Szenen einer Wiedererschaffung
Es war ein mächtiger Bau, der da auf gewaltigen Fundamenten aus dem Berg herauswuchs. Blitzend weiß war die Fassade gekalkt, überragt nur von den ziegelroten Kuppeln der Klosterkirche. Rundum war der Berg durch die Arbeit von Jahrhunderten terrassiert und mit Steinmauern in Felder gegliedert. Hohe Zedern säumten die Auffahrt zur Pforte.
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Mit federnd elastischen Schritten, bestens trainiert durch das tägliche Jogging am frühen Morgen, lief die junge Frau die Straße hinauf bis zum Portal der Klosteranlage. Stephane Atkinson, die kanadische Bildrestauratorin, kam, um nach ihrer Ikone zu sehen. Sie grüßte die zwei Nonnen, die gerade die Beete im Vorhof mit einer Kanne besprengten. Sie überquerte den inneren Hof, ging an dem Brunnen mit dem schmiedeeisernen Aufsatz vorbei und stieg in ihre kleine Zelle hinauf, in der sie ihr Kunstwerk verbarg.
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Auf einer hölzernen Staffelei lag die Ikone, die man ihr anvertraut hatte. Das Bild eines Engels mit goldrot schimmerndem Haar. Es hieß, dass dieses Bild von unendlichem Wert war, dass es Wunder gewirkt habe, seit lang vergangener Zeit. Solches lässt sich freilich nicht mit Verstandeskräften klären. Und niemand darf behaupten, wenn er denn Wunder bestreitet, dass höhere Mächte sich an die Gesetze der Logik halten müssen. Stephane war dies einerlei, sie blickte auf das von den Jahrhunderten zermarterte Holz. Sprünge und Risse durchzogen das Antlitz, die Schichten des Auftrags der Farben waren zersprengt und verworfen; das Gold um das Haupt schon gerunzelt wie uralte Haut. Schwarz starrte der Rahmen, verwittert in Kälte, gesplittert in der Glut vieler Sommer.
»Ich arbeite bis zur untersten Schicht«, erklärte Stephane der Oberin des Klosters, die leise in das Zimmer eingetreten war. »Von dort baue ich auf und heile behutsam die Wunden, Schicht für Schicht. In ein paar Monaten wird man sie so sehen, wie sie einst war.«
Die Äbtissin spürte das Feierliche im Klang dieser Stimme, den Ernst und den Stolz. In so jungen Jahren war Stephane doch schon eine brillante Restauratorin von Ruf.
Noch einmal und immer wieder, fast jeden Tag betrachtete sie die Ikone. Es war irgendetwas Besonderes, was sie in den Bann zog; es war dieses goldgefärbte Leuchten, das aus dem Bild herausstrahlte.
Stephane erklärte sich das damit, dass der Goldgrund der Ikone auf raffinierte und doch ganz einfache Weise die Illusion von Tiefe erzeuge, weil er durch das Geflecht der Haare des Kopfes des Engels hindurchschimmere. Die wohl mehr als zweihundert Pinselstriche, aus denen die Locken geformt waren, waren nämlich mit einem verdickten Aufstrich, einem lang und schmal elliptisch gezogenen Mittelstrich und einem abschließenden sich abermals verdickendem Abschluss zuerst über das Gold gezogen worden. Hernach waren diese Striche in einer, Stephane nicht bekannten, Technik an manchen Stellen in einer solchen Weise lasiert worden, dass eine unwillkürliche Vorstellung eines imaginären Raumes entstehen konnte. Dass der Hintergrund der Ikone zunächst als goldfarben erschienen sei, das habe sie die längste Zeit vermuten lassen, dass die Ikone aus dem Mittelalter stamme, aus der Zeit, da der goldfarbene Hintergrund den Himmel oder das »göttliche« Licht symbolisiert hatte. Dann aber habe sie erkannt, dass sich darunter eine grün-bläuliche Schicht verborgen habe, die klar darauf hindeute, dass diese Ikone sehr viel früher entstanden sein musste.
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Vermutlich stamme sie aus einer abgelegenen Gegend, an der die Wirrnisse der Zeiten einfach vorbeigegangen seien, sodass sie nicht zerstört und gänzlich vernichtet worden sei. Sie könne gar nicht ausschließen, dass diese Ikone sogar schon aus dem siebenten Jahrhundert stamme, da sie in den untersten Schichten ziemlich deutliche Hinweise entdeckt habe, dass die Konturen des außergewöhnlichen Kopfes des Engels in das Holz eingebrannt worden sei. Erst in späteren Zeiten sei wohl die Temperamalerei über die ursprünglichen Linien aufgetragen worden. Später habe man sogar noch mit dem Schnitzmesser in das Bild geschnitten und wie durch ein Wunder die identische Linienführung mit der ursprünglich eingravierten Enkaustik gefunden. »Es ist hier das Arbeiten ganz anders als im Institut in Montreal«, erläuterte Stephane der Äbtissin mit Eifer, »denn dort hatte ich die technischen Einrichtungen, um vor allem mit spektroskopischen Pigmentanalysen die verschiedenen Erdpigmente, wie roter und gelber Ocker, Limonit und Geotit, Siena natur und gebrannt, caput mortuum und Hämatit genau zu untersuchen. Dort konnte ich die verschiedenen Arten von Eisenoxiden analytisch exakt unterscheiden, um solcherart ein besseres Verständnis der Maltechnik der Ikonen zu bekommen«.
Die Oberin hörte ihr aufmerksam zu. »Hier aber«, sagte Stephane mit ganz fröhlichem Blick und zeigte auf die Einfachheit und fast asketische Leere des Raumes der klösterlichen Zelle, in dem sie ohne irgendwelche technische Hilfsmittel arbeitete, »hier aber fange ich ganz von vorne an, so, wie es die Mönche immer schon getan haben.«
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Nach mehreren Monaten, die Stephane bei ihrer Familie und mit Kolleginnen und Freunden in Montreal verbracht hatte, kehrte sie bei sonnig-frischem Wetter schwungvoll in ihr Haus im Süden der Insel zurück.
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Gleich am Tag ihrer Ankunft eilte sie zum Kloster, schritt nach so langer Zeit zum ersten Mal wieder, durch die Pforte und nahm die Stufen hinauf zum Arbeitsraum. Keine Seele begegnete ihr. Das war zuvor nie geschehen. Meist traf sie auf die zwei Schwestern im Garten, und manchmal auf eine andere, die Teppiche webte, und hin und wieder auf eine, die feinste Stickereien schuf. Doch heute war niemand zu sehen. Sie erreichte die Tür, drückte die Klinke, doch die gab nicht nach. Stephane versuchte es noch einmal, fester. Vergeblich. Die Tür war verschlossen. Vielleicht hatte man den Raum abgesperrt, damit kein Unbefugter zur Ikone Zutritt bekäme.
Zögernd ging sie den Gang entlang. All die Türen waren zu, von nirgends war irgendein Laut zu vernehmen. So stieg sie die Treppe zu dem Kontor hinauf, wo die Äbtissin ihres Amtes waltete. Zu dieser Tür, durch die sie nur einmal, als man sie empfangen hatte, geschritten war, ging sie nun zaudernd vor. Ganz plötzlich aber, wie von alleine, ging diese auf. Stephane sah zuerst nur den Arm, der sie hereinwinkte. Stephane kam näher. Es war die Äbtissin, die stumm mit ihrem Arm winkte. Stephane trat ein, drückte sich an der streng blickenden Frau vorbei, stakste zwei Schritte in die Mitte des Raums und blieb dort stehen. Hinter ihr fiel die Tür zu. Die Äbtissin schritt zu ihrem Stuhl. Sie setzte sich, mit Würde und Stolz, ohne Stephane einzuladen, selbst Platz zu nehmen. Stephane kam sich gänzlich verloren vor, als wäre sie angeklagt.
Die Äbtissin sprach zu ihr: »Sie werden die Ikone nicht mehr berühren!« Stephane wagte nichts zu sagen, nur ihr Blick war ein großes »Warum?«
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»Sie waren draussen in der Welt, das verzeihe ich Ihnen. Wer aber draussen ist, wird krank . Es braucht Kraft, um wieder gesund zu werden. Wer aber Kraft nur für sich selbst braucht, hat keine Kraft für die Meditation. Wer nicht meditiert, hat keinen Zugang zum Geist. Wer keinen Zugang zum Geist hat, verliert das innere Bild. Ohne inneres Bild gibt es kein äußeres Bild, das wahr ist. Deshalb können Sie diese Ikone nicht mehr berühren!«
Stephane war entsetzt. Sie sank auf dem nächsten Stuhl nieder. Sie verstand alles. Die Frau hatte Recht. Stephane hatte seit Monaten kaum je an die Ikone gedacht. Sie war mit Anderem, vielem Anderen beschäftigt gewesen. Natürlich wusste sie ganz genau, wie man das Bild restaurieren musste. Sie kannte die ganze Technik. Doch es war wahr, den Geist der Ikone hatte sie nicht. Nicht mehr, vielleicht..
Die Äbtissin hatte Stephane mit Strenge und Intensität observiert. Dann sagte sie: »Ich sehe, dass Sie verstehen. Ich sehe, dass Sie nicht bockig sind. Sie können die Ikone sehen, berühren jedoch dürfen Sie dieses Bild nicht!«
Sie stand auf und wies Stephane mit dem Arm die Tür. Die junge Frau verabschiedete sich, gehorsam, wandte sich um und war im Begriff, den Raum zu verlassen, als sie die Stimme der Äbtissin aufs Neue, sehr sanft vernahm: »Ich werde Ihnen den Weg weisen. Ich werde Ihnen sagen, wann Sie wieder die Kraft haben, dieses Bild zu berühren.«
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Nachdem Stephane aus der Audienz entlassen war, durfte sie wieder in ihr Arbeitszimmer. Ganz in der Ecke des Zimmers im Kloster kauerte stumm ein halbwüchsiges Mädchen. Stephane hatte sie gefragt, wie sie hieße. Doch Antwort hatte sie keine bekommen. Aber es war ihr gleich klar geworden, dass das Mädchen die Aufgabe hatte, sie, Stephane, zu beobachten, damit sie sich nicht an der Ikone zu schaffen machte. So setzte sie sich vor das Fenster und starrte aufs Meer hinaus. Die Oberfläche des Wassers war wie eine Haut gespannt, die See schien träg wie Öl.
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Nach einer Weile stand Stephane auf, um lange die Ikone zu betrachten.
Natürlich wusste sie, was zu tun war, um die Spuren der Zeit zu tilgen. Aufgesprungen, weggesplittert waren ganze Stücke der Farben, Risse zogen sich durch das Holz, arbeiteten ohne Unterlass in den Schichten des Farbauftrags, um bei Hitze, bei Kälte, bei Feuchtigkeit, oder gar bei einem Stoss oder Ruck hier diese unteren Lippen, dort dieses Augenlid zu sprengen.
Wollte sie an die Wurzel des Werks der Zerstörung, dann musste sie selbst manche Stellen wegbrechen, musste an manchem Fleck operieren bis in die Tiefe des Kerns des Holzes. Sie musste vor allem die Aufwerfungen glätten. Das aber hieße, das Bild neu zu schaffen. Aus der Ahnung dessen, was einmal gewesen war.
Sie ging wieder ans Fenster.
Das Meer glitzerte nun in Millionen von Pünktchen, die in unendlich beständiger Bewegung ruhelos aufblitzten und blinkten. Über dem Dach der Blätter des Feigenbaums vor dem Fenster strömte die Helle, die Luft des Meers.
Sie sah wieder die Ikone an. Welche Ahnung hatte sie denn, wie das Bild gemeint war? Mit Staunen fragte sich dies Stephane. Nie zuvor war ihr in ihrer Arbeit solch ein Bangen begegnet. Wie sollte sie etwas wieder erschaffen, dessen Leben ihr gänzlich verborgen war? Sie hätte noch mehr Bücher als ohnehin schon studieren können, doch blieb dies nur Wissen ohne Belang.
In Wahrheit ging es um das Empfinden, das der Meister, der Mönch in dieses Bild gelegt hatte. Wie sollte sie dies je erfahren? Und warum hatte sie nie zuvor sich dieses gefragt? Was nützte die Technik? Die Fertigkeit? Was nützte das Handwerk, was die Routine? Was wollte sie denn damit?
Stephane setzte sich wieder vor die Ikone, die sie nun schon so lange bearbeitete. Sie studierte keine einzelne Linie, keinen besonderen Punkt. Sie staunte, was sie da vor sich hatte. Sie sah etwas mehr, aber sie wusste das nicht.
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Als sie nach ein paar Tagen wieder ins Kloster kam, war Ruhe und Frieden in ihre Seele eingekehrt. Sie war glücklich, die Ikone sehen zu dürfen. Sie spürte großes Vertrauen zur Mutter Äbtissin, die sie leiten würde. Sie betrat das Zimmer, in dem sich die Ikone befand.
Das Mädchen war wieder da. Stephane fiel sofort auf, dass es diesmal eine bunte Weste trug, die gewiss hier im Kloster selbst hergestellt worden war, denn der Orden bildete an alten Webstühlen Elevinnen in der Kunst des Webens aus.
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Stephane sprach zum ersten Mal überhaupt das Mädchen an und bemühte sich zu fragen, ob es diese schöne Weste selbst gemacht habe. Mit einigen von den griechischen Vokabel, die sie tagtäglich lernte und von denen ihr jetzt auch wenigstens ein paar in den Sinn kamen, und mit viel Gestik versuchte Stephane sich verständlich zu machen.
Das Mädchen sah sie mit großen Augen an, deutete dann aber auf ihre Ohren und ihren Mund, schüttelte den Kopf und zuckte mit dem Ausdruck scheuen Bedauerns mit den Achseln. Stephane glaubte zu verstehen. Sie nahm eines von den leeren weißen Zeichenblättern und schrieb darauf, nein malte geradezu in griechischen Lettern die Frage: »Bist du taub? Bist du stumm?«
Das Mädchen nickte eifrig, zeigte dann auf die erste Frage, nickte nochmals, zeigte dann auf die zweite Frage und nickte erneut. Stephane öffnete in einer ganz plötzlichen Aufwallung und mit schmerzendem Leid ihre Arme und drückte das Köpfchen des Mädchens an sich. . Sie nahm wieder das Papier und schrieb: »Wie heißt du?« Das Mädchen schrieb »Sotiria«. Stephane nahm wieder das Blatt und schrieb, »Du hast einen schönen Namen!«
Es war in der Tat ein ungewöhnlicher Name. Sotiria freute sich sehr, als sie las, dass Stephane ihr Name gefiel und schrieb als Antwort: »Ich weiß, dass Sie Stephane heißen. Auch das ist ein schöner Name!« Jetzt mussten die beiden lachen.
Auf diese Weise erfuhr Stephane nach und nach, dass Sotiria aus Naxos kam, dass sie keine Mutter mehr und auch keinen Vater mehr hatte, dass ihr Vater zur See gegangen und dabei ums Leben gekommen war, dass ihre Mutter bei einem Autounfall auf Naxos ihr Leben verloren hatte, dass die Verwandten sie hierher in die Sfakia ins Kloster gebracht hatten, und dass es ihr hier sehr gut gefalle.
Das Mädchen fragte, ob es ein weißes Blatt nehmen dürfe und darauf zeichnen und vielleicht auch malen dürfe. Stephane schrieb ihr und gestikulierte dazu, dass sie sich freue, dass sie, Sotiria, zeichnen und malen wolle. Sie gab ihr das Blatt, legte es auf den Tisch, bereitete ihr ein paar Bleistifte, einen Radiergummi und ein paar Wasserfarben vor, die sie, Stephane, zeitweise dazu verwendete, kleine Aquarelle, sozusagen als Lockerungsübungen zwischendurch herzustellen.
Sotiria setzte sich zum Tisch und begann gleich mit Eifer, eine Zeichnung anzulegen. Stephane hingegen nahm sich einen Stuhl, stellte ihn ans Fenster, setzte sich und blickte aufs Meer hinaus. Endlich schreckte Stephane hoch und stand auf. Sotiria saß immer noch an ihrem Tisch und blickte Stephane verträumt an.
Stephane bemerkte jetzt, dass Sotiria ein Bild gemalt hatte. Schon als sie es vom Fenster aus sah, dachte sie, dass dies erstaunlich war, dass ein Mädchen von elf Jahren in so kurzer Zeit ein so großes Format bewältigt hatte. Sie trat näher heran und war gänzlich überrascht. Sotiria hatte die ganze Zeit Stephane mit großer Spannung angesehen. Stephane nahm ein Blatt Papier. Sie schrieb. »Sotiria, mein Schatz! Du hast ein sehr schönes Bild gemalt! « Als das Mädchen diese Zeilen las, fiel sie sofort Stephane um den Hals. Sotiria nahm das Papier und schrieb. »Liebe Stephane, ich möchte Ihnen das Bild gerne schenken.«
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Es waren doch wieder zehn Tage vergangen, bis Stephane erneut ins Kloster kam. Und so, als wäre sie immer, die ganzen Tage hier gewesen, saß Sotiria auf ihrem Stuhl und malte. Von Stephane fiel sofort alle Bangigkeit der letzten Tage und Nächte ab. Ja auch der Nächte, denn bis in ihre Träume hatte sie ein bedrückendes Gefühl belastet.
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Sotiria freute sich, Stephane wieder zu sehen, und schien es als ganz normal zu empfinden, dass diese kam oder wegblieb, wie sie wollte. Stephane zeigte Sotiria die Kollektion von zwölf bunten Wachskreidestiften, die sie mitgebracht hatte. Sie deutete dem Mädchen, doch einmal damit ein Bild zu versuchen. Sie selbst setzte sich vor die Ikone und verfiel in wenigen Minuten, ohne dass sie die Anwesenheit von Sotiria noch wahrnahm, in eine gänzlich ausgeglichene Ruhe ihrer Seele, wie sie schon seit langer Zeit Derartiges nicht verspürt hatte.
Dann lenkte sich ihr Blick hinaus auf die Klippenberge. Sie brauchte lange, um sich von diesen Bildern zu erholen. Es war dunkel im Klosterhof. Sie ging hinaus auf den Parkplatz vor dem Gebäude. Rundum war die Nacht eingebrochen. Ein verwirrendes Firmament flimmerte über ihr.
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Auf einem zu einer Plattform sich erweiternden Treppenabsatz vor dem Kloster explodierten zwei Mimosenbäume in dichten gelben Rispen. Die dunkle Zeit war vorangeschritten, die helle nicht mehr weit. Stephane war nun fast jeden Tag im Kloster. Sie liebte es, bei der Ikone zu sitzen, Sotiria immer einen kleinen Schritt weiter in ihren Bemühungen zu bringen, und vor allem, sich den wunderbaren Phantasien hinzugeben, die sie dort fast wie eine Droge zu sich nahm.
An einem dieser Tage kam die Äbtissin herein. Sie schritt auf Sotiria zu, die so sehr in ihre Zeichnung vertieft war, dass sie nicht einmal aufsah. Sie sah sich das Bild sehr lange und genau an. Sotiria blickte zu ihr auf. Die Äbtissin strich ihr sanft über das Haar.
Dann ging sie hinüber zu Stephane. »Ich weiß, mein Kind«, sagte sie zu der jungen Frau, »dass Du jetzt alles verstehst, was uns diese Ikone bedeutet. Du wirst jetzt das tun, was Du fühlst. Ich weiß es, dass Du verzweifelt warst, und ich weiß, dass Du jetzt glücklich bist!« Sie streichelte lange und sanft Stephanes Kopf, die von einem so unfassbaren Gefühl der Wärme und Geborgenheit überschwemmt wurde, dass sie zu weinen begann und nicht aufhören konnte zu weinen.
Die Äbtissin blieb die ganze Zeit bei ihr, bis sich die Gefühle der jungen Frau wieder langsam und behutsam beruhigt hatten. Als die Äbtissin das Zimmer wieder verlassen hatte nahm Stephane einen speziellen Marderhaarpinsel, tauchte ihn in eine Flüssigkeit, die sie nur ganz selten verwendete, und trug sie mit unendlicher Sorgfalt genau und exakt an jenen Rissen auf, die tief in die Farbe bis ins Holz drangen. Es gab Hunderte solcher Risse, es war die Arbeit von vielen, vielen Stunden.
Es war die Konsequenz einer Entscheidung. Es wäre Blasphemie gewesen, diese Ikone so zu restaurieren, wie es Stephane immer getan hatte. Bislang hatte sie Ikonen immer als Kunstwerke erlebt und ihre Aufgabe darin gesehen, sie möglichst im Sinne des originalen Zustandes wieder herzustellen. Jetzt aber war es kein Kunstwerk. Jetzt war es ein Wunder.
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Was sie konnte, war, dieses Wunder zu retten. Sie konnte nicht etwas nochmals in den Zustand versetzen, in den hinein es geschaffen worden war. Sie konnte die Wunden pflegen. Sie konnte den Schmerz der Jahrhunderte besänftigen. Sie konnte Balsam in die Risse träufeln. Während sie so mit voller Konzentration arbeitete, gingen ihr seltsame Gedanken durch den Kopf, und berührten ihre Seele. Wie viele Wolken zogen über das Firmament, als Stephane darüber meditierte!
Draußen zog indes ein Sturm auf. . Hüt´ dich, wenn die Gischt dich vollstäubt! Halt´ dich fest, bleib stark! Einmal vom Sturm gefasst reißt wuchtig die Gewalt dich fort und schlägt dich in zwei Stücke!«
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Über all die Berge trug sie das Automobil. Vorbei an den Feldern, auf denen die Schafe friedvoll standen und sich an würzigen Kräutern labten, vorbei an den Klippen, an denen die Flut sanft sich brach, vorbei an den Tavernen, in denen ein frohes Volk aß und trank. Bis hin zum Kloster und hinein in den Vorhof brachte sie das Gefährt. Dann stieg sie aus, hinein in die Nacht der Wunder und Zeichen.
Die Gänge und Treppen waren dunkel und hell doch zugleich. Die Schritte lenkten sie zum Saal des Gebets. Von dort tönten Gesänge aus allen Zeiten, zusammen verschmolzen in eine Musik, die man immer schon hörte und nie noch hatte so gehört. Ein Arm, eine Hand winkte ihr. Mit pochendem Herzen trat sie ein. Es war die Äbtissin, die sie an den Händen nahm. »Fürchte dich nicht!«, sagte sie zu ihr, »es ist ein Wunder geschehen.«
Ringsum im Raum knieten alle die Nonnen im Schein eines Lichts, das von nirgendher kam und überall war. Zauberkraft drückte Stephane in die Knie. Es hob sich ihre Kopf, sanft wie in Daunen gedrückt. Stephane sah und sah mit Augen groß und dem Wunder geweitet. Sie sah die Ikone! Alles Licht kam aus der Ikone!
Hinter dem Bild des Engels, unter all den Schichten der Farbe strahlte ein Licht, das alles durchdrang und mit Leben erfüllte, das sich zugleich verbarg. Flammen, die leuchten und niemand sieht. Der Widerschein feurig und flackernd und ruhig doch zugleich. Schimmernder Glanz des Goldes aus kupferner Feuerwand, purpurnes Leuchten feuriger Kohlen. Girlanden des Lichts aus der Ferne. Diamantene Risse und Fugen, Blitze stahlweiß. Das Diadem des Rubins auf blutroten Lippen.
Stephane machte nur eine Bewegung, da hielt schon die Mutter des Klosters an ihr. »Berühre nichts, meine Tochter, und du wirst alles erahnen, was dich jetzt und immer bestimmt!« Aus einer Ecke sprach eine Stimme »Wir dürfen es ahnen! Glücklich, wer dieses Bild uns erschuf! Die Äbtisin pries diesen Tag der Wunder von Freundschaft und Liebe. »Zwei Brüder, seit Jahren in Hass zueinander«, verkündete sie, »wurden Brüder heute, nach so langer Zeit wieder Brüder!«
Und von manchem Ereignis noch sprach sie. »Männer und Frauen, die ihre Söhne und Töchter mit dem Holzprügel schlugen, verbrannten dies Holz und der Rauch, der aufstieg, war wie der Balsamduft!« Dann stand die Äbtissin auf und zugleich erhoben sich alle. »Noch ein Wunder in unserer Mitte bringt uns große, sehr große Freude!«, verkündete sie.
Die Äbtissin gab Sotiria, die unter den Nonnen gekniet hatte, ein Zeichen. Sotiria erhob sich und schritt langsam auf Stephane zu. Sie verneigte sich vor ihr. Und plötzlich, für Stephane ganz und gar unbegreiflich, sprach Sotiria:
»Stephane, ich danke Ihnen von meinem innersten Herzen! Hören Sie! Hören Sie! Ich kann wieder sprechen und ich kann wieder hören! Mein Gehör, meine Sprache wurden mir wieder geschenkt! Ich danke Ihnen, denn Sie haben so große Geduld mit mir gehabt! So stark haben Sie mich gemacht, dass ich alles bewältigen konnte, was mich stumm und taub gemacht hat!«
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Dies alles sagte Sotiria in einem ganz erlesenen Französisch, in Stephanes Muttersprache. Stephane umarmte Sotiria, und die beiden vergossen Tränen der Glückseligkeit. Alle im Raum waren tief bewegt von diesen unglaublichen Dingen, die da geschahen. Dann aber ergriff die Äbtissin das Wort. »Wir werden diese Ikone noch in dieser heutigen Nacht an einen Ort verbringen, nicht fern von hier, und doch niemandem zugänglich. Dort werden wir sie für eine sehr lange Zeit wegschließen.«
Die Nonnen, Sotiria, und Stephane schauten erstaunt auf, als sie dies hörten. »Kinder, meine Kinder«, aber sprach die Äbtissin zu ihnen, »wir alle auf dieser Insel durften vom Glücke kosten!. Hört Ihr! Wir durften vom Glücke kosten!« Ein Raunen des Zustimmens ging durch den Raum. Voll Güte und dennoch bestimmt beschloss die Äbtissin die Rede. »Mehr von diesem Glück wäre zu viel für uns!«
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