Wie war das mit der Feuerzangenbowle….?
© Edit Engelmann, 2015
Unsere Schüler von heute kennen sie nicht. Weder die Feuerzangenbowle noch das, was die Schüler darin im Unterricht durchnahmen.
Manche unserer heutigen Schulabgänger haben vielleicht – also ganz vielleicht – was von Plato gehört, so als Schüler von Sokrates und Lehrer von Aristoteles mal kurz im Geschichtsunterricht gestreift. – Aber wer weiss schon, wie wichtig Plato überhaupt für die Schule war. Kein Einer! Ohne ihn gäbe es nämlich gar keine Schule und somit auch keine Lehrer, die man ärgern könnte. Erfunden hat das Schulsystem nämlich … richtig! Die Griechen waren es, und zwar die Athener. Natürlich gab es vorher schon Unterricht. Kinder wurden wahrscheinlich schon in der Steinzeit in nützlichen Fähigkeiten unterrichtet und einige durften auch in Sumer und Ägypten schon schreiben lernen. Allerdings führte erst Plato im 4. Jahrhundert vor Christi den ersten zusammenhängenden Lehrkursus ein.
Übrigens bedeutete „σχολή“ (altgr: Schule) im griechischen ursprünglich einmal „Nichtstun, Freizeit – das Ausnützen der freien Zeit, um etwas Wichtiges damit zu tun“. Was also heißt, dass die alten Griechen der Meinung waren, Freizeit könne ohne weiteres sinnvoll und schön mit Lernen ausgefüllt werden. Und wer guckt immer dumm, wenn ich ihm sage, dass Schule schön ist? Freizeitähnlich? – Mein Sohn! Sie können es einfach nicht glauben, die Kinder.
Schule in der in unseren zivilisierten westlichen Kulturen hat sich seit der „Feuerzangenbowle“ und meiner Schulzeit in der Tat mächtig geändert. Ganz zu schweigen von den Zeiten Platos, der in einem dem griechischen Helden Academos (daher auch Akademie) geweihten Olivenhain saß und schulte. Diesen teilte er sich übrigens mit einer Gruppe FKK-Anhänger, die sich daneben in einem öffentlichen „Gymnasium“ fit hielten. Das machte man damals nackelig, weil Turnvater Jahn die kleinen schwarzen Knickerbocker noch nicht erfunden hatte.
Schule heute ist meiner bescheidenen Meinung nach einem Slapstick-Theater nicht unähnlich. Diese Entwicklung wurde begleitet mit einem Boom in der Hausaufgabenbetreuungsindustrie. Es wäre ja einmal interessant zu untersuchen, wer welchen Boom verursacht und welche Bewegung in Gang gesetzt hat. Aber an dieser Stelle ist das müßig. Jedenfalls sind Schulaufgaben heute ohne intensivste Nacharbeit zu Hause wohl nicht mehr zu bewältigen.
Sprachen lernen
Sprachen lernen, zum Beispiel, ist eine sehr interessante Angelegenheit. Neuerdings müssen Kinder Sprachen irgendwie inhalieren – jedenfalls Grammatik wird nicht mehr gelehrt. Vokabelhefte und -bücher gibt es auch nicht mehr. Das steht jetzt alles auf so verklebten, eingerissenen und verkrumpelten Fotokopien. Und das auch nur in einer Sprache. Die andere muss man sich dazu denken. Oder die andere klassische Version: Vokabeln werden von der Tafel (bzw. dem „WhiteBoard“, denn eine Tafel gibt es heute auch nicht mehr) irgendwie mitten in einen Ordner auf ein schon halb rausgerissenes Papier abgeschmiert – und dann inklusive Schreibfehlern gelernt, falls überhaupt lernen angesagt ist. Üben aus den Büchern kann man auch nicht mehr, denn dazu bräuchte man eine CD, die es aber nur in der Schule gibt. Und spätestens, wenn die Kinder anfangen müssen, Sätze zu bilden, haben wir das Dilemma. Das klingt dann wie die SMS-Version von Comic-Strips: Hpf! W8. Lol. GLG … usw.
Intermezzo
Ma‘ha‘m – das langgezogene Maam hat meistens zu bedeuten, dass Junior etwas will, was eigentlich nicht direkt zu Mamas Aufgabenbereich gehört. So auch in diesem Falle. Maham sollte nämlich bei den Hausaufgaben für Englisch helfen. Man las gerade mit Engagement das Tagebuch der Anne Frank. Und die Hausaufgabe lautete, aus insgesamt 120 Seiten 20 vorgegebene Worte herauszusuchen und deren Bedeutung aufzuschreiben. Na, also, die Bedeutung der Worte raussuchen – das schaffst Du doch wohl selbst! _ Ja, Junior nickte. Das habe er bereits getan. Aber jetzt müsse er alle 120 Seiten nochmal lesen. Tränen schossen ihm in die Augen. Das dauere ja Stunden und außerdem fände er das ganze extrem unfair und insgesamt auch eine ziemlich nutzlose und irrelevante Hausaufgabe. Ehrlich gesagt konnte ich da nicht einmal widersprechen. Ein Drittel eines Buches von einem Abend auf den Folgetag auf 20 Worte durchzuscannen entspricht auch nicht unbedingt meiner Vorstellung einer sinnvollen Beschäftigung mit der englischen Literatur, was „das Tagebuch der Anne Frank“ ja nun streng genommen auch gar nicht ist. Englische Literatur, meine ich.
Wie dem auch sei. Gemacht werden musste das ja nun mal. Sohnemann hatte noch ungefähr 2 Stunden andere Hausaufgaben zu erledigen. Um 5 Uhr endlich von der Schule zurück, schon eine Stunden Aufgaben hinter sich – und danach noch Buch scannen. Ehrlich gesagt fand ich das auch zu viel. – Ok. Ich lese und gucke! –
Ein dicker Kuss zur Belohnung mit einem erleichterten „Mum, Du bist die Beste!“ und Ma‘ha‘m saß da mit Buch am Küchentisch und scannte mit ihrem eingebauten automatischen Texterkenner. Das Ganze war gar nicht so einfach. Nach einer Weile verschwimmen die Buchstaben vor den Augen und man überliest die Worte, die man suchen und finden wollte. Also, die alte Technik der Korrekturleser hervorgeholt und die Seiten von unten nach oben rückwärts gescannt. Dann ergibt das Gelesene keinen Sinn und die Chance, Tippfehler als auch Worte zu erkennen und zu registrieren erhöht sich drastisch. Trotz meiner intensiven Anstrengungen konnte ich allerdings nur 70% der Worte finden, was die Lehrerin am nächsten Tag kommentierte mit der Bemerkung, es handele sich wohl um eine andere Übersetzungsausgabe des Buches als die begleitende Sekundärliteratur, die sie zur Hausaufgabenstellung zur Hilfe genommen habe. Ich hab daraufhin beschlossen, den Englischunterricht für das laufende Jahr nicht mehr ernst zu nehmen.
Immerhin hat dieses Intermezzo dazu geführt, dass ich erstmals das Tagebuch der Anne Frank – wenn auch nicht in der Originalsprache, so doch zumindest beinahe zur Hälfte rückwärts gelesen habe, und erstaunlicherweise sogar weiß, was in dieser Hälfte ungefähr drin steht. Vielleicht sollte ich Bücher in Zukunft rückwärts lesen, so als Gehirnjogging.
Letztes Jahr habe ich als freiwillige Mutter bei der Vorbereitung zur Weihnachtsschulfeier geholfen. Eine ganz besondere Erfahrung. Seitdem weiß ich auch, wieviel Glück ich hatte, den Berufswunsch meines Vaters für mich nicht erfüllt zu haben. Er wollte partout, dass ich Lehrerin werde – wegen der vielen Ferien und so. Dem Himmel sei Dank, dass das seinerzeit nicht geklappt hat. Die Geduld, die bei heutigen Schulklassen vonnöten ist, würde ich beileibe nicht aufbringen.
Die kommen und gehen, wann und wie es ihnen passt. Die Höchststrafe nach etlichen gemütlichen Runden beim Deputy-Direx ist es, dass sie zwei Tage nicht in die Schule „dürfen“. Nicht schlecht, so zwei Tage Extraferien, oder? Dreht sich die Lehrerin um, wird der Stinkefinger in die Luft geworfen oder die Jungens befummeln sich an ihren männlichen Dekorationsteilen. Es stört sie bei dieser Tätigkeit auch keineswegs, dass Mädchen oder andere Erwachsene anwesend sind. Dafür gibt es irgendeinen psychologischen Ausdruck. Meinem hätte ich die Leviten verlesen, der hätte sich in Zukunft psychologisch anders ausgedrückt als mit Sackkratzen. Den Lehrer kann man in dem ganzen Tohuwabohu sowieso nicht mehr verstehen – ab und zu schlägt er mal wütend mit der flachen Hand aufs Klavier – dann drehen sich gelangweilt so ein paar Figuren um und blicken böse ob der Störung.
Zwischendurch bringt noch ein anderer Lehrer zwei Bengel vorbei, die sich zusammen aufs Klo eingeschlossen hatten. Es war gar nicht richtig aufgefallen, dass die in der Klasse gefehlt hat. Warum sie nicht am Unterricht teilnahmen und was sie auf den sanitären Anlagen zusammen in einer Kammer gemacht hatten? Als Antwort erhält man gelangweiltes Schulterzucken. Da ist die Stunde aber schon halb vorbei und die andere Hälfte verbringt die Lehrkraft dann beim Direx, um die Strafe der Klogänger festlegen zu lassen. So geht auch diese Stunde schön vorüber, ohne dass sie vom Lernen unbotmäßig überschattet gewesen wäre.
Schulstunden sind weit entfernt von Ruhe und Ordnung. Es komme schon mal vor, dass zwischendurch Schüler aufstehen und mal eben die Wände mit Graffiti besprühen, sagt mein Sohn. Die müssten dann einen Aufsatz schreiben – was sie aber auch nicht täten. Warum er eigentlich keine Graffitti sprühen dürfe?
Das eine Mädchen hat die Angewohnheit, allen Mitschülern im Vorbeigehen eine Backpfeife zu geben. Ach, dann ducke er sich eben, sagt mein Sohn. Er kenne das ja inzwischen. Zwei andere Damen haben vor kurzem beschlossen, dass sie mit der Französischlehrerin nicht mehr sprechen – also überhaupt nicht mehr, auch nichts berufliches sozusagen.
Die Mathematiklehrerin hat mir im Lehrer/Elterngespräch erklärt, mein Sohn habe so eine bestimmte, allerdings gänzlich andere Form des Denkens. Zuerst habe ich mich erschreckt. Was meinte sie? Hatte ich nun einen kleinen Einstein? Oder das Gegenteil? – Da käme sie nicht mit, erklärte sie. Sie habe auch keine Idee, wie er die Mathematikaufgaben lösen würde. Sie wären zwar richtig, aber er mache das so anders. Ich habe mir daraufhin mein altes Schulbuch herausgesucht (die Neuen kann ja keiner mehr begreifen) „Rechnen in der Mittelstufe“ – sicher ist sicher.
Sohnemann ist jetzt einer der wenigen, der die Prozentrechnung beherrscht – auch wenn seine Lehrerin nicht versteht, wieso er es kann und der Rest der Klasse nicht. Und hoffentlich, so meinte sie, bekomme er da später nicht mal Probleme mit. Ob diese gegebenenfalls rechnerischer, politischer oder psychologischer Art sein könnten, führte sie nicht weiter aus. Ehrlich gesagt hatte mich inzwischen auch der Mut verlassen genauer nachzufragen.
So übe ich denn mit Sohnemann Rechnen, Biologie, Physik, Chemie, Musik, Literatur und Schreiben (stimmt, ich bin Hausfrau oder besser gesagt Haushaltsmanager mit Nebentätigkeiten im medizinisch-edukativ-psychologischen Bereich) – Boss ist zuständig für Geschichte – die Freundin des Hauses für Französisch – die Nachbarin für Griechisch, und über Englisch machen wir uns derzeit keine Gedanken. Da lesen sie sogenannte Kurzgeschichten, die sich nur auf Grund der Buchstaben von Hieroglyphen unterscheiden, deshalb aber nicht weniger unverständlich sind. Und da wird dann reininterpretiert, was das Zeugs hält. Jeder Autor wäre ob seiner beim seinerzeitigen Schreiben gänzlich unbeabsichtigten Genialität verblüfft.
Aufsätze und dergleichen sind auch nicht mehr modern. Jedenfalls nicht deren schriftlicher Erguss, an dem wir uns früher so oft und viel versuchen mussten. Heute bekommen Schulkinder so einen Fetzen liniertes Paper mit eingeschrumpelten Ecken.
Darauf müssen inhaltliche Fragen mit einer Kurzantwort als neumodischer Bulletpoint beantwortet werden. Die Scharfschützen unter den Kindern antworten mit einem gezielten Ja oder Nein. Entsprechend sehen dann auch mal richtige Schreibversuche aus. Wenn der Computer keine Autokorrektur hätte … mal ganz abgesehen davon, dass logische Abfolge, komplette Satzkonstruktionen, nachvollziehbare Argumentation und dergleichen allesamt offensichtlich Relikte der Vergangenheit sind. Das übt man heute nicht mehr. Modern ist alle vier Monate ein Essay von rund 300 Worten, an dem der Lehrer dann zusammen mit dem Schüler wochenlang an durchnummerierten „drafts“ bastelt, bis Lehrer und Schüler die ursprüngliche Aufgabenstellung über der Anzahl der Berichtigungen vergessen haben. Also übe ich jetzt mit Sohnemann zu Hause, wie man etwas logisch aufs Papier kriegt, was dann vorzugsweise auch noch wie ein Brief, Bericht oder eine Erzählung aussieht.
Zu Weihnachten haben wir eine Serie CDs gekauft mit klassischen Stücken. Der Herr Sohn hat einen Faible für Shakespeare und zwar insbesondere die Dramen. Jedenfalls seit er darüber mal ein Comicbuch mit flachen Witzen gelesen hat. Eine vorrübergehende Anwandlung, die man als edukativ-interessierte Mutter sofort nutzen muss. So haben wir von Zeit zu Zeit einen Klassik-Abend mit Popcorn vor’m Heimkino, als anspruchsvolle Abwechslung zu Teletubbies und Schwammkopf – direkt nach den Simpsons und South Park kann er dann in eine Welt eintauchen, in der Sprache noch als Kunst und als Mittel zum Amüsement und vor allen Dingen zur Verständigung gebraucht wurde.
Weit entfernt von dem heute gebräuchlichen kommunikativen Entertainment, das vorzugsweise laut und sprachlich rudimentär ist. Ab Dezember, haben wir verabredet, muss er jeden Monat einmal gute Musik von einem guten Komponisten hören und sich über diesen Komponisten auf dem Internet informieren. Erst hat er gemault. Wäre nicht modern, kein Rap und kein HipHop und wer will denn heute noch wissen, was eine Fuge ist. Als er allerdings hörte, dass auch Freddy Mercury sozusagen ein Nachfahre von Bach ist und auf dessen Harmonien zurückgreift, war das ganze schon etwas interessanter. Zu unserer Freude haben wir festgestellt, dass die Vier Jahreszeiten ihm gefallen haben und der junge Mann Melodien aus Peter und der Wolf pfeift. Wir haben auch versprochen, dass wir dies keinesfalls seinen Kumpels erzählen. Müsste er sich ja schämen, der Kerl.
Ein schwieriges Kapitel also , wenn man heute seinem Kind eine vernünftige und zukunftsorientierte Ausbildung ermöglichen will. Wenn Plato gewusst hätte, was das für die Mütter bedeutet, hätte er es sicherlich nicht als Freizeitbeschäftigung bezeichnet.
Wie war die Frage? – Nein, der Sohnemann geht nicht auf eine besondere Schule. Das ist alltäglicher Pisa-Wahnsinn. Mad Max läßt grüssen. Wieso wundern wir uns heute eigentlich, dass unsere Kinder Macchiavelli für eine Spaghettisauce halten und Voltaire für den Erfinder von Solarpanels?
Eure Edit
Beim Lesen musste ich sehr oft schmunzeln und der Wiedererkennungsfaktor war nicht zu verleugnen. Was musste ich mir vor über 10 Jahren von der Grundschullehrerin unseres jüngsten Kindes anhören, als sie erfuhr, dass meine Frau und ich ihn das kleine Einmaleins auswendig lernen ließen. „Mathematik“ muss Spaß machen“ argumentierte die Lehrerin. Spaß hatte mit oder durch Mathematik keines unserer 3 Kinder, auch wenn sie in Mathe sehr wenig Probleme hatten. Und weil sie auch heute noch die Frage nach 6 * 7 usw. wie aus der Pistole geschossen beantworten können und bei Fragen nach der Summe von 1,99 + 1,98 im Kopf mal eben 2 + 2 minus 0,03 und nicht 9 + 8 gleich 7 und 1 im Sinn, 9 + 9 plus 1 aus dem Sinn … usw. rechnen, glaube ich fest daran, dass an tradierten Lernmethoden nicht viel falsch sein kann.