Woran merkt man, dass man im Europa des Jahres 2016 angekommen ist?
Ganz einfach:
Da verschickt man frohen Mutes Einladungen an potentielle Kreta-Lesefestival-Teilnehmer – sowohl Autoren, als auch Besucher, manchmal diese auch in Personalunion… – ist voll in die Organisation desselben eingetaucht und freut sich drauf, vergisst auch gerne mal eigene Sorgen – und dann das!
Eine furchtbar liebe, allerdings auch nicht weniger erschreckende, sehr ehrliche und einen auf-den-Boden-der-Tatsachen-zurückholende Mail einer lieben, uns sehr an´s Herz gewachsenen Freundin aus Athen.
Bei ebendieser handelt es sich um eine österreichischstämmige Witwe eines renommierten, leider bereits verstorbenen griechischen Augenarztes, die in Athen lebt. In der Villa, die ihr Mann Jannis zur Alters- und Nachwuchsabsicherung in den 70-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einem schönen Athener Wohnviertel gebaut hat. Diese Villa hat immobilientechnisch gesehen natürlich einen gewissen Wert – aber dass davon heutzutage irgendjemand profitieren würde, ist leider Utopie.
Denn die zur Linderung der „griechischen Finanzkrise“ neu erfundenen und konsequent erhobenen Immobiliensteuern drücken unserer lieben Freundin leider fast komplett die Luft ab. Den Rest erledigen dann die allgemein erhobenen Steuern, die Einkommensteuer, die dummerweise 300% ihres Realeinkommens beträgt, Sozial- und Krankenversicherung und, nicht zuletzt, die Stromrechnungen, die sie auch noch für die Praxis ihres verstorbenen Mannes und für die ihres Schwiegervaters bezahlen muss.
Zur Veranschaulichung hier ein kleiner Auszug aus besagter Mail:
„Liebe Susanne,
Meine Güte, jetzt ist fast ein ganzer Monat vergangen! Ein Monat, in dem ich mir jeden Tag vornahm, Dir zu schreiben. Aber es ist halt nicht ganz so verlockend, wenn man nichts Wundervolles zu berichten hat. Nein, es ist keine größere Katastrophe passiert, aber es geht mir eben so wie allen anderen Griechen: voll integriert in die Misere. Dabei darf ich mich eigentlich nicht beklagen; beide Kinder haben Arbeit, natürlich im Ausland, und der Winter war nicht besonders kalt, denn das Heizen kann ich mir schon seit 5 Jahren nicht mehr leisten.
Ich zahle nämlich eine wahnsinnige Immobiliensteuer plus Einkommensteuer für das 3-fache meines Realeinkommens – τεκμήριο heißt das. Und der Volksfreund Tsipra hat mir auch gleich noch einen Tausender Steuern aufgeschlagen! Wenigstens habe ich ihn nicht gewählt. Ohne die finanzielle Unterstützung der Kinder könnte ich nicht überleben.
Nun kannst Du sicher verstehen, dass es mir unmöglich ist, zu Eurem schönen Poetentreffen zu kommen :(. Für mich ist schon eine Buskarte in Athen eine Ausgabe, die ich mir überlege. Aber ich will Euch gerne ein paar Bücher schicken, soviele ich eben hier habe.“ (…)
Ganz liebe Grüße an Deine beiden Männer (Jörg und Mitsos), bleibt mir gesund und gewogen!
Alles, alles Liebe, Eure Melitta
Auf meine naive telefonische Nachfrage, wie das denn wohl alles sein kann, erhielt ich folgende Erklärungen:
Einkommensteuer i.H.v. 300% des realen Einkommens: das kann ganz einfach dadurch sein, dass das Einkommen aufgrund des Immobilienbesitzes geschätzt wird. Von daher müsste unsere liebe Freundin ein Mindesteinkommen von 30.000 Euro pro Jahr haben. Hat sie aber nicht – ihr Einkommen beläuft sich auf knapp 10.000 Euro/Jahr. Egal, Steuer muss trotzdem bezahlt werden!
Stromrechnungen für die Praxis ihres verstorbenen Mannes und die des Schwiegervaters: beide Praxen sind stillgelegt und leider – wie auch die von ihr alleine bewohnte Villa (denn beide Kinder leben und arbeiten in Österreich…) – derzeit und bis auf Weiteres unverkäuflich, da keine Käufer vorhanden. Natürlich wird nur die Grundgebühr für den Strom bezahlt, da kein Konsum, aber auch die schlägt natürlich zu Buche. Auf die Frage hin, warum die Energieversorgungsverträge nicht einfach gekündigt werden, bekam ich die Antwort, dass dann im Falle, dass in irgendeiner Zukunft doch noch ein Verkauf stattfinden könnte (die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt!), ein Energieeffizienznachweis fällig wäre. Bei Praxen aus den 1960-er und 1970-er Jahren des 20. Jahrhunderts ein schier unmögliches Unterfangen, will und kann man nicht Tausende von Euros für eine Renovierung aufbringen…. In diesem Falle handelt es sich eindeutig um das „nicht können“!
Wie dem auch sei – wir werden alles daran setzen, dass Melitta am Lesefestival teilnehmen kann – Platz ist in der kleinsten Hütte und so ein Fährticket wird ja irgendwie zu ergattern sein!!!
So, DARAN merkt man, dass man im Europa des Jahres 2016 angekommen ist!
Radio Kreta – manchmal haben wir gar nicht so viele Köpfe, wie wir gerne schütteln würden!
Ein toller Buchtipp: Chaos ist ein griechisches Wort.
Vieles können wir nicht ändern, aber hier lässt sich konkret helfen.
Das mit der Fahrkarte machen wir.
Es ist bezeichnend für unsere Gesellschaft das bei einem Kurseinbruch an der Börse von einer Katastrophe gesprochen wird und die 10.000den von Flüchtlingen lediglich als eine Krise bezeichnet werden.
Heil Dir, Cäsar Kapitalismus
morituri te salutant