SUN WOLF: „Auf Kreta traf ich eines Tages Bernardo“.

EIN WUNDERBARER TEXT VON SUN WOLF

Sun Wolf (Hans Georg Wolff) war ein Maler, Bildhauer und Literat. Neben seiner Tätigkeit als Kunstlehrer hat Sun Wolf ein Werk geschaffen, dass Tausende von Arbeiten umfasst. Sein Werk und sein Leben sind dokumentiert in einem Film, der in den Jahren 2004-2008 entstand. Einen Teil seines Lebens verbrachte er auf Kreta.

„DIE FÜLLE AN INFORMATION FÜHRT ZUR DESINFORMATION!“

Ich sitze an dem Tisch, von dem aus man in meinen Garten schaut und weiter noch auf das große Feld und die Bäume und Hecken, die es begrenzen. Der Himmel, ist bedeckt, die Bäume vom Sturm nahezu entlaubt. Ich habe mir ein Kaligraphieset bei Tchibo gekauft. Schön schreiben will ich, aber es wird nicht schön was ich schreibe, es sei denn die Wahrheit – es ist meine – ist schön.

Die Metallfedern spreizen sich und behindern den Schreibfluss. Ich glaube nicht, dass ich lange mit diesem „Glumpert“ schreibe. Außerdem wackelt der Tisch und macht mich nervös. Ich bin in einer tiefen Krise und fühle nur Ohnmacht in mir. Diesem Phänomen will ich mich nähern. Mein Besuch in Wien hat es ausgelöst. Ohnmacht führt in die Depression oder in die Aggression.

SUN WOLF auf Kreta.

Anläßlich meiner Fahrten kreuz und quer durch Wien, beschlich mich das Gefühl, als lebten diese Menschen wie Gefangene, als sei unsere Welt wie ein Gefängnis, in dem man nichts mehr wahr nimmt! Ich erinnere mich: In den ersten Jahren meines Lehrer-Daseins, klebte ich die Gänge voll mit ausgeschnittenen Zitaten aus Büchern und Zeitschriften, im Glauben, ich könnte dadurch etwas bewegen. Aber vermutlich habe nur ich sie aufmerksam gelesen. Eine Botschaft war dabei, die an Brisanz zugenommen hat, sie lautete:

Die Fülle der Information führt zur Desinformation.

Das heißt: Die totale Aufklärung führt in die Unmündigkeit. Die Fülle ist unser größtes Problem. Überall ist alles voll. Ein Eindruckt erschlägt den anderen. Ein Gedanke erwürgt den anderen. Ein Buch frisst das andere, ein Musikstück zerstückelt das andere. Ein Motiv zum Handeln mordet das andere. Wir sind erstarrt in der Fülle der Möglichkeiten.

Aber wir weigern uns dies zu erkennen. Es ist eine paradoxe Erfahrung, scheinbar gegen alle Vernunft. Es ist aber doch viel schlimmer. Es ist so schlimm, dass wir uns weigern, dies einzusehen. Wir begeben uns freiwillig in die Diktatur der Fülle, weil wir sie für einen Wert halten! Die Wahrheit aber ist:

Die Diktatur der Fülle zerstört alle Werte und am Ende uns selbst.

Werden wir konkret: Wer dauernd säuft, zerstört den Rausch! Wer dauernd frißt, zerstört den Hunger! Wer sich dauernd informiert, zerstört die Neugierde! Wer dauernd die Welt bereist, verliert sie! Wer sich dauernd ins Zentrum begibt, verliert sein eigenes! Wer dauernd dem Event hinterherläuft, zerstört seine Erlebnisfähigkeit! Wer dauernd shoppt, verliert das Gefühl für das, was ihm notwendig ist! Wer dauernd fickt, zerstört den Eros! Wer aber in der Verblendung durch die Fülle über lange Zeit so handelt, endet im Überdruss und im Ekel am Dasein! Wer sich dann aber dauernd durch kritiklos angewandte Heilslehren erlösen läßt, verliert die Fähigkeit zur Selbstheilung.

So werden wir Opfer eines Prozesses, dessen Ursprünge wir nicht kennen. Wir, die wir uns immer noch für aufgeklärt halten, enden in der Ohnmacht und geben denen Raum, die sie uns umdeuten in Allmacht!

Etwas ganz und gar Unfassbares ist geschehen:

Die Befreiung aus der Unmündigkeit endet in der Knechtschaft, die wir aber mit der Freiheit verwechseln! In Wahrheit aber sind die uns umgebenden Ereignisse, obwohl sie aus der Vernunft stammen, Phänomene der Magie geworden, die unsere Welt nicht erhellen, sondern verdunkeln.

Ohnmacht gegenüber den Geräten, die mich umgeben. Es ist immer die eigene Erfahrung, die zählt und nicht die Auffassung anderer, die meine Erfahrung deuten. Es gibt aber ein Interesse in der Welt, das Macht über uns gewinnen will, in dem sie unsere eigene Urteilskraft auszuschalten versucht. Das ist immer dann der Fall, wenn unser Urteil im Widerspruch zum Zeitgeist steht. In einem solchen Fall fürchten wir unsere Isolation. Somit ist seiner eigenen Erfahrung mehr zu trauen, als der Deutung, die sie durch andere erfährt!

Eine Herausforderung.

Wer seine Situation als Knechtschaft erfährt, während sie der Zeitgeist als Freiheit definiert, gerät ins Abseits und das umso mehr, wenn die Knechtschaft in Gestalt der Freiheit daherkommt und diese Paradoxie erst einmal erkannt werden muss! Alle Geräte die mich umgeben, sind Ergebnisse des Fortschritts und daher erleichtern sie mein Leben und machen mich frei für das Wesentliche meines Daseins.

Das ist von apodiktischer Gewissheit und dennoch lehrt mich meine tägliche Erfahrung das Gegenteil. Alle Geräte die mich umgeben, bewirken meine Ohnmacht, da ich ihre Funktionen nicht mehr verstehe. Um sie aber zu verstehen, muss ich soviel Zeit aufwenden, dass ich für das Wesentliche meines Daseins keine Zeit mehr habe. Um sie funktionsfähig zu halten, muss ich mich Experten anvertrauen, die sie zwar funktionsfähig halten, aber auch nicht wirklich verstehen!

Was aber hält mich davon ab, meine eigene Erfahrung zu meiner Wahrheit zu machen?

Weil es neben den Geräten viel mehr um die Beurteilung des Fortschritts geht! Dass ich aufgebe vor den Mucken meiner Waschmaschine, dem Spleen meiner Heizungsanlage, der Unanständigkeit meines Automotors und der Eitelkeit meiner Dusche, das traue ich mich, denn hier verlasse ich nicht den allgemeinen Glauben dieser Gegenwart.

Wenn ich aber meine Ohnmacht nicht mehr nur von den Geräten verursacht vorstelle, sondern verursacht von dem Fortschritt, der sie hervorbringt, dann reicht meine Erfahrung in eine andere Dimension! Dann müsste meine ganz persönliche Wahrheit in die These münden: Der Fortschritt ist die Ursache meiner Ohnmacht und er verhindert, dass ich mein Dasein in seiner Wesentlichkeit erfahre. Der Fortschritt ist zu meinem Verhängnis geworden! Und nach meiner Meinung ist er für niemanden mehr ein Segen, außer denen die davon profitieren. Da er aber durchaus einmal für alle von Nutzen war, ist es so schwer ihn jetzt als ein Gegenteil zu begreifen.

Warum aber ist es so schwer den Fortschritt jetzt als Verhängnis zu begreifen? Ich bin mir sicher, dass die Meinung die wir über die Phänomene haben, uns mehr bestimmt als ihre direkte Wirkung auf uns. Diese Meinung wird uns eingetrichtert von Geburt an. Erst sehr spät erkennen wir, dass wir die Wirklichkeit nur über Definitionen erfahren. Heute aber sind diese einem pausenlosen Wandel ausgesetzt. So kommt es dazu, dass wir noch nicht mal eine einheitlich definierte Welt in uns haben, sondern nur eine Überquellende Fülle von Phrasen.

Und so gerät unser Leben ins aussichtslose Nichts.

Nur ein leerer Kopf erkennt die Phänomene. So sagen uns die „Weisen“, dass wir uns befreien müssen von der bereits von anderen beschriebenen Welt. Jene Anderen aber sind die Wahren und eigentlich Mächtigen in der Welt. Sie beschreiben für uns Gott, Liebe und Tod. Das aber ist die eigentliche Unmündigkeit, wenn wir nicht Gott erfahren, nicht Liebe, nicht Tod.

Lange habe ich nicht begriffen von wem die wahre Macht ausgeht. Es ist nicht der Gendarm, nicht der Parteisekretär, nicht der General, noch nicht mal der Diktator! Wie aber kommt man zur ganz ursprünglichen Erfahrung der Phänomene. Man sagt durch Erleuchtung. Oder man sagt durch Leere. Order man sagt durch Denken. Man sagt auch durch Kunst … ?

Exkurs in die Banalität des Heiligen.

Schild Kreta

Auf Kreta traf ich eines Tages Bernardo. Er war wirklich erleuchtet. Nur ich konnte es nicht so recht begreifen.

Bernardo sagte: „Du wirst auf der Welt niemals das dort finden, wo die Hinweisschilder hinzeigen. Du findest es auch nicht, wenn Du in die Gegenrichtung gehst. Es ist auch nicht sicher, ob Du es überhaupt findest, denn zur Wahrheit führt kein Pfad. Es kann sein, dass die ganze Menschheit in Täuschung lebt und was noch viel schlimmer anmutet: in Täuschung stirbt. Das hat mich zu der Überzeugung veranlaßt, dass der Mensch etwas Vorläufiges ist. Wir sind halt einfach nicht das, was wir glauben, dass wir es sein könnten.

Ich war Jahre in Indien, aber ich war nie erleuchtet. Ich hatte zu dramatische Erwartungen. Es ist nämlich ganz einfach, es ist so einfach, dass wir in der Gefahr sind es sogar zu übersehen, wenn es uns geschieht!“ – Bernardo hielt eine Bierflasche hoch und lachte: „Es ist schon ganz komisch, wenn man durch Biertrinken erleuchtet wird!“

Bernardo hatte Recht, denn ich wurde durch Biertrinken immer nur besoffen. „Aber das ist es ja, die Erleuchtung erfahren wir ganz unerwartet.“ Mein Freund deutete sein Bierritual nur an. „Es war erst ein Zufall und ich beachtete es kaum, aber als es noch einige Male geschah, gestaltete ich es zum Ritual! Mit Worten beschreiben kann ich es eigentlich nicht was geschah. Obwohl sich der Berg, das Meer, die Gesteine, der Himmel nicht eigentlich veränderten, so war in den wenigen Sekunden ein eigentümlicher Glanz um sie herum, und der war auch in mir. Und ein großes Glücksgefühl! – Wer mehr darüber sagt, dem misstraue ich!“

Ich war nie erleuchtet und ich dränge mich auch nicht dazu. Mir genügt es zu wissen, dass die von anderen beschriebene Welt eine Irreführung ist! Etwas Ähnliches sagte auch Bernardo: „Natürlich ist es eine Seligkeit, die Welt so zu sehen, wie sie Gott gemeint hat, aber sie so gesehen zu haben, schützt mich vor allen Weltbildern, die andere entwerfen, um uns zu manipulieren!“

Bernardo war kein Heiliger, so wie wir sie uns vorzustellen haben in jenem Sinne wie wir uns auch Gott vorzustellen haben in ihrem Sinne. Seitdem glaube ich nämlich, dass Gott, Tod, Liebe usw. ebenso einfach zu begreifen sind, wie Bernardo die Welt erschaut hat und ich glaube auch, dass es eine Clique von Menschen gibt, die ein Interesse daran haben, uns in Täuschung zu versetzen und darin zu belassen.

Es erscheint mir wahrscheinlich, dass unsere Unmündigkeit beabsichtigt ist.

H G Wolff


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DER FILM: Sun Wolf – Ein Leben für die Kunst und auf Kreta. Ein Film von Bodo Schickentanz, Musik von Oliver Weisrock.