Von Holger Czitrich-Stahl
„Eleftheria i thanatos – Freiheit oder Tod!“ Der Kampf der Griechen um ihre Unabhängigkeit 1821-1830. Historische Notiz 84 vom 21. Juni 2011.
Während diese Zeilen verfasst werden, ringt der Staat der Hellenen um seine Existenz. Jahrzehntelange Misswirtschaft und der verbreitete „Nepotismus“, bei uns mit „Vetternwirtschaft“ übersetzt, aber auch die latenten strukturellen Probleme der griechischen Ökonomie führten das Land an den Rand des Abgrundes. Die von der EU, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfond aufgenötigten Sparprogramme als Preis für die finanzielle Unterstützung des Landes leiteten bereits nach kürzester Zeit die Massenverarmung der „kleinen Leute“ und des Mittelstandes ein. Griechenland steht, so wollen es die EU-Privatisierungspläne, vor dem Ausverkauf an das internationale Großkapital. Eine Schande für dieses stolze Volk.
Kein Wunder, dass es im Lande gärt. Nicht nur die politischen Kräfte links von der sozialdemokratischen PASOK, die Erfüllungspolitik den neokolonialen Geldmächten gegenüber betreibt, also die KKE, die SYRIZA, die ihnen nahe stehenden Gewerkschaften, die Anarchisten des „Kommenden Aufstandes“ machen gegen die verordnete Ausplünderung Griechenlands mobil, auch die „empörten Bürger“, also Menschen des Mittelstandes. Viele sind Anhänger der liberalkonservativen Nea Demokratia, die ebenfalls über lange Jahre den Nepotismus nährte. Doch die nationale Rechte der LAOS möchte ebenfalls ihr schwarzbraunes Süppchen auf der Krise kochen.
Das Land steht unmittelbar vor einer revolutionären Lage. Die Herrschenden können kaum noch so handeln, wie sie es ferngelenkt sollen, die Beherrschten sind noch nicht stark genug, den Herrschenden ihren Willen aufzuzwingen. Doch immerhin musste Georgios Papandreou sein Kabinett umbilden, was allerdings ein Stoß ins Leere bleiben wird. Die Nagelprobe wird im Juli kommen, wenn das Land dringend neue Finanzhilfen benötigt. Ob Papandreou dann noch Ministerpräsident sein wird darf durchaus bezweifelt werden. Stürzt er, werden sich einige Fragen neu stellen, auch die der Zugehörigkeit zum Euro und die des Schuldenerlasses. Eine aufgezwungene Sparpolitik, wie sie in Deutschland nach 1930 zum Hitlerfaschismus führte, wird Griechenland kaum stabilisieren. Die Hauptfrage wird sein, ob es den wie immer zerstrittenen Griechen gelingt, sich wie so oft in existenziellen Krisensituationen zusammenzuraufen und dann auch zu siegen. Dass sie es können haben sie mehrfach unter Beweis gestellt und, ganz nebenbei bemerkt, den Rest der sie umgebenden Welt gerettet: Marathon 490 vor Christus, als die übermächtigen Perser vernichtend geschlagen wurden, 480 vor Christus in der Seeschlacht bei Salamis gegen den gleichen Aggressor. Ein weiteres Beispiel für die Losung „griechische Einigkeit macht stark“ liefert der Blick in die Zeit der Gründung des neugriechischen Staates im frühen 19. Jahrhundert, exakt vor 190 Jahren. Blicken wir also zurück.
Die „Mutter aller Revolutionen“, also die Französische Revolution von 1789-1794, stand Patin hinter den Unabhängigkeitsbestrebungen auch anderer Völker des Kontinents. Schon 1800 lösten sich die Ionischen Inseln von Venedig und proklamierten die „Republik der Ionischen Inseln“ mit Sitz in Korfu-Stadt. Russen, Franzosen und Briten protegierten diesen neuen Inselstaat, der zwischen 1807 und 1815 zum napoleonischen Herrschaftsbereich gehörte und nach dem Wiener Kongress 1815 unter die britische Schutzherrschaft gestellt wurde. Eine führende Rolle in diesem Staatswesen nahm der spätere griechische Präsident Graf Ioannis Kapodistrias (1776-1831) ein. Sein politisches Handwerk erlernte Kapodistrias, der im Oktober 1831 ermordet wurde, als Diplomat in russischen Diensten. (1)
Mit der Ausrufung der Republik der Ionischen Inseln jedenfalls erlangte ein kleiner Teil des griechischen Volkes erstmals seit Jahrhunderten wieder Rudimente von Staatlichkeit.
Der Blick der Griechen richtete sich vor allem auf St. Petersburg. Natürlich spielte dabei eine gewichtige Rolle, dass sich das faktische Machtzentrum der christlichen Orthodoxie seit 1453 nicht mehr in Konstantinopel, sondern in Russland befand. Auch strategische Interessen brachten das Zarenreich an die Seite der unter dem Osmanischen Reich lebenden Griechen. Katharina die Große versuchte in den Jahren 1769-1771, der „Hohen Pforte“ in Istanbul die Meerenge der Dardanellen zu entreißen. Auf dem Peloponnes und auf Kreta brachen Aufstände gegen die Osmanen aus, wobei die aufständischen „Klephten“ („Banditen/Spitzbuben“) auf die Unterstützung durch die russische Seite hofften. Doch diese blieb aus und die Aufstände wurden blutig niedergeschlagen. (2)
Die Idee der nationalen Souveränität aber bestand fort und wurde in politischen Geheimgesellschaften weiter gepflegt. Die bekannteste unter jenen ist die Filiki Etairia (Eteria): „Sie wurde 1814 von den griechischen Kaufleuten Emmanuel Xanthos, Athanasios Tsakaloff und Nikolaos Skoufas in Odessa (in der heutigen Ukraine) gegründet. Die Filiki Eteria war eine vorwiegend aus Personen des Bürgertums bestehende Organisation; Nicht wenige ihrer Mitglieder bezeichneten ihre Berufe als Kaufleute. Neben diesen wurden aber auch viele Vertreter des Kleinbürgertums wie beispielsweise Handwerker, Kirchenpersonal niederen Ranges (einfache Priester) und Lehrer. Sie gewann aufgrund ihrer Zielsetzung einer griechischen Republik viele – auch (später) bekannte – Mitglieder. Im Gegensatz zum osmanisch besetzten Griechenland war das griechische Bürgertum in den „Auslandskolonien“ wie beispielsweise Odessa politisch erheblich aktiv.“ (3)
Man plante schließlich für 1821 den Aufstand an drei verschiedenen Punkten, als Datum wurde der 25. März festgesetzt. Das Signal gab der Erzbischof von Patras, Germanos, durch Glockengeläut. Auf dem Peloponnes führten Theodoros Kolokotronis, der „Alte von Morea“ und Petros Mavromichalis die Truppen der Rebellen an und belagerten die türkische Festung Tripolitza. Nach der Eroberung der Festung mussten die osmanischen Truppen zurückweichen, so dass sich in Epidauros mit seinem monumentalen antiken Theater die erste griechische Nationalversammlung der Neuzeit konstituierte. Sie wählte den Fürsten Alexander Mavrokordates zum ersten Präsidenten eines griechischen Rumpfstaates auf dem Festland. (4)
Weniger glücklich verlief der Aufstand in Konstantinopel und in der Walachei. Der Patriarch von Konstantinopel wurde von osmanischen Soldaten erhängt, sein Nachfolger musste auf politischen Druck der Hohen Pforte die Revolution verurteilen. Ebenso scheiterte der Versuch des vormals als Flügeladjutant in russischen Diensten stehenden Alexandros Ypsilantis (1792-1828), von Odessa aus mit einem Freiwilligenheer in den rumänischen Donaufürstentümern der Walachei und Moldawiens eine antiosmanische Revolte zu organisieren, da man irrtümlicherweise auf die Verbundenheit der Rumänen mit den Griechen setzte. Doch schnell erwies sich diese Strategie als Fiasko, so dass Alexandros Ypsilantis nach Wien fliehen musste, wo er 1828 starb. (5)
Nach den Niederlagen im Osten und in Konstantinopel verblieb den Aufständischen lediglich der Peloponnes auf Herrschaftsgebiet. An dieser Lage änderte sich bis 1825/26 nichts Grundlegendes. Jedoch führten die von Griechen vollzogenen Vertreibungsaktionen gegen die türkische und muslimische Bevölkerung und gefangene Soldaten, aber auch antijüdische Ausschreitungen zu fürchterlichen Massakern auf beiden Seiten der Kriegsparteien. So ermordeten auf der Insel Chios osmanische Soldaten den Patriarchen Gregorius, indem sie ihn „in vollem Ornat nach Beendigung einer Messe…am Mitteltor seiner Kirche“ aufknüpften und dann den Leichnam ins Meer warfen. (6) Auf der Insel Kreta folgte 1824 ein weiteres furchtbares Massaker in der Höhle von Melidoni, als osmanische Truppen dreihundert Flüchtlinge tagelang in der Höhle belagerten und schließlich ausräucherten. Nach achtzehn Tagen Belagerung der Höhle wagten es die Belagerer schließlich, einen Blick auf ihr Todeswerk zu werfen. (7)
Den Osmanen kam zugute, dass sich die Griechen schnell wieder uneins wurden. Die einfachen Leute des Peloponnes erblickten in Kolokotronis und Kapodistrias ihre Anführer, während die Vertreter des Adels und des Bürgertums sich an den europäischen Mächten orientierten und Mavrokordates und Georgios Konduriotis unterstützten. Der alte Haudegen Kolokotronis wurde nach innergriechischen Scharmützeln 1825 gefangen genommen und vier Monate auf der Insel Hydra festgesetzt.
Auch die Interessen der internationalen Großmächte standen in einem Gegensatz zum griechischen Drang nach Unabhängigkeit. Russland, das das Osmanische Reich geschwächt wissen wollte, um die Dardanellen an sich zu reißen, unterstützte zwar seine Glaubensbrüder in Hellas, blickte aber mit Misstrauen auf die Idee einer nationalen Revolution, war es doch selbst ein ausgemachter Vielvölkerstaat unter russischer Knute, ein „Völkergefängnis“, wie es später die Sozialisten nannten. England wollte kein derart geschwächtes Osmanisches Reich, dass Russland die Handelsrouten im östlichen Mittelmeer und am Schwarzen Meer unter ihre Kontrolle bringen könnte. Frankreich blickte argwöhnisch auf die britische Konkurrenz, die in ihren Augen den Hauptvorteil aus einer Schwächung der Hohen Pforte ziehen könnte. So beließ man die Dinge bis 1825/26 in einer Art Hängepartie, in der die Griechen zu Schachfiguren gemacht zu werden drohten.
Die Wende bahnte sich auf Kreta an. 1822 wurde die Insel als Dank für die Unterstützung an den ägyptischen Vizekönig Mohamed Ali (Mehmet Ali) übertragen. Dieser entsandte 1825 seine Flotte und ein 10.000 Mann starkes arabisches Expeditionskorps auf den Peloponnes, das unter dem Kommando seines Sohnes Ibrahim stand. Jener war von französischen Offizieren ausgebildet worden und verstand sich bestens auf das Kriegshandwerk der Europäer. Er vereinigte seine Truppen mit denen der Osmanen und eroberte die Festung Navarino zurück. Dorthin, in das heutige Pylos, verlegte er sein Hauptquartier und begann die Rückeroberung des Peloponnes.
Dies rief nun die europäischen Großmächte auf den Plan, die ein um Griechenland verstärktes Ägypten fürchteten. Begleitet wurde das europäische Eingreifen im Mittelmeer von einer Welle des Philhellenismus, die schon seit 1821 den Unabhängigkeitskampf der Griechen begleitete. Dichter wie Lord George Byron kämpften mit der Waffe an der Seite der Aufständischen, der bekennende Philhellene starb im April 1824 in Messolongi an Fieber. Doch so sehr der Philhellenismus das Eingreifen Frankreichs, Englands und Russlands auf der Seite der Griechen begünstigte, so misstrauisch betrachteten ihn sie konservativen herrschenden Eliten: „Der Freiheitskampf der Griechen und seine Befürworter stärkten die im Kampf um eine Verfassung und einen Nationalstaat unterlegenen Liberalen, begründeten eine europäische „Hoffnungsgemeinschaft“ der Reformwilligen und kräftigten die Solidarität europäischer Völker. Wer in Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder Rußland innenpolitischen Fortschritt, Verfassung, Freiheits- und Menschenrechte anstrebte, richtete den Blick nach Griechenland.“ (8) Der österreichische Staatskanzler Metternich zum Beispiel forderte in diplomatischen Briefen, dem politischen Philhellenismus Einhalt zu gebieten und sich auf die humanitäre Hilfe zu beschränken.
Doch die Würfel waren 1827 zugunsten einer Intervention gefallen. Im Juni 1827 einigten sich England, Frankreich und Russland im Londoner Abkommen darauf, offizielle Beziehungen zu den Aufständischen aufzunehmen. Gleichzeitig forderten sie einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zwischen Griechen und Osmanen, nicht ohne eigene Interessen durchsetzen zu wollen. Diese Absicht machten die drei Mächte am 20. Oktober 1827 vor Navarino unmissverständlich deutlich. Eine gemeinsame Flotte unter dem Befehl der Admiräle Codrington, de Ringy und von Heyden kreuzte an diesem Tag in der Bucht von Navarino auf. Ihren 27 Kriegsschiffen standen 89 Schiffe der ägyptisch-türkischen Flotte gegenüber. Als noch verhandelt wurde, löste sich wohl versehentlich ein Kanonenschuss auf türkischer Seite. Die Alliierten feuerten zurück und versenkten mehr als 50 Schiffe der eingeschlossenen ägyptischen Flotte, 6000 Soldaten fanden den Tod.
Am Ende dieses Blutvergießens stand die geöffnete Tür zur griechischen Unabhängigkeit. Der russisch-türkische Krieg von 1828-1830 zwang schließlich das Osmanische Reich zum Nachgeben. Am 3. Februar 1830 sowie in einem Nachtrag 1832 bestimmte das Londoner Protokoll die Proklamation eines Königreiches Griechenland, dessen Territorium auf den Peloponnes, Attika, Böotien und Akardien sowie die kykladischen und sporadischen Inseln beschränkt blieb. Die Ionische Republik schloss sich erst 1864 mit Griechenland zusammen. Hauptstadt wurde zunächst Nauplia auf dem Ostpeloponnes. Die Großmächte übergingen allerdings die Souveränitätswünsche der Hellenen und bestimmten den bayerischen Prinzen Otto zum König der Griechen, der bald die Hauptstadt nach Athen verlegte. Da er aber absolutistisch zu regieren dachte und den Griechen eine Verfassung verwehrte, wurde er 1843 durch eine Revolte dazu gezwungen. Nach einem Militärputsch 1862 jedoch musste der Wittelsbacher nach Deutschland „ins Exil“ gehen, wo er 1867 in Bamberg starb.
Schon damals zeigten die europäischen Mächte die Neigung, nicht mit Griechenland gemeinsam zu entscheiden, sondern über es hinweg. Sollte die „Troika“ aus EU, EZB und IWF ebenfalls die nationale Souveränität der stolzen Griechen weiterhin so missachten, wird ihnen eines nicht allzu fernen Tages das gleiche Schicksal drohen wie den Osmanen oder König Otto. Philhellenen, die den Interessen des Großkapitals und der Geldhaie humanistisches und völkerverbindendes Gedankengut entgegenzusetzen vermögen, gibt es auch weiterhin auf der ganzen Welt. Denn Europa bedeutet mehr als die EU und den €uro, also der Inkarnationen der politischen und ökonomischen Interessen der herrschenden Klassen des Kontinents. Europa bedeutet eine Idee des Völkerfriedens und der gemeinsamen Herkunft und Kultur. Wenn die Griechen sich aus diesem Würgegriff des Finanzkapitalismus retten können, tun sie Europa einmal mehr einen ungeheuren Gefallen.
Anmerkungen:
1) http://de.wikipedia.org/wiki/Ioannis_Kapodistrias, Zugriff vom 20. Juni 2011
2) Am bekanntesten ist der Aufstand des Daskalojiannis auf Kreta, siehe dazu Holger Czitrich-Stahl,
Der Inbegriff des kretischen Freiheitswillens. Über den Aufstand des Daskalojiannis 1770/71, in:
Von Abendroth bis Zoologie Band 5, Selbstverlag 2009, S. 141ff
3) http://de.wikipedia.org/wiki/Filiki_Eteria, Zugriff vom 20. Juni 2011
4) H.-P. Siebenhaar, Peloponnes, Ebermannstadt 1986, S. 176
5) Ferenc Majoros/Bernd Rill, Das Osmanische Reich 1300-1922, Wiesbaden 2004, S. 316
6) Bernd Sösemann, Annäherungen an Hellas, Band 1, Berlin 1994, S. 54
7) Ralph- Raymond Braun, Kreta, Rielasingen 1987, S. 122f
8) Sösemann, a.a.O., S. 58