Burn-In auf Kreta. Eine Leseprobe.

Von Sebastian Knell

Vor 30 Jahren habe ich als Teil einer philosophierenden Rucksack-Clique mehrere Wochen am Strand von Paleochora gelebt, und diese Erlebnisse und die Eindrücke des Ortes sind in einen Roman von mir eingeflossen, der im letzten Jahr erschienen ist und u. a. Gegenstand einer Reihe von Lesungen war, die ich quer durch Deutschland gegeben habe.

Der Roman heißt „Burn-In. Oder wie Parzer der Glückseligkeit verfiel“. Bei allen Lesungen ist die Szene am Strand von Paleochora immer mit am besten beim Publikum angekommen.

Die Szenen, die am Strand von Paleochora spielen (obwohl der Name des Ortes nicht explizit genannt wird) finden sich im letzten Abschnitt des ersten Teils des Romans. Die Handlung des gesamten letzten Teils des Buches spielt sich ebenfalls in Griechenland ab, allerdings dann auf den Kykladen.

Auszug aus „Burn-In“:

Das Schnarchen zu meiner Linken wurde zunehmend lauter und dröhnender, krakeelte dann eine Weile auf einer unsauberen Halbtonskala daher und verwandelte sich schließlich in eine Art rhythmisches Schnappen und Stottern der Atemwege. Daraufhin verebbte es allmählich und ging in völlige Stille über. Schon bald würde der Lärm aufs Neue beginnen, ich kannte diesen Zyklus bereits. Dennoch wandte ich sicherheitshalber den Blick zur Seite. Renato lag mit offenem Mund in seinem Liegestuhl, während die Arme über die Lehnen in Richtung Boden baumelten. Es war alles im grünen Bereich: Er atmete so unbeirrbar ein und aus, wie ein vegetativer Prozess nur voranschreiten konnte.

Mit dem Bus nach Paleochra.

Die Weite der Landschaft, die sich zu unseren Füßen auftat, rief mir eine andere Szenerie in Erinnerung, die mehr als zwanzig Jahre zurücklag. Damals war ich, gemeinsam mit einer mehrköpfigen Clique meines Abiturjahrgangs, dem klassischen Klischee folgend, den Sommer über per Rucksack durch den östlichen Mittelmeerraum gereist.

Besonders nachhaltig angetan hatte es uns dabei die weltabgewandte Südküste Kretas. Dort lagerten wir wochenlang mit unseren Schlafsäcken und Isomatten am Strand einer kleinen Ortschaft, während sich vor unseren Augen nichts als die glatte, tiefblaue Flur des Libyschen Meeres erstreckte, in der Sonne leuchtend in ihrer Unendlichkeit.

Einer Unendlichkeit, die ebenso zu einer Reise mit noch unbekanntem Ziel einzuladen schien wie die noch vage Zukunft unseres jungen, im Vorfrühling der Zielgerichtetheit befindlichen Lebens. Tagsüber lungerten wir in den wenigen Lokalen des Fischerdorfs herum, soffen bereits zum Frühstück schlechtes holländisches Bier und spielten den lieben langen Tag lethargisch Skat.

Zwischendurch diskutierten wir über Gott und die Welt oder lasen abgegriffene, vom Sand und den Krümeln karger Papadopoulos-Kekse verschandelte Bücher von Ernst Bloch, Georg Büchner und Henry Miller. An unserem Lager am Strand, wo wir jeden Abend rauchend und Retsina trinkend das Schauspiel des Sonnenuntergangs verfolgten oder in der Hitze des Mittags vor uns hin dösten, gesellten sich im Laufe der Zeit mehr und mehr herrenlose Hunde zu uns.

Die Vierbeiner, zumeist sperrholzbraun und struppig, ließen sich direkt neben unseren Schlafsäcken nieder und blickten leise hechelnd in Richtung Meer. Sie wirkten sehr entspannt, wie richtig coole Typen: angenehm lässige Seelenverwandte, die unsere eigene, bis ins Mark verinnerlichte Coolness instinktiv zu erfassen und daher vorbehaltlos mit uns zu sympathisieren schienen. Man war geneigt, ihnen eine Kippe anzubieten. Manchmal, wenn einer von uns müden Kriegern sich erhob und über den Strand lief, kam einer der Hunde hinzu, klammerte sich auf den Hinterpfoten stehend an das Bein des Vagabundierenden und holte sich an dessen verwatzter, vor Sand und Meersalz starrender Jeans mit Schmackes einen runter.

Lang, lang war’s her. Doch auch heute, nach all den Kämpfen, Kaspereien und Stabhochsprungübungen, die die Reifung der Persönlichkeit und die bürgerliche Selbstbehauptung vorangetrieben hatten, ließ das Leben sich so übel gar nicht an. Mir jedenfalls war behaglich zumute wie schon lange nicht mehr. Entspannt lehnte ich das Haupt zurück und richtete die Augen gen Himmel. Kleine Wölkchen verschatteten hin und wieder die Sonne, deren sanft herabgedimmtes Gleißen durch den getönten Aufsatz meiner Brille drang.

Hoch über mir schoss ein graubrauner Vogel durch die lauen Lüfte des Sommers. Ich war leibhaftig hier, war fürwahr dem Nichts entronnen – beim Zeus! – und fügte mich mit großer Leichtigkeit ein in diese freundliche Landschaft mit ihrem Insektengesumm, betörenden Wiesenduft und Ausblick auf Wipfel und Hügel. Kein noch so kleiner Riss des Strebens verlief zwischen mir und den übrigen Dingen. Besser ging es nicht, soviel stand fest.

Schade nur, dass die anderen das nicht begriffen.

„Zum letzten Mal: Ich komme nicht mit in deinen elenden Schrebergarten“, hatte Julia gesagt, so stechend leise, dass es schon fast ein invertiertes Brüllen war.

„Ist gut“, hatte ich erwidert. „Dann halt nicht. Wartet aber nicht mit dem Abendessen auf mich. Es kann ein Weilchen dauern, bis ich wieder zurück bin.“

„Wie du meinst. Es wird aber kaum noch ein Weilchen dauern, bis sie dich bei Bärndasch feuern.“

„Bei Bärndasch?“

„Scheiße, ja! Seine Sekretärin hat angerufen. Du bist diese Woche wieder nicht zu deinem Seminar erschienen!“

„Ich weiß. Ich hab’s verschwitzt.“

„Verschwitzt? Wie schon vorletzte Woche? Verdammt nochmal, was ist denn los mit dir?! So was vergisst man doch nicht einfach so!“

„Ich kannʼs dir auch nicht erklären.“

„Ich weiß doch, dass du nach Basel fährst! Was treibst du denn da den lieben langen Tag, he?! Verrat mir das mal!“

„Nichts weiter: In der Stadt rumlaufen. Oder am Rheinufer sitzen.“

„Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein! Wozu denn das?!“

Wozu, wozu! Einfach so! Das klingt für dich wahrscheinlich komisch, das ist mir schon klar, aber wenn ich so ganz ohne Plan durch die Gegend laufe, füllt mich das schon vollkommen aus. Leider vergesse ich dann manchmal, warum ich überhaupt hingefahren bin.“

„Das nehm ich dir nicht ab!“

„Es ist aber so.“

„Reinhold, sag mir die Wahrheit: Hast du eine Geliebte?!“

„Quatsch! – Julia, ich bitte dich. Da liegst du ganz falsch.“

„Lüg mich bloß nicht an!!“

„Das tue ich nicht. Ich schwörʼs dir!“

Der Fernreisebus.

„Aber was, Herrgottnochmal, ist denn dann nur mit dir los?! Dein ganzes Verhalten hat sich seit Mai total verändert! Ich kapier einfach nicht, warum. Du bist so, ich weiß nicht, wie ichʼs sagen soll … du bist so total merkwürdig geworden, so als ob alles an dir abprallen würde.“

„Ich habʼs dir doch schon erklärt: Mir ist zum ersten Mal in aller Konsequenz klargeworden, wie abgrundtief crazy der Umstand ist, dass wir überhaupt existieren. Was für ein gigantischer Glücksfall das ist.“

„Und?!“

„Das zu schnallen, reicht schon aus, um absolut zufrieden zu sein. Verstehst du? Das allein reicht aus!“

„Das ist doch absurd!“

„Ich meine: Es wirklich zu schnallen. Es nicht nur irgendwie zur Kenntnis zu nehmen und dann gleich wieder zu vergessen. Sondern die ganze Sache mal so richtig auf sich wirken zu lassen. Dann wird nämlich das meiste andere im Vergleich dazu ganz schnell schnurzpiepegal. So egal wie das sprichwörtliche Radl, das in China umfällt.“

„Du spinnst!“

„Ich meine es ernst.“

„Du hast ja einen totalen Knall! Und was ist mit der Landtagswahl? Und deiner politischen Karriere?“

„Auch die ist, bei klarem Verstand betrachtet, nicht wirklich von Bedeutung.“

„Ich fass es nicht!“ Julia feuerte den Ordner mit den Gerichtsunterlagen auf den Esszimmertisch. „Hast du sie noch alle?! Ich kann einfach nicht glauben, was du da sagst!“

„Es ist aber so. Dieses Wissenschaftsmagazin, das neulich auf arte lief, du weißt schon, wo es um die Entstehung des Weltalls ging …“

„Jetzt komm mir doch nicht schon wieder damit! Ich kannʼs echt nicht mehr hören!“

„Dann hörʼ mir halt einmal richtig zu! Die Sendung hat meine Haltung zum Leben tatsächlich verändert, so bekloppt sich das für dich vielleicht anhört! Durch sie ist mir sowas von bewusst geworden, dass der ganze berufliche Kram nicht im Mindesten ins Gewicht fällt! Das alles sind Dinge, die man federleicht nehmen kann! Federleicht, capito?! Und weißt du was? Das mal eingesehen zu haben, ist absolut befreiend! Wirklich absolut befreiend!“

„Aber so kann man doch nicht leben!!!“

Da hatte Julia sich geirrt. Ich konnte so leben. Oder besser gesagt: Anders konnte ich nicht mehr leben, so sehr ich mich anfangs auch bemüht hatte. Bei den meisten Menschen war es vermutlich so, dass sie, auch wenn sie erkannt hatten, was ich erkannt hatte, davon in ihrem Alltag weitgehend unberührt blieben. Bei mir war das früher ganz genauso gewesen: Dinge, deren existenzielle Belanglosigkeit bei nüchterner Betrachtung ins Auge sprang, trieben mich um wie der Teufel, während das meiste von dem, was im Leben wirklich von Bedeutung war, mich mehr oder weniger kalt ließ. Doch jetzt verhielt es sich vollkommen anders:

Es kam mir so vor, als sei in meinem Hirn ein Stück Gussgrat weggebrochen, ein überflüssiges störendes Teil, das bislang den Transfer der Erkenntnis in das passende Lebensgefühl und Verhalten blockiert hatte. Das war quasi über Nacht geschehen, im Anschluss an jene eine, alles entscheidende Fernsehsendung. Der Gedanke an das unfassbar krasse Ausmaß, in dem das irdische Dasein vom zufälligen Entgegenkommen des Naturgeschehens abhing, beherrschte seither mein Denken und Tun an jedem Tag und zu jedem Zeitpunkt, vom Moment des Erwachens bis zum Augenblick des Zubettgehens, ohne Einschränkung.

Eine Eins-zu-Eins-Übersetzung des Wissens in die Tat. Im Grunde genommen ein echter Fortschritt in der Entwicklung des Homo sapiens, keine Frage. Doch manchmal wünschte ich mir das alte, störende Stück Gussgrat zurück. Vor allem dann, wenn ich mitbekam, wie Julia unter meiner veränderten Art, die Dinge anzugehen, litt.

Dennoch schien es für mich keinen Weg mehr zurück in mein vorheriges, von Inkonsequenz und Blindheit beherrschtes Leben zu geben. Und es gab wahrlich mehr als nur einen Grund, die eigene Existenz zu preisen! Nicht allein die unwahrscheinliche Fügung, dass dem wirren Bubble-Tea der Teilchen, Kräfte und Naturkonstanten überhaupt ein Universum entsprungen war, das den Proteinen Rückhalt bot, und das anschließende Lotto der Evolution ließen einen nachträglich darüber erschaudern, dank welch gewaltiger Gunst des Schicksals man dem leeren Abgrund des Nie-Geborenworden-Seins entkommen war.

Auch die Bedingungen der individuellen Zeugung bildeten eine schier unvorstellbar hohe Hürde: Wäre im gesammelten Liebesrausch meiner Vorfahren nur ein einziges Mal ein anderes Samenkorn mit der gerade verfügbaren Eizelle durchgebrannt, es hätte mich niemals gegeben! Wie ich mir jetzt in Erinnerung rief, war auf dieser Tatsache vor langer Zeit, am Ufer des Libyschen Meeres, bereits mein alter Schulfreund Joachim mit der ihm eigenen Vehemenz herumgeritten.

Wir diskutierten damals über den Tod. Die Wellen brachen sich leise rauschend an der Barriere des Strandes, während am immer dunkler werdenden Firmament ein Stern nach dem anderen in Erscheinung trat, zuerst nur als zaghaft glimmender Punkt, sodann jedoch immer strahlender und souveräner seinen Status als entrückte Sonne behauptend. Joachim war derjenige in unserer Clique, den es am stärksten zur Philosophie hinzog, obgleich auch ich zu dieser Zeit, im intellektuellen Überschwang der Jugend, Anwandlungen in diese Richtung verspürte.

Als ich später allerdings mitbekam, wie sehr Joachim unter dem fortwährenden Joch des akademischen Aufstiegskampfs und der, was die Größe des Charakters betraf, gnomenhaften Statur litt, die nicht wenige der Professoren bei näherer Bekanntschaft offenbarten, war ich dennoch froh, dass ich mich für die weniger brotlose, weitaus praxistauglichere Option des Jurastudiums entschieden hatte.

„Den Tod zu beklagen, ist kurzsichtig und dumm!“, hatte Joachim verkündet, während wir alle, Seite an Seite, in unseren viel zu warmen Schlafsäcken lagen und ebenso beschwipst wie ergriffen das Schauspiel der visuellen Inkarnation der Galaxie bestaunten.

„Ich finde den Tod extrem beschissen!“, rief Ludmila, die den Platz zu meiner Rechten einnahm und eine filterlose Gauloise rauchte. „Die ultimative Gemeinheit, die das Leben bereithält!“

Ludmila war die Freundin von Ralf, der sich vorzeitig auf die Heimreise begeben hatte, da er bereits im September seinen Zivildienst antreten musste. Sie war das mit Abstand attraktivste Mädchen unserer Jahrgangsstufe: eine Ikone der Weiblichkeit und der Courage im Kreise der Landpomeranzen und Stricklieseln, mit senfblondem Haar, blaugrünen Augen und einem Näschen so hübsch und markant wie das von Ingrid Bergmann.

„Ich sehe das genauso“, pflichtete ich Ludmila bei.

„Man muss aber bedenken, dass es eigentlich nur zwei Möglichkeiten gibt“, erwiderte Joachim, der sich auf die Ellenbogen gestützt hatte und dessen Joint im Dunkeln glühte. „Entweder das, was wir das ,Ichʼ des Menschen nennen, ist zwingend an den individuellen Körper gebunden, mit dem jemand aus dem Mutterleib hervorgekrochen kommt. Dann bedeutet ein anderer Körper immer auch ein anderes Ich und der Tod des Körpers dessen unwiderrufliches Ende.“

„He!“, rief Ludmila dazwischen. „Habt ihr die Sternschnuppen gesehen? Zwei, die sich überkreuzt haben. Fast wie zwei Feuerwerkskörper!“

„Oder aber“, fuhr Joachim unbeirrt fort, „das jeweilige Ich ist in so hohem Maße unabhängig von einem bestimmten Körper, dass es sich mit einem beliebigen biologischen Organismus verbinden kann, der über ein geeignetes Gehirn verfügt. Das würde zum Beispiel heißen, dass jeder von uns ebenso gut in einem anderen physischen Körper hätte zur Welt kommen können.“

„Okay, Alter“, sagte Martin, der noch kurz zuvor so heftig mit Simone herumgeknutscht hatte, dass man zwischen dem Rauschen der Wellen die Tuchfühlung der Schleimhäute meterweit hatte vernehmen können. „Und wie bringt uns diese Einsicht jetzt weiter?“

„In jedem der beiden Fälle“, erwiderte Joachim, „ist das Hadern mit dem Tod nicht wirklich begründet. Denn wenn das Ich nicht an den individuellen Leib geknüpft ist, dann besteht zumindest im Prinzip die Möglichkeit, dass man später wiedergeboren werden kann. In einem anderen Körper, oder vielleicht auch als Tier.“

„Daran glaube ich keine Sekunde!“, warf ich ein.

„Moment!“, sagte Joachim. „Der entscheidende Punkt kommt erst noch: Wenn man nicht daran glaubt und das eigene Ich für etwas hält, das nur mit diesem einen, ganz konkreten Körper in die Welt gelangen konnte und daher den Zerfall dieses Körpers auch nicht überstehen kann, dann wird die eigene Existenz zu einem unglaublichen Lotteriegewinn. Denn die weibliche Eizelle, aus der man im Wirrwarr der elterlichen Vögelei entstanden ist, hätte ja genauso gut mit irgendeiner der Millionen anderen Samenzellen zusammenkommen können, die zum selben Zeitpunkt abgespritzt wurden. In jedem dieser alternativen Fälle wäre dann aber nicht man selbst, sondern eine völlig andere Person zur Welt gekommen. Denn aus einer anderen Verbindung von Ei-und Samenzelle hätte sich ja ein ganz anderes körperliches Individuum entwickelt und folglich auch ein anderes Ich.“

„Meinst du wirklich?“, murmelte Ludmila mit zusammengepressten Lippen, während sie sich die nächste Kippe anzündete.

„Na, klar. Um diese Folgerung kommt man nicht drum rum.“

„Ich weiß nicht. So ganz klar scheint mir das nicht.“

„Doch, bestimmt! Es ist daher so: Entweder das eigene Ich kann das Ende der leiblichen Existenz überleben, oder aber sein Zustandekommen ist von vornherein ein so abartiger Glücksfall, dass sich der spätere Tod ganz gut verschmerzen lässt. Man hat dann bereits das ganz große Los gezogen und kann damit bis ans Ende seiner Tage absolut zufrieden sein.“

„Ich weiß gar nicht, was das überhaupt sein soll, dieses sogenannte Ich!“, warf Martin ein. „In meinem Bewusstsein, da gibt’s garantiert so viele Standpunkte und Erlebniszentren wie Spermien im Sack meines Alten! Aber du könntest mir mal den Ouzo rüberreichen.“

So – oder so ähnlich – verlief unsere damalige Unterhaltung, sofern ich mich noch richtig entsann. Woran ich mich jedoch auf jeden Fall noch so deutlich erinnerte, als läge das Geschehen erst wenige Wochen zurück, war die überraschende Zuwendung, die ich von meiner schönen Nachbarin erfuhr, als die anderen bereits den Schlaf der Gerechten schliefen. Nachdem Ludmila ihre x–te Zigarette ausgedrückt hatte, tat sie das, was ich insgeheim erhofft hatte und was sich als vage Möglichkeit einigen zarten Zeichen ihrerseits während zweier gemeinsamer Spaziergänge hatte entnehmen lassen, seit Ralf unsere Gruppe Ende August verlassen hatte. Sie wandte sich im Liegen zu mir hin, ließ das letzte Quäntchen Rauch aus ihren Lungen entweichen und presste ihre Lippen auf die meinen. Ich war wie benommen vor Glück. Zugleich ahnte ich, dass es bei einer einmaligen Aktion bleiben würde und beschloss daher, mich ganz der Gunst des Augenblicks zu überantworten.

Als sie dazu überging, mich zügelloser zu küssen, schmeckte ich die Bitternis der Tabakkrümel, die die filterlose Gauloise in ihrem heißen, vom gesteigerten Speichelfluss der Raucherin geschwemmten Mund zurückgelassen hatte. Bereitwillig und verzückt überließ ich mich dem unkeuschen Fluidum, während ihre Zunge, die die spektakuläre Nachhut ihrer Hingabe bildete, sich anschickte, von einem Augenblick auf den anderen meinen bisherigen Begriff der Intersubjektivität aus den Angeln zu heben. Nach einer Weile ließ sie schließlich von mir ab. Selig betrachtete ich die schockgefrorene Choreographie der unzähligen, in die Ferne gebannten Sonnen und dachte darüber nach, ob ich gegenüber meinem alten Kumpel, der mich bei sämtlichen Matheklausuren seit der Obertertia, ohne mit der Wimper zu zucken, hatte abschreiben lassen, Schuldgefühle hegen sollte oder nicht.

Dann jedoch ging Ludmila noch einen entscheidenden Schritt weiter. Ihre bildhübschen Finger, die bei verliebter Betrachtung an fein modellierten Speckstein denken ließen, wanderten durch den geöffneten Seitenschlitz meines Schlafsacks, fanden, so herrlich fremdkörperhaft umherkrabbelnd, wie sich fremdes Fleisch nur anfühlen konnte, ihr Ziel und machten sich dort mit Elan zu schaffen. Was nun geschah, kam einer Art Geisterstunde der Initiation gleich: Dem sachte anrollenden Meer entstieg mit einem Mal ein seltsam flatternder, leicht unheilvoll anmutender, zugleich jedoch angenehm wärmender Wind.

Er schien über die Mündungen unzähliger, halb gefüllter Bier- und Wasserflaschen zu streifen, die irgendwo im weiteren Umkreis unseres Lagers aus dem Sand ragen mussten. Denn ebenso unversehens, wie der Wind anhob, waberte urplötzlich ein Gespinst wässriger Orgeltöne durch die Nacht, die von überall und nirgendwo her zu kommen schienen und deren amorphe Gemengelage sich mehr und mehr zu einem orchestralen, verschwommen oszillierenden, in ständiger Fluktuation befindlichen Klanggewebe verdichtete. Eine in Bodennähe erschallende Sphärenmusik, die geeignet gewesen wäre, das Herz sämtlicher meditativ gesonnener Kiffbrüder auf diesem Erdenrund höher schlagen zu lassen.

Gleichzeitig schienen die Abermillionen leuchtenden Punkte am Firmament näher zu rücken und stärker zu erstrahlen als jemals zuvor. Neuartige, noch nie gesehene Sternbilder formierten sich in meiner Einbildungskraft und wechselten einander ab, so als ob ein unsichtbares Kaleidoskop abstrakter Formen, das immer kühnere geometrische Strukturen in den kosmischen Raum projizierte, jenseits des nachtschwarzen Zeltdachs des Himmels rotierte. Dann, rascher als erwartet, verflüchtigte sich das Bewusstsein der Geometrie und wich einer anderen, seifigeren Form des Gewahrwerdens, und für einige wenige, dem Regiment der Zeit entrissene Sekunden ergriff eine Diktatur reiner, olympischer, überschnappender Lust von meinem erhitzten Empfinden Besitz.

„Burn-In auf Kreta?“ Das geht wirklich! Unser Buchtipp.