Buchtipp: „Scherben vor Gericht“ von Edit Engelmann

Das Scherbengericht

Das „Scherbengericht“ (Ostrakismos, altgriechisch ὁ ὀστρακισμός; früher überwiegend latinisiert „Ostrazismus“) war in der griechischen Antike, vor allem in Athen, ein Verfahren, unliebsame oder zu mächtige Bürger aus dem politischen Leben der Stadt zu entfernen. Der Begriff ist abgeleitet von Ostrakon (τὸ ὄστρακον), Tonscherbe, da Bruchstücke von Tongefäßen als „Stimmzettel“ verwendet wurden. Die Teilnehmer ritzten in die Scherben Namen von unliebsamen Personen ein; nach der Wahl wurde die meistgenannte Person für zehn Jahre verbannt. Der Verbannte durfte seinen Besitz behalten und war auch sonst nicht vollkommen entrechtet.

Unser Buchtipp: Scherben vor Gericht
Ähnliche Verfahren gab es auch in anderen griechischen Städten. In Syrakus benutzte man statt der Scherben Olivenbaumblätter, weshalb man hier von „Petalismos“ (πέταλου, petalon, „Blatt“) – der nach Diodor nur fünf Jahre als Verbannungszeitraum umfasste [1] – sprach.

Im heutigen Sprachgebrauch hat sich Scherbengericht zu einem geflügelten Wort entwickelt, mit dem meist politisch motivierte Aktionen und Methoden bezeichnet werden, mit denen unliebsame oder unbequeme Personen ausgeschaltet werden sollen.

Auszug aus dem Buch: „Scherben vor Gericht“

Es ist der Abend vor dem Nationalfeiertag, als ein seltsam Uniformierter eine ebenso seltsame Einladung an dem Premierminister übergibt: »Nationalfeiertag, Parlament, großer Plenarsaal, 14:30 Uhr. Geheime Sitzung. Ihr Erscheinen wird hiermit angeordnet. – Der Vorsitzende.«

Am Tag darauf findet sich dieser unerwartet vor Gericht: Aus allen Epochen sind Ankläger erschienen, einige in antike Tuniken gehüllt, andere tragen Stock und Gehrock und wieder andere sind in Uniformen gekleidet. Was zuerst wie eine Karnevalsveranstaltung aussieht entpuppt sich als ein längst fälliger Prozess, den sich auch Berühmtheiten wie Zenon, Perikles, Brecht, Keynes, Macchiavelli, und sogar Kaiser Augustus nicht entgehen lassen. Der Premierminister und seine Regierungsmitglieder sitzen auf der Anklagebank.

Ihnen wird der Spiegel ihrer Taten vorgehalten: Das gesamtes Land liegt in Scherben! Wie konnte das passieren? Welche Argumente werden die Angeklagten Minister gegen ihre vorgeworfene Wirkungsweise setzen? Zu welchem Urteil werden die Verfechter von Freiheit und Demokratie aus zwei Jahrtausenden kommen?

Über das Buch: „Scherben vor Gericht“

Edit Engelmann, die seit Jahren in Athen lebt und von der europäischen Politik inspiriert worden ist, erzählt in dieser Volkssatire den Traum eines jeden Bürgers: Politiker die durch Gier und Unverstand regieren zu bestrafen. Ihre Novelle ist ein kritischer Erinnerungsakt an die menschlichen Errungenschaften wie Demokratie, Solidarität, Souveränität, Nationalbewusstsein, soziale Integrität und Menschenrechte – Worte, die in jeder Schule gelehrt werden; Werte, die weltweit propagiert werden, und eine Praxis, der es immer wieder in ihrer Ausübung mangelt.

Über die Autorin

Edit Engelmann 1957 in der Nähe von Kassel geboren, absolvierte ein Marketingstudium. Im Rahmen ihrer beruflichen Laufbahn bei verschiedenen nationalen und internationalen Konzernen reiste sie viel und verbrachte einige Jahre im europäischen und nichteuropäischen Ausland. Heute lebt sie in Athen, sie übernimmt Marketing- und Kommunikationsprojekte auf freiberuflicher Basis, ist Übersetzerin, Autorin und Mutter.

Ein Kommentar

  1. Am 25. Januar hatte ich es ins Regal gestellt. „Scherben vor Gericht“, das Buch einer fiktiven Gerichtsverhandlung, bei dem korrupte, betrügerische Lügenpolitiker so richtig aufs Korn genommen werden. Man musste kein Insider sein, um zu verstehen, dass die in Athen lebende Autorin ihre antiken Ankläger nicht aus dem Norden übernommen hat.
    So, dachte ich damals. Das hat sich überlebt. Politische Satiren sind nie langlebige Bücher. Sie beziehen sich auf ein momentanes Geschehen und wenn dieses vorbei ist, dann ist im Prinzip auch das Leben des Buches vorbei.

    Griechenland hatte gewählt und es war keine der etablierten Parteien geworden. Wie hieß es am Ende des Buches:

    »Es ist schon ein riesiger Fortschritt, dass du dies weißt und sogar zugibst, mein Junge«, antwortete der Hakennasige, und es klang fast ein wenig Zustimmung mit. »Ich hätte nie gedacht, dass die Ankläger in deinem Fall Gnade vor Recht ergehen lassen. Ausgerechnet dich dazu bestimmen, das Ruder wieder herumzureißen …, aber sei’s drum. Du hast wenigstens zu Schulzeiten bewiesen, dass du bereit bist zu lernen. Du weißt, was wirkliches Arbeiten bedeutet, dies entnehmen wir deiner Herkunft. Vielleicht haben die Ankläger recht, und du wirst es wirklich schaffen. Ich bin überaus neugierig, wie du das anstellen wirst. Aber wenigstens steht dir in Zukunft gutes Personal zur Verfügung, wenn du all diejenigen zurückholst, die einstmals ehrlich dem Land gedient haben.«

    Würde der Neue es schaffen? Wird der Augias Stall ausgemistet? Es sah fast danach aus. Der große V-Mann kam mit großem Besen und – dem Establishment gänzlich unbequemen – neuen Ideen. Wirtschaftlich. Sozial. Ökonomisch. Wie im Buch machte der das, dachte ich. Nach der Pax Augusta:

    Ein Staat oder Staatengebilde kann nur funktionieren, wenn seine vier Eckpfeiler beachtet werden: Die Steuern müssen niedrig sein und das Arbeiten muss sich lohnen, die Lenker des Landes müssen ethisch und moralisch einwandfrei sein und wahre Diener ihres Landes. Ferner muss Friede herrschen, damit Handel und Fortschritt gedeihen können. Und nicht zuletzt müssen die Menschenrechte genau wie die Rechte der Natur respektiert werden. Stürzt einer dieser vier Pfeiler ein, verliert das Gebilde seine Stabilität und beginnt zu zerfallen.

    Vielleicht war das BIP wirklich nicht das allein Seligmachende:

    »Ein BIP? Was ist das? Noch so eine Erfindung wie die Märkte? – Und ihr, was seid dann ihr? BIPs? Was esst ihr? BIPs? Wo schlaft ihr? In BIPs? –Ihr habt die Wirtschaft eures Landes so nachhaltig ruiniert, dass sie sich in den nächsten fünfzig Jahren nicht erholen wird; und habt noch die Dreistigkeit, die Zwangsmaßnahmen – lügend – als Rettungspakete zu beschönigen und euch hinter BIPs zu verstecken. Zeig du mir mal so ein BIP und so einen Markt, du Minister.«

    Man dachte, man hätte, man könnte … Mit diesen tröstlichen Gedanken verweilten wir bis zum 15 Juli, als schließlich doch jeder Demokrat Europas begreifen musste, dass ein „Nein“ eben nicht ein „Nein“ ist, sondern bestenfalls ein dem Neusprech zum Opfer gefallenes „JA“ – und gesprochen hatte es die Staatengemeinschaft, die sich auch kein bisschen an den Reaktionen störte:

    »Das ist ja, als ob man Äpfel und Pferdeäpfel zusammen in einen Topf wirft und dann erwartet, dass daraus eine essbare Suppe wird?«
    »Ein Zusammenschluss freier, selbstständiger Staaten – das war einmal. Inzwischen ist es mit der Selbstständigkeit und Freiheit nicht mehr weit her.«
    »Genau, die demokratischen Grundzüge sind bereits verschwunden. Die haben sie den Plutokraten als Leckerbissen zugeworfen. Das Kapital frisst die Demokratie.«
    »Eher umgekehrt, eher umgekehrt. Die Demokratie wirft sich dem Kapital gerade selbst zum Fraß vor.«

    Das ging bis heute so weiter. Nix is mit Ausmisten. Statt dessen wird neuer hereingetragen , in den Stall des Augias.

    Am 20. August gab er auf. Rücktritt. Die Antwort des politischen Establishments folgte auf dem Fuss:

    »Wir können nicht einfach jeden machen lassen, was er will. Wir machen Gesetze, die das Zusammenleben des Volkes regeln und lenken. Wir stehen für eine kontrollierte Demokratie. Und zwar zum Besten des …«.

    Neuwahlen. Diesmal wählen nur die 50 %, die zwischen ja und nein sowieso nicht unterscheiden können, oder denen es egal ist. Es kommen die dran, die vorher auch gelogen und betrogen haben. Das kennt man. Da fühlt man sicher. Bloß keine neuen Lügner … viel zu aufregend. Und nochmal durch so ein Tal der Hoffnung, um dann am Ende des Tunnels zu sehen, wie jemand grinsend das Licht ausknipst. Nee doch. Dann sollen es die eben weitertreiben, die es bisher auch getrieben haben.
    Es bleibt also beim vorgeschriebenen Plan. Von wegen Aus-misten. Aus-terität ist angesagt. Aber Aus-terität ist ja auch so eine Art Aus-Misten, eben nur nicht die Ställe der Großen, sondern den Sparstrumpf der Kleinen. Aus ist aus und weg ist weg. Es geht noch wegger im neuen Memorandum. Noch mehr ohne Versicherung, noch mehr ohne Einkommen, noch mehr Hunger, noch mehr auf der Straße, Noch mehr geschlossene Firmen. Die griechische Wirtschaft erholt sich, wird propagiert.

    An einer Stelle im Buch heißt es:

    Meine theoretischen Ausführungen bezogen sich zwar darauf, dass eine Regierung regulierend eingreifen sollte, um Wirtschaft und Stabilität zu steuern. Allerdings war auch ich es, der darauf aufmerksam machte, dass eine exzessive Sparpolitik unmittelbar in die Rezession und damit direkt in die Katastrophe steuert.

    Aber ja, was machen wir uns darüber Gedanken. Jeder weiß es, jeder Experte pfeift es vom Dach, Griechenland aus dem letzten Loch. Aber so ein bisschen Aus-terität geht doch noch, oder?

    Und was machen die 50%, die nicht gewählt haben? Der große V-Mann redet im Moment über dieselbe Lösung, die ich auch im Buch an einer Stelle gefunden habe:

    »Demokratie und Souveränität müssen neu errungen und die Politik aus den Händen des Großkapitals befreit werden. Dazu bedarf es eines neuen Systems. Ein System, von Menschen kreiert, so wie es immer geschah, wenn ein politisches System fehlschlug. Dann musste das Volk ein neues finden.«
    »Rufst du hier etwa zur Revolution auf?«
    »Keine Revolution, mein Lieber. Man kann die Politik nur innerhalb des Systems schlagen. Ziviler Ungehorsam ist das Wort der Stunde.«

    Im Februar 2016 soll ein neuer Versuch gestartet werden, hat der V-Mann angekündigt. Da habe ich das Buch wieder aus dem Regal genommen. Um nachzulesen. Den alten Stall hat Herkules seinerzeit gerade so geschafft. Mit der neu hereingetragenen Menge wird es diesmal schwierig werden. Selbst für einen griechischen Herkules.

    Oder ruft das Volk als Souverän jetzt doch noch eine Gerichtsverhandlung aus, wie es im Buch die Antiken taten? Wer weiß, vielleicht kommt die Rettich-Strafe doch noch zum Einsatz!

    Er konnte sich noch erinnern an die detaillierten Erzählungen der Lehrer im Geschichtsunterricht: Ehebrechern – den männlichen – wurde zur Strafe ein korinthischer (die Region ist für ihre großwüchsigen Früchte bekannt) Rettich langsam in den Anus geschoben. Öffentlich natürlich, damit jeder zuschauen konnte.

    Manche Bücher verlieren eben nie ihre Aktualität.

    Mitso

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