Von Dr Holger Czitrich-Stahl
Athen: Schmelztiegel des Umbruchs. Begleiterscheinungen, Teil 33 vom 11. Juni 2017
Zum mindestens 18. Mal in Athen seit 1987, mal ein kürzerer, mal ein längerer Aufenthalt. Früher natürlich war Athen das Stopover von Auto oder Flugzeug zur Fähre von Piräus aus auf irgendeine Insel, Kreta, die Dodekanes oder so. Gelegentlich blieb sogar Zeit eingeplant für ein längeres Sightseeing des einmaligen Weltkulturerbes dieser einmaligen Stadt. Und so erlauben die Erinnerungen einen Vergleich der Lage seit 1987, als ich erstmalig die Stadt besuchte.
Viel hat sich verändert, sichtbar und unsichtbar. Manches zum Besseren, vieles zum Schlechteren. Und was die Verbesserungen anbelangt, so stehen sie, bedingt durch die von der Troika aus EU, EZB und IWF erzwungenen Sparpolitik zugunsten der Banken und zulasten der Bürger längst wieder in Frage.
Athen ist zu einem Schmelztiegel des Umbruchs geworden und zum Drehkreuz der modernen Völkerwanderung. Mithin zur Magmakammer einer weltrevolutionären Entwicklung. Ob die kommenden Eruptionen allerdings friedlich verlaufen wie die täglichen Ausbrüche des Stromboli oder katastrophisch sein werden wie die Explosion des Vesuv 79 n. Chr. oder des Krakatau 1883 ist indes nicht prognostizierbar.
Vor dreißig Jahren tummelten sich europäische und australische oder amerikanische Touristen zwischen Omonia, Syntagma und Monastiraki, den wichtigen Plätzen.
Die Akropolis dürfte in ihrer rund zweieinhalbtausendjährigen Existenz kaum mehr junge Menschen erlebt haben als in den siebziger und achtziger Jahren. Die üblichen Bildungstouristen mit akademischem Hintergrund kamen eh hinzu, seit Lord Byron und andere Philhellenen oder Schatzräuber wie Lord Elgin oder Sebastien Fauvel Teile der Tempel nach London oder Paris verschifften. Dann, in den neunziger Jahren, nach der Implosion des Staatssozialismus, drängten Serben, Albaner, Russen, Bulgaren und Rumänen herzu und veränderten die Physiognomie des Stadtbildes und der Menschenmasse.
Gleichzeitig wanderten immer mehr Tamilen und Pakistani nach Athen ein und fanden als Billigarbeiter, Tagelöhner etc. Unterschlupf. Seit dem Afghanistan- und Irakkrieg und dem sich ausbreitenden Bürgerkrieg in einigen arabischen Staaten ist der Bevölkerungsanteil mit muslimischem Background sichtbar gewachsen. All das ist für Athen nichts Neues, die Stadt war immer schon eine Drehscheibe zwischen Balkan, Bosporus und Beirut, zwischen Europa und dem Morgenland.
Doch waren es gerade die Zwangsmaßnahmen aus EU-Europa, das Alleingelassensein mit den Flüchtlingen, die die soziale Lage in Athen immer prekärer machten. Bettelei, Obdachlosigkeit, Armut, Verfall greifen um sich und tun dem Athenliebhaber weh. Zwischen neumodernen Gebäuden stehen Ruinen, die eigentlich sofort abgerissen werden müssten. Irgendwann einmal stürzen sie ein, und mit ihnen das Kartenhaus einer Welt, die glauben machen will, der Markt regele alles.
Die Folgen: Leerstand ganzer Bürokomplexe, bröckelnde Fassaden, gesperrte Häuser. Dazu der Müll, der Autoverkehr, und nun auch noch Warnungen aus dem Hotel vor Taschendieben in der Metro oder auf den großen Plätzen. Doch die Athener wissen sich auch zu helfen. Solidarische Gesundheitszentren (Grüße an Stella Bekiari!), gegenseitiges Helfen, trotz Stress große Gastfreundlichkeit wie eh und je. Sie werden dieses Chaos irgendwie überstehen, wie sie schon andere Katastrophen überstanden haben.
Athen hat seine Akropolis, seine Agora, seine Plaka, den Likavitos, das schöne Wetter, seine unvergleichliche Geschichte. Grund genug, ihr treu zu bleiben und für sie zu hoffen, auch für seine netten und immer geschäftigen Athenerinnen und Athener. Doch sie haben jetzt gerade unter der SYRIZA-Regierungskoalition eine kleine Verschnaufpause nötig nach den Kämpfen der Jahre 2010-2015. Die Griechenland-Politik der Troika jedoch befeuert die Magmakammer nach wie vor. Bleibt es beim Schmelztiegel des Umbruchs oder wird Athen zu seiner Pulverkammer werden?
(Geschrieben am 9. Juni 2017 in der Odos Karolou)