„Jassou, Doktor!“
Die Dame in mittleren Jahren ließ sich erschöpft in den Sessel vor dem Schreibtisch fallen.
„Ich kann nicht mehr! Ich sehe alles ganz verschwommen!“
„Kein Wunder, wenn du die Brille nicht trägst.“ Der Arzt begutachtete die vertraute Patientin: gepflegt, teure Schuhe, teure Tasche, nur der Pullover wirkte irgendwie fransig.
„Was ist los, hast du den Pullover verkehrt angezogen?“
„Ja, das hilft gegen den bösen Blick“, antwortete sein Gegenüber mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt.
„Aaaaaaaahaaaaaa, und warum trägst du die Brille nicht?“
Sie wischte diese blöde Frage mit einer wegwerfenden Handbewegung aus der Welt. „Hilft doch alles nichts, wenn du behext bist! Das Miststück, meine Schwägerin hat mich gestern bewundert, weil ich angeblich so jung aussehe, jetzt habe ich den Salat!“
„Ist ja nett von ihr, und sie hatte ja wirklich Recht!“
Die gute Frau sah gleich wieder ein bisschen gesünder aus, setzte aber sofort nach: „Wenn die mir ein Kompliment macht, dann nur, um mir zu schaden!“
„Na gut, aber was kann ich jetzt für dich tun?“, fragte der ratlose Arzt.
„Mich vom bösen Blick befreien“, kam die Antwort, so selbstverständlich als ob das das tägliche Brot eines Akademikers wäre. Auch die beste Universität bereitet ihre Studenten auf dem Gebiet der Magie nur unzureichend vor!
Der Arzt schwieg eine Weile und ging in sich. Dann sagte er: „Einen Moment bitte“, begab sich ins Nebenzimmer und rief seine Mutter an. Wo die Wissenschaft ratlos ist, ist es eine Mutter noch lange nicht.
Er erschien wieder in seinem Büro mit einem Glas Wasser und einem Ölkännchen.
„Also pass auf. Ich gieße jetzt Öl ins Wasser. Wenn das Öl im Wasser versinkt, dann ist der Zauber so stark, dass ich dir nicht helfen kann. Wenn es aber obendrauf schwimmt, dann ist der Fluch weg.“
Er murmelte eine unverständliche Beschwörungsformel und goss ein wenig Öl auf das Wasser. Und, oh Wunder, das Öl schwamm oben!
Die anwesende Sprechstundenhilfe erlitt einen Lachanfall und versteckte sich hinter einem Untersuchungsgerät. Aber die leidende Patientin sprang auf und rief: „Wunderbar, es ist weg, ich sehe ganz klar! Großartig!“
Der Arzt war sehr mit sich zufrieden. Schließlich ist es seine Aufgabe zu heilen und der Heilerfolg war offensichtlich.
Die Patientin bedankte sich überschwänglich, versuchte vergeblich, ihrem Retter ein großzügiges Extrahonorar zuzustecken und ging zur Tür.
„Das hast du wunderbar gemacht“, sagte sie im Hinausgehen. „Ich werde dich weiterempfehlen!“
Der Arzt aber, das Schlimmste ahnend, schrie ihr nach: „Um Himmels Willen, bitte nicht!!!“
Ein weiteres Kapitel aus dem Buch „Chaos ist ein griechisches Wort“ von Melitta Kessaris, erschienen beim Larimar-Verlag.