Gerd Höhler erklärt, wie die Griechen wirklich sind: stolz, freigiebig, rebellisch – und durch die Krise verängstigt.
Was schätzen die Griechen?
Auf die Frage, was ihm am wichtigsten sei, wird jeder Grieche ohne zu zögern antworten: „Meine Freiheit!“ Freiheitsdrang war die treibende Kraft des Aufstands gegen die türkischen Besatzer Anfang des 19. Jahrhunderts. Freiheit, nämlich eine demokratische Verfassung, trotzten sie ihrem ersten (deutschen) König ab, dem Wittelsbacher Otto I. Und was den Griechen ihre Freiheit wert ist, erfuhren auch die deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkrieges – fast nirgends waren sie mit so erbittertem Widerstand konfrontiert wie hier. Gerade weil sie ihre Unabhängigkeit wertschätzen, trifft die Schuldenkrise die Griechen ins Mark. Finanzminister Giorgos Papakonstantinou sagt: „Wer Schulden hat, ist nicht mehr frei.“
Welches Verhältnis haben die Griechen zum Geld?
Ein sehr entspanntes. Das ist einerseits sympathisch: Die Griechen sind freigiebig. Nie wird ein Grieche zulassen, dass ein Ausländer, mit dem er ins Restaurant geht, die Rechnung bezahlt. Auch für Bettler greifen die meisten Griechen gern in die Tasche. Die Kehrseite: Viele haben in den vergangenen Jahren über ihre Verhältnisse gelebt. Der Euro war dabei eine große Verführung. Denn während es zu Zeiten der inflationären Drachme kaum Möglichkeiten des Ratenkaufs gab, lockte die Gemeinschaftswährung mit niedrigen Zinsen und billigen Darlehen. So hat sich die Summe der Verbraucherkredite seit Einführung des Euro verfünffacht.
Wie rebellisch sind die Griechen?
Dass in manchen Griechen ein erhebliches Potenzial an Anarchie schlummert, hat man während der schweren Krawalle vom Dezember 2008 gesehen, die eine Reaktion auf den Tod eines 15-Jährigen durch eine Polizeikugel waren. Damals gingen Dutzende Geschäfte und Bankfilialen in Flammen auf. Viele fragen, ob der Sparkurs der Regierung ähnlich gewalttätige Reaktionen auslösen könnte. Dafür gibt es bisher keine Anzeichen. An militanten Protesten sind meist wenige hundert überwiegend kommunistische Gewerkschafter und Trittbrettfahrer aus der Chaotenszene beteiligt. Die meisten Griechen sind angesichts des drohenden Staatsbankrotts ganz einfach zu verängstigt, um sich aufzulehnen.
Wie europäisch sind die Griechen?
Als Griechenland 1981 der EWG beitrat, sprachen viele europäische Politiker von der „Heimkehr Europas zu seinen Wurzeln“. Das schmeichelte den Griechen. Sie fühlen sich aber auch überfordert, wenn man ihr Land als „Wiege der Demokratie“ bezeichnet und sie in die Ahnenreihe ihrer antiken Vorfahren stellt. An den politischen und gesellschaftlichen Bewegungen, die Europa prägten wie die Renaissance oder die Französische Revolution hatten die Griechen, die von Mitte des 15. bis Anfang des 19. Jahrhunderts unter der Türkenherrschaft lebten, fast keinen Anteil. Griechenland liegt also geisteswissenschaftlich an der Peripherie Europas. Vielleicht hat hier deshalb die Idee einer engen politischen Union Europas besonders viele Anhänger.
Haben die Griechen den Euro überhaupt verdient?
Sie selbst meinen: Ja. Sie haben vor zehn Jahren alles darangesetzt, in die Eurozone aufgenommen zu werden – mit geschönten Statistiken, wie viele Europäer sagen, was in Athen energisch bestritten wird. Inzwischen meinen manche Griechen allerdings, der Euro habe sich letztlich als Fluch erwiesen. Denn während die Griechen in den 80er und 90er Jahren durch schleichende Abwertungen der Drachme Exporte und touristische Dienstleistungen verbilligen und so wettbewerbsfähig bleiben konnten, leiden sie nun unter dem teuren Euro.
Lassen die Griechen es sich auf Kosten Europas gut gehen?
So lautet ein gängiges Vorurteil. Die Realität sieht anders aus. Tatsächlich liegt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit mit 41,6 Stunden deutlich über dem EU-Durchschnitt (37,4 Stunden). Die Griechen gehen auch nicht früher in Pension: Das mittlere Renteneintrittsalter liegt mit 61,4 Jahren genau im EU-Durchschnitt. In Deutschland sind es 61,7 Jahre. Die Griechen verdienen auch weniger als der durchschnittliche EU-Bürger: Das Lohnniveau liegt bei 73 Prozent, die Renten sogar nur bei 55 Prozent des EU-Durchschnitts. Jeder vierte Grieche verdient weniger als 750 Euro im Monat, jeder fünfte Haushalt lebt unterhalb der Armutsschwelle. Andererseits genossen die rund 800000 Staatsbediensteten bisher viele Privilegien – einschließlich der Möglichkeit, mit Mitte 50 in den Ruhestand zu gehen.
Wird der Grieche ein anderer als vor der Krise sein?
Er ist es eigentlich schon jetzt: Die Krise wirkt wie ein Schock. Das traditionelle griechische Wirtschaftsmodell, in dessen Mittelpunkt der Staat als Arbeitgeber stand, funktioniert nicht mehr. Denn dieser Staat ist jetzt pleite. Auch in der politischen Kultur wird diese Krise ihre Spuren hinterlassen: Die Zeiten des Klientelwesens, als Politiker Wählern Posten im Staatsdienst zuschanzen konnten, dürften vorbei sein.
Quelle: Frankfurter Rundschau
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Gerd Höhler (* 1949 in Wuppertal) ist ein deutscher Journalist und Autor.
Höhler studierte Publizistik, Germanistik und Soziologie in Münster und Köln
Er begann seine berufliche Laufbahn als Reporter, Redakteur und Moderator beim Westdeutschen Rundfunk. Ab 1977 war er als Korrespondent im WDR-Hauptstadtstudio Bonn tätig.
Seit 1979 lebt Höhler in Athen. Er arbeitet als Korrespondent für Griechenland, die Türkei und Zypern für mehrere deutsche Tageszeitungen, darunter die Frankfurter Rundschau, die Zeit, die Stuttgarter Zeitung und das Handelsblatt.