Von Holger Czitrich-Stahl. Begleiterscheinungen, Teil 40 vom 7. August 2018.
Kretas Süden ist ein Tummelplatz von Gewohnheitstieren.
Diese zoologische Spezies zeichnet sich dadurch aus, dass sie zeitlebens in das Revier ihrer Kreta-Initiation zurückkehrt und dieses Wanderverhalten, das dem Ablagetrieb des Lachses oder der Schildkröte entspricht, an den eigenen Nachwuchs übergibt.
Denn längst finden sich an allen Gestaden Kretas, besonders im Süden zwischen Paleochora, Plakias, Pitsidia, Matala und Ierapetra bis hoch in den Südosten nach Palekastro mehrere Generationen deutscher und anderer Gewohnheitstiere ein, um friedlich und mit den Habitualien der Hippievergangenheit bereichert ihren Urlaub zu verbringen. Seit den „Achtundsechzigern“ kamen schon deren Kinder hierher und diese bringen mittlerweile ihre Jüngsten mit.
Naturgeschichtlich betrachtet gibt es ja die Evolution, die die Arten entstehen und wieder vergehen ließ, bis hin zum heutigen Tage. Aber es gibt auch die Co-Evolution, eine Art erlerntes und weitergegebenes Verhalten, das sich als nützlich bzw. als erfolgreich erwiesen hat und deshalb im Verhaltensrepertoire vieler Menschen aufzufinden ist. Dazu gehören etwa das Grüßen, das gemeinsame Essen, die Formen der (Zusammen-)Arbeit etc. Doch gilt das Prinzip der Co-Evolution auch für das Gewohnheitstier an Kretas Küsten? Gibt es gar ein Kreta-Gen?
Humangenetiker werden diese Frage sicherlich inbrünstig und wissenschaftlich korrekt mit einem NEIN beantworten. Aber wie erklärt sich dann dieses Triebverhalten des Gewohnheitstieres, möglichst alle Ferien auf Kreta zu verbringen, gar noch zu erwägen, nach dem Renteneintritt das gesamte Revier hierhin zu verlagern? Wenn es kein durch die Evolution bedingtes Kreta-Gen gibt, handelt es sich dabei um eine bloße Fiktion?
Wäre es eine bloße Fiktion, so wären die Beobachtungen des Verhaltens falsch. Doch alle Erfahrungen sprechen dagegen. Auch die meinigen. Ernsthaft: Nachdem ich 1987 erstmals auf Kreta war, erschienen mir Jahre später die drei Brüder der Familie, bei der wir untergekommen waren, im Traum und forderten mich auf, zurück zu kommen. Klingt nach Fiktion, war aber ein realer Traum. Seitdem bin ich regelmäßig hier, und es käme mir überhaupt nicht in den Sinn, irgendetwas daran zu ändern. Die nächste Generation ist auch längst infiziert.
Und auch unsere Nachbarn. Demnach ist es kein Virus, denn es macht ja nicht krank, ganz im Gegenteil. Von daher kann man schlussfolgern, dass das Kreta-Gen ein co-evolutionärer Prozess ist, bei dem man in sich aufnimmt und weitergibt, was den unwiderstehlichen Reiz der Insel ausmacht: das Licht, die Nähe von Meer und Gebirge, die Wärme der Luft und der Menschen, die Gerüche, das Entspannte und Zeitlose, die Sperrigkeit allem scheinbar Modernen und dem Hype gegenüber.
Und auch die Kreter verändern sich mit den Gewohnheitstieren, aber nur ein wenig. Doch sollten sie wissen, zu viel schleichende Gentrifizierung könnte dazu führen, dass irgendwann die Kette der Co-Evolution abreißt und das Kreta-Gen verkümmert.
Auch die Hippies und die Studis von damals haben klein angefangen, mit preiswerten Zimmern usw. Selbst wenn viele von uns heute gut situiert sind, unsere Kinder und Enkel können nicht sofort ein Ferienhaus oder eine Villa mieten. Auch sie brauchen Zimmer. Aber ich bin sicher, das wird sich herum sprechen. Und bis dahin genieße ich es, das Kreta-Gen in mir zu tragen!
Und im Übrigen bin ich der Überzeugung, dass der Kapitalismus überwunden werden muss!
Holger Czitrich-Stahl (Geschrieben in Pitsidia/Südkreta)
Mehr von Holger gibt es HIER. Und hier gibt es den Kreta-Virus.