Nikos stellt vor…. Literatur gestern und heute.
Bedeutende Werke sind die, die über Jahrhunderte und Jahrtausende immer noch dieselbe Ausstrahlung besitzen. In dieser Rubrik wollen wir einen großen Bogen spannen, um die Kraft der Worte zu erfahren. Vor exakt 50 Jahren erschien dieses Lied von Reinhard Mey, das aktueller nicht sein könnte.
Nikos stellt vor…. “Reinhard Mey’s Hauptbahnhof Hamm.“
Am Abend, wenn der Wartesaal
Im Hauptbahnhof zur Piazza wird,
Wenn sich der Süden jedesmal
Bis in den Norden verirrt,
Dann wird der Kornschnaps zum Pastis,
Dann gibt es Bier, das nach Birra schmeckt,
Dann riecht‘s nach Knoblauch und Anis,
Und wenn der Lärm das Grau versteckt,
Hält das Signal sich für ein Minarett,
Der Zeitungsmann sich für den Muezzin,
Der Bahnhofsvorsteher für Mohammed,
Und heißt die Züge gen Mekka zieh‘n.
Dann wird der Kiosk zum Basar,
Der Blumenhändler zu Vergil,
Die Bahnhofspolizei sogar
Wird zur Guardia Civil.
Dann erzählt Luis von Bañeza
Und Alexis von Xanthe
Und Ismael von Ankara,
Und ich erzähl‘ vom Wannsee.
Dann geht ihr Zug nach Essen weiter,
Um null Uhr sechsunddreißig haargenau,
Archimedes wird wieder Gleisarbeiter
Und Carmencita Reinemachefrau.
Um die Zeit wird am Imbißstand
Statt Espresso Kaffee gebrüht,
Dann schließt Vergil seinen Blumenstand,
Die Windrose verblüht.
Im Wartesaal beim letzten Glas,
Wenn schon der Ober die Kasse zählt,
Sitz‘ ich, erzähl‘ mir selber was,
Wenn mir kein andrer was erzählt.
Dann steh‘ ich auf, dreh‘ eine Zigarette
In schmutzigen Fingern, steif und klamm;
Tu‘ so, als ob ich was zu tun hätte,
Um null Uhr fünfzig, Hauptbahnhof Hamm.
Kosta, dem ich diesen Text auf Griechisch übersetzte, zitierte einen Ausspruch von Karl Valentin: “Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.“
Euer Niko
Guter Musiktipp: „Tris Karekles“ von Reinhard Mey.