Die Flüchtlingskrise ist ja immer noch und immer wieder in aller Munde – aber der Mensch an sich stumpft halt ab und alle täglichen Meldungen werden irgendwann halt irgendwie „normal“. Leider!
Nicht „normal“ ist allerdings dieser Brief – ein Hilferuf – einer engagierten Lehrerin von der Insel Lesbos, der in englischer Sprache in der Chaniapost erschienen ist. Die Übersetzung ist von mir selbst – der Inhalt von Aphrodite Vati Mariola. Aber lest selbst:
Nun da ein Charterflug nach dem anderen zu unserer wunderschönen Insel Lesbos für die Sommersaison 2016 storniert wird, bewahrheiten sich traurigerweise unsere anfänglichen Ängste – und sie geraten langsam aber sicher ausser Kontrolle. Wir sprechen nicht mehr nur von einem einfachen saisonalen Rückgang der Touristenzahlen. Wir schauen auf einen Buchungseinbruch von über 80% – ähnliche Zahlen hätten wir nur vorzuweisen, wenn wir uns aktuell in einem Kriegszustand befänden.
Bis jetzt hat sich die Welt darauf fokussiert, wie mit der Flüchtlingskrise umzugehen ist, wie man die Menschenrechte der Leute, die aus ihren Heimatländern fliehen, wahren soll – doch dabei hat man leider vergessen sich auch zu fragen, wie die lokalen Gesellschaften, die diese Flüchtlinge aufnehmen und diese neue Realität nun hautnah (mit-)erleben, davon betroffen sind – mal ganz von den Rechten dieser Menschen abgesehen…
Wir (die Menschen von Lesbos, Anm.d.Red.) haben aus ganzem Herzen unsere Unterstützung angeboten, wir haben den Mitmenschen, die mehr Hilfe brauchten als wir, absolute Priorität eingeräumt. Wir alle haben unser eigenes Leben, unsere Bedürfnisse, unsere Wünsche und Träume hintenan gestellt, um einfach nur den Flüchtlingsstrom in den Griff zu bekommen, der – im Falle meiner eigenen Familie sprichwörtlich – durch unsere Hinterhöfe und Gärten marschierte.
Aber nun kommen wir einfach zu dem Punkt, an dem auch wir fragen müssen, wie unsere Regierung und die internationale Gemeinschaft uns unterstützen wird. Welche Maßnahmen werden sie ergreifen, um uns ebenfalls vor unserer finanziellen und psychologischen Verzweiflung zu retten?
Wir denken an unsere lokalen Geschäfte, die dieses Jahr nicht öffnen werden, weil sie es sich einfach unter diesen Umständen nicht leisten können. Wir denken an all die Menschen, die dieses Jahr keine Anstellung bekommen werden, weil es einfach keine bezahlte Arbeit hier gibt!
Wie sollen all diese Menschen Essen auf den Tisch bringen und ihren Familien und Kindern Sicherheit und Gesundheit garantieren?
Wie können wir selbst unsere Lebensqualität mit Anstand aufrechterhalten?
Wir denken auch an unsere Freunde und die Familie, die bereits ihre Abwanderungsszenarien umsetzen. Wir denken auch darüber nach, wie wir unsere Kredite an die Regierung zurückzahlen sollen – ganz von unseren Steuern, der Krankenversicherung und unseren Stromrechnungen abgesehen.
Die Leute hören, dass die Geschäfte „Dank“ der Flüchtlingskrise auf unserer Insel boomen – aber diese Aussage könnte nicht falscher sein! Ja, natürlich – da gibt es eine Handvoll Unternehmen, die von den Flüchtlingen sehr gut profitieren – aber das sind halt nur eine Handvoll. Man muss sich die ganze Insel anschauen und bedenken, wie viele Geschäfte, Hotels, Restaurants, Souvenir Shops, Kinos, Schmuckläden etc. überhaupt noch nicht wieder geöffnet haben!
„Volontourismus“ alleine kann all diese Geschäfte und Familien nicht aufrechterhalten, denn man muss bedenken, dass die meisten Geschäfte und Unternehmen hier auf Lesbos Familienbetriebe sind. Es gibt weltweit Artikel, die über das „humanitäre Herz“ der Lesbioten reden und schreiben – und wir wurden sogar bereits für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen!!!!
Wir danken allen Menschen dafür, aber jetzt mal ehrlich – in meinen Augen bedeuten alle Friedensnobelpreise der Welt überhaupt nichts und sind sinnlos, wenn die Menschen um mich herum keine Arbeit, keine finanzielle Sicherheit und kein Vertrauen in ihre eigene Zukunft haben – und mich mit weinenden Augen anschauen, kurz vor´m Ertrinken in ihren Ängsten und ihrer Verzweiflung, weil sie wissen, dass sie ihre Familien nicht mehr lange ernähren können werden.
Es ist einfach sinnlos, wenn wir uns unsererseits gezwungen sehen, Wirtschaftsflüchtlinge zu werden und unser eigenes Land zu verlassen. Ich wünschte, ich wäre überzogen dramatisch – aber das bin ich nicht.
Da unsere Geschäftspartner und Reiseanbieter nur an ihre finanziellen „bottom lines“ denken und sich einfach von uns abwenden, anstatt kreative Lösungen zu unserer Unterstützung zu finden und uns durch Werbung und Promotion zu helfen – genauso übrigens, wie unsere – Griechenlands – EU-Partner uns die kalte Schulter zeigen indem sie ihre Grenzen schließen und tausende von ziellosen Flüchtlingen in Griechenland „gefangenhalten“ – fragen wir uns und Euch: „wie lange werdet Ihr es noch durchhalten, die Augen zu verschließen und mit anklagenden Zeigefingern auf Griechenland zu deuten?“
Meine Familie stand von Anfang an in erster Reihe in Sachen Flüchtlingskrise: seit April 2015 haben wir alles dafür getan, die Rechte und eine sichere Überfahrt/Ankunft jedes Menschen zu sichern, der unsere Strände erreicht hat.
Aber – ich bin auch eine Mutter – und Lehrerin.
Was für eine Mutter wäre ich wohl, wenn ich nicht auch die Zukunft und die Rechte meiner Kinder mit in Betracht ziehen würde? Was für eine lausige Lehrerin wäre ich, wenn ich nicht für die Zukunft und die Rechte meiner Schüler kämpfen würde? Ich weiß gar nicht mehr, was ich noch fühlen soll – Scham, Wut, Schmerz, Zerstörung, Enttäuschung, Angst….?
Dann wiederum schaue ich aus meinem Fenster und sehe Licht und Schatten, die blühenden Mandelbäume in meinem Garten und ich fokussiere mich auf meine Kinder, die kichernd im Hintergrund spielen. Und ich denke an all die unglaublichen Menschen, die ich auf dieser „Reise“ kennengelernt und getroffen habe, die uns und unsere Insel unterstützt haben.
Ich denke an all die Freunde, die ich auf diesem Weg gefunden habe. Alle diese Gedanken, Geräusche und Bilder geben mir die Kraft, die Hoffnung nicht aufzugeben – zur Ehre all derer und für mein eigenes Wohlbefinden, für meine Seele. Wir bitten nur um Solidarität und Unterstützung für Maßnahmen, die nicht nur für die Flüchtlinge, sondern auch für alle betroffenen Geschäfte und Familien gedacht sind. Wir bitten Menschen, unsere wundervolle Insel zu besuchen und unsere Unternehmen zu unterstützen,
Wir sind nun an dem Punkt angelangt, an dem wir selbst um den Erhalt unserer eigenen Existenzen kämpfen müssen.
Aphrodite Vati Mariola
Radio Kreta – manchmal auch hart und traurig.
Flüchtlingsdrama im Mittelmeer: „Ich schäme mich“, von Holger Czitrich-Stahl.
jassou Su, vielen Dank für die Übersetzung.
Auf diablog (deutsch–griechische Begegnungen) ist auch ein wunderbarer Artikel erschienen.
„Wir wissen, was Flucht bedeutet”
http://diablog.eu/portraet/giannis-papadopoulos-aimilia-kamvysi-fluechtlinge-mittelmeer-lesbos-friedensnobelpreis/
vg, kv
Das Problem ist halt, dass Freundlichkeit dazu führt, dass immer mehr Leute nachkommen. Wir sehen das ja auch im Alltag: Wenn wir irgendwo freundlich empfangen werden, dann gehen wir immer dorthin, und wir empfehlen den Freundlichen auch unseren Freunden und Bekannten. Nichts anderes ist bei der Flüchtlingskrise geschehen: Die Freundlichkeit führte dazu, dass die griechischen Inseln überrannt wurden, und jetzt diese Existenzfrage langsam, aber sicher nach oben dringt. Wäre man am Anfang unfreundlich gewesen, auch wenn es einem das Herz gebrochen hätte, dann wären die griechischen Inseln niemals Ziel geworden. Aber das hätte Härte und Kälte gebraucht, und dazu war man nicht in der Lage. Die Touristen wollen Erholung und Spass, sorry. Die wollen nicht Flüchtlingshelfer spielen (zumindest die „normalen“ Touristen nicht)