf Kreta. In zwei griechischen Wintern schaute er zurück und analysierte schonungslos sein Erleben in und mit der Systemschule, mit Hartmut von Hentig als geistigem Verarbeitungs-Mentor und Lichtblick im Hintergrund. Um dann nüchtern, aber engagiert in die Zukunft zu blicken und Visionen für eine andere Schule und Bildung zu entwickeln. Bildung, so Aurer, sollte Menschen dazu befähigen, Realitäten auf Alternativen hin zu befragen und die erkannten Alternativen sinnvoll, kraftvoll und gemeinsam gestalten zu können.
Aurer entwirft dafür den Bildungsansatz einer integrativen Pädagogik, die er Sympoiese nennt. Seiner Kritik am bildungsfernen Lernen lässt Aurer einen umfangreichen Teil mit Vorschlägen folgen, wie bildendes Lernen aussehen könnte.
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„Alles braucht Zeit. Alles hat Zeit“ – mehr als 800 Tage unter kretischem Himmel.
28. Oktober 2011 | Autor: Hans Aurer
Liebe Schülerinnen und Schüler, Kolleginnen und Kollegen,
nach fast zweieinhalb Jahren, die seit unserer Verabschiedung vergangen sind,
melden wir uns auf diesem Weg bei Euch zurück. Sicher werdet Ihr Euch hin und wieder gefragt haben, wie es den beiden „Kretern“ wohl geht. Wie sie „dort unten“, im östlichen Mittelmeer, zwischen Afrika und dem europäischen Kontinent ihre Zeit verbringen.
Wie wir in unserem Abschiedsschreiben im EUFORUM berichtet haben, waren wir schon seit Längerem mit der Rundumsanierung eines vom Verfall bedrohten venezianischen Bauernhauses befasst. Das über einhundert Jahre alte, ehrwürdige Gebäude ist inzwischen zu unserer dritten Haut geworden, in der wir uns sehr wohl fühlen. Umgeben von Oliven-, Orangen-, Mandarinen- und Zitronenbäumen, gehört es zu einem Ensemble von fünf weiteren Gebäuden, die nur zum Teil noch bewohnbar sind. In diesem etwa 600 m hoch gelegenen Bergdörfchen leben wir beiden so gut wie alleine für uns, weit ab von der Geschäftigkeit und Normalität unseres früheren Alltags.
Vom Balkon unseres Hauses blicken wir über ein weites Hochtal, hinter dem sich die höchsten Berge der Insel erheben, die im Winter mit Schnee bedeckt sind. Die Hochlage unseres Dörfchens, das den Namen Korakiana trägt, was so viel wie Rabennest bedeutet, mildert die mediterrane Sommerhitze, deretwegen sich Hunderttausende an den Stränden der Insel tummeln.
Auf Kreta zu leben, ruft bei vielen die Vorstellung vom weißen Haus mit blauen Fenstern, Meerblick und Palmenstrand hervor. Aber das war nicht unser Traum. Was wir suchten und gefunden haben, waren immergrüne Natur, Stille, Weite und Abgeschiedenheit.
Während wir Euch schreiben, hören wir im Hintergrund ein Flötenstück von Claude Debussy, ausgestrahlt vom Dritten Programm des griechischen Rundfunks. Dieser Sender bringt am Tag ausschließlich klassische Musik, abends Texte und Gedichte griechischer Autoren, alles mit langsam und deutlich gesprochenem Vor- und Nachspann, ohne Zeitansagen, Nachrichten oder atemloser Werbung. Abends werden uralte kretische Lieder gesendet, zu denen hier auf Tauffesten, Hochzeiten und Kirchenfesten getanzt wird. Und spät am Abend gibt es Jazz und klassischen Rock, der uns unsere Jugendzeit lebendig werden lässt. Sonst sind nur die Vögel und der Wind in den dichten Blätterkronen der Olivenbäume zu hören. Der unsere weite Berglandschaft überwölbende Himmel ist zumeist blau und wolkenlos.
Seit wir die Arbeiten am Haus hinter uns gebracht haben, bin ich mit einem Buchprojekt befasst, mit dem ich meine Tätigkeit als Pädagoge an verschiedenen Gymnasien und Universitäten auch innerlich abschließe. Thema: „Lernen ist intensives Leben. Umrisse einer Bildung, die von den Menschen ausgeht“. Beim Schreiben bin ich immer wieder sehr auch mit meiner OHG-Zeit verbunden und befasst, mit den unterschiedlichsten Erfahrungen meines schulischen Alltags. Und wir beide stellen immer wieder fest, dass sehr Vieles hätte anders und schöner, menschlicher und, was das Lehren und Lernen angeht, intensiver und befriedigender sein können …, ja, wenn die Politik der Schule, den Lehrern und Schülern den Raum ließe, den sie brauchten, um effektiver zusammenarbeiten zu können. Wie Ihr an diesen wenigen Worten seht, bin ich innerlich immer noch in „meinem K 3“, meiner Kunstinsel, inmitten des tosenden OHG-Betriebs, den Ines und ich nicht vermissen. Nur die Menschen, Schülerinnen und Schüler, Kolleginnen und Kollegen, mit denen uns gemeinsame Erfahrungen gelingenden Zusammenarbeitens verbinden, die vermissen wir schon.
Wir haben nicht das Gefühl, eine Art Dauerurlaub zu machen. Ganz und gar nicht. Ines hat einen Garten angelegt, von dessen Früchten wir uns das ganze Jahr über zu einem großen Teil ernähren: alles „bio“! Je nach Saison arbeiten wir auf den Feldern bei befreundeten Bauern, helfen bei der Weinernte und feiern mit den Menschen ihre Feste. Dadurch wurden wir mehr und mehr in die Gemeinde von Vlatos, zu der unser Korakiana gehört, aufgenommen.
Wir, die Xeni, die Fremden aus Deutschland, mussten uns hier niemals fremd fühlen. Und das liegt an den Menschen hier, von denen viele ältere sich noch sehr gut an die Gräueltaten der deutschen Wehrmacht erinnern … Taten, für die es bis heute von offizieller deutscher Seite weder eine Bitte um Vergebung, noch irgendeine Art der Wiedergutmachung gegeben hat – außer einem lebendigen Zeichen, dem „Park des Friedens“ ganz in unserer Nähe.
Hier hat alles Zeit, lassen wir allem die Zeit, die es braucht, besonders uns selbst und allem, was wir tun. Dies zu lernen, war für uns die wichtigste Lektion der kretischen Kultur: Zeit zu haben, Zeit zu sein, und dazu ein Geborgenheit schenkendes Haus und einen Frucht tragenden Garten – mehr haben, mehr brauchen wir nicht. Nein, etwas brauchen wir doch noch dazu: Bücher, Kunst und gute Gespräche mit lebendigen Menschen. Und auch das haben wir, so viel und so oft wir es brauchen … Ach ja, auch die kretische Musik und den kretischen Tanz, den wir gerade erlernen.
Soviel für heute.
Ein herzliches „Jia-sas!“ oder „Gesundheit Euch!“ senden Euch
Eure „Kreter“
Ines Henning und Dr. Hans Raimund Aurer
Hallo Hans,
ich habe einfach dein Name „gegoogelt“ und ein schönes Foto von dir hier gefunden. Du bist völlig erkennbar – genau das gleiche Aussehen wie damals 🙂 bloss vielleicht jetzt ein bisschen mehr griechisch! Toll zu erfahren, dass es dir in der „Ruhestand“ so wundervoll geht – du hast es verdient 🙂 Viele Grüsse aus Dänemark von Marianne Moltved 😉
Ic
Poli orea – dieser Bericht macht froh und nachdenklich.
Grüße von der Heidelbergerin
Perfekte Beschreibung !
Ich kann ihn nur zu gut verstehen…
Er spricht mir aus der Seele…