Von Kaki Bali, Le Monde diplomatique Nr. 9982 vom 14.12.2012,
Thessaloniki im Winter ist ohnehin eine melancholische Stadt, die Stimmung mutet eher balkanisch an als mediterran. Grau und Mattsilber sind ihre dominanten Farben: dunkle Wolken über dem meistens aufgewühlten Meer. Dazu feuchte Kälte und verdreckte Luft.
Der Dreck kam früher von den Abgasen der Autos, die in der Innenstadt für einen Dauerstau sorgten. Heute stehen viele dauerparkend am Rand der schmalen Straßen, weil Benzin für ihre Besitzer unbezahlbar geworden ist. Die Luft in diesem Winter stinkt anders. Früher heizten die meisten Haushalte mit Heizöl. Das ist im Oktober um 50 Prozent teurer geworden, deshalb riecht Thessaloniki im November 2012 wie das winterliche Berlin der 1980er Jahre: nach Briketts.
Über Wochen roch es noch strenger, nachdem die Müllmänner lange gestreikt hatten, um gegen die Kürzung ihrer Gehälter und Entlassungen zu protestieren. In den Straßen wuchsen die Müllberge, an denen die Menschen einfach vorbeiliefen, als ob der Dreck verschwinden würde, wenn man ihn lange genug ignoriert.
Nachts sind die meisten Wohnviertel stockfinster. In den Straßen sind viele Leuchtkörper ausgefallen, weil die Stadtkasse kein Geld mehr hat, um die kaputten Lampen zu ersetzen. Selbst der weihnachtliche Lichterschmuck in der Stadtmitte wirkt dieses Jahr funzelig und stimmt eher melancholisch – als ob die wenigen leuchtenden Sterne fehl am Platz wären. Nur die Platia Aristotelous, der große, ovale Platz im Zentrum von Thessaloniki, hat sich auch im dritten Winter der Krise ihre fast aristokratische Schönheit bewahrt: ein hinreißendes Ensemble aus dem silbernen Meer, dem weißen Marmor der neoklassizistischen Gebäude und der römischen Ruinen.
Die Stimmung der Menschen ist düster wie die unbeleuchteten Straßen. Wenn man einen Bekannten auf der Straße trifft, sagt man auf Griechisch: „Ti kanis?“, wie geht’s? Zu normalen Zeiten ist das eine reine Floskel, und die Antwort lautet routinemäßig: „Danke, gut.“ In den Tagen der Krise ist die Frage ernst gemeint, und man bekommt eine persönliche und meist sehr ehrliche Antwort: „Sehr schlecht, ich finde keinen Job“, oft auch: „Ich komme gerade so durch.“ Oder im besten Fall: „Ich habe wenigstens noch meinen Job. Und Gott sei Dank werde ich noch bezahlt.“
Der zweite Satz ist längst nicht mehr selbstverständlich. Wer als Arbeitnehmer noch regelmäßig Lohn ausbezahlt bekommt, kann sich glücklich schätzen. Zwei oder drei Monate Verzug gelten als erträglich, wenn es länger dauert, wird die Lage verzweifelt, häufig für die ganze Familie. Dennoch arbeiten die meisten Leute unbezahlt weiter, denn wer den Job verliert, findet keinen anderen.
In Thessaloniki begann die Krise schon lange vor der Krise. Bereits in den 90er Jahren verschwand die Industrie. Fast alle Textilfabrikanten zogen nach Bulgarien, wo niedrige Löhne, niedrige Steuern und große Gewinne lockten. Zur selben Zeit starb auch die längst moribunde Tabakindustrie. Immerhin erlebte damals die Dienstleistungsbranche einen kleinen Boom, hinzu kam eine ganze Reihe von Infrastrukturprojekten: der Bau einer U-Bahn-Linie wurde begonnen, Straßen wurden ausgebaut, Glasfaserkabel verlegt.
Und viele Leute konnten noch mit einer Stelle im öffentlichen Dienst rechnen. Wer das nicht schaffte, machte ein Café auf oder eine Kneipe oder eine Boutique. An keinem Ort der Welt gibt es so viele Cafés pro Einwohner wie in Thessaloniki; daher der Name „die Stadt des Frappés“. So heißt bei uns der aufgeschäumte, kalte Kaffee, der überall im Sitzen, Stehen oder Liegen geschlürft wird. Vor allem von den vielen Studenten, von denen es – bei zwei Universitäten und einer Fachhochschule – etwa 100 000 in der Stadt gibt.
Aber dann bekam Athen die Olympischen Spiele für 2004 zugeschlagen, und seit den späten 1990er Jahren flossen fast alle öffentlichen Gelder nur noch nach Athen. Hier in der Stadt eine Arbeit zu finden, wurde immer schwieriger. 2008, ein Jahr vor Beginn der Krise, lag die Arbeitslosenquote im Großraum Thessaloniki schon bei 17 Prozent, mehr als doppelt so hoch wie im griechischen Durchschnitt. Die Kaufkraft sank entsprechend, Geschäfte machten reihenweise dicht. Es begann mit den Möbelläden, dann schlossen viele Boutiquen auf der Vassilissis Olgas, der Hauptstraße im Osten der Stadt. In letzter Zeit haben auch viele Kaufhäuser in der Stadtmitte aufgegeben, wie auch fast jedes dritte Einzelhandelsgeschäft. Tausende Verkäuferinnen haben ihren Job verloren.
Und die Infrastrukturprojekte? Die Egnatia, die griechische Hauptautobahn, die von Westen bis zur türkischen Grenze nach Osten führt, wurde vor der Krise gerade noch fertig. Aber der Bau der U-Bahn geriet ins Stocken, heute liegen die Bauarbeiten still. Eigentlich sollte die geplante U-Bahn-Linie 2010 in Betrieb gehen; dann wurde es 2012, jetzt verspricht die Regierung die Fertigstellung bis 2016. An den Termin glauben nicht einmal die Baustellenleiter, die schon seit Monaten nicht mehr bezahlt werden. „Eher 2026, wenn es überhaupt was wird“, meinte einer von ihnen neulich bei einer öffentlichen Versammlung im Rathaus.
Aber selbst der Busverkehr ist gefährdet. Seit Anfang des Jahres bekommt die lokale Busgesellschaft keine Zuschüsse mehr vom Verkehrsministerium; jetzt hat sie kein Geld mehr für den Sprit und droht, die Busse im Depot zu lassen. Die Millionenstadt ohne öffentliche Verkehrsmittel ist ein Albtraum. Am Tag, als die Nachricht auf den Titelseiten der – sterbenden – Lokalzeitungen stand, diskutierten die Leute vor den Kiosken, empört und verzweifelt.
In der Regel bleibt die Verzweiflung stumm. Man kann sie täglich sehen: an den gesenkten Köpfen der Passanten, am fehlenden Lächeln. Aber man hört sie selten. Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Regierung, gegen die immer neuen Sparmaßnahmen, gegen die Troika gibt es fast jeden Tag, es sind ein paar tausend Leute. Die große Mehrheit bleibt zu Hause, verstört und traurig und voller Angst. Viele reden sich noch ein, dass die Krise ein langer Albtraum ist, aus dem sie irgendwann erwachen. Und alles ist genauso wie früher.
Doch in dieser kollektiven Depression gibt es auch Lichtblicke. Die kräftigsten Zeichen der Hoffnung setzen die vielen lokalen Solidaritätsinitiativen, an denen immer mehr Leute teilnehmen.
Ein Beispiel ist die Sozialklinik von Thessaloniki. Gegründet wurde sie vor sieben Jahren von linken Ärzten, die sich um kranke Migranten ohne Papiere kümmerten. Die Krise machte diese bescheidene private Institution zu einer wichtigen Anlaufstelle für alle, die keinen Zugang mehr zu den staatlichen Krankenhäusern haben: legale Migranten, einheimische Arbeitslose ohne Krankenversicherung, viele Rentner. Seit einem Jahr machen immer mehr Freiwillige mit. Fast 150 Ärzte, Zahnärzte und Krankenschwestern leisten ein- bis zweimal die Woche eine volle Schicht. Ausgebildete Ingenieure, die keine Bauaufträge mehr bekommen, halten das Sekretariat zwanzig Stunden am Tag geöffnet. Die Fanklubs der Fußballvereine Paok und Iraklis sammeln Medikamente für die Apotheke der Sozialklinik; eine krebskranke Zahnärztin hat der dentistischen Abteilung ihre ganze klinische Ausrüstung überlassen.
Die Sozialklinik erfährt so viel Unterstützung, dass sie das Projekt der ganzen Stadt zu sein scheint. An einem Montagabend im Olympion, dem größten Kinosaal der Stadt, geben vier alte Rocker um die 60 ein Solidaritätskonzert. Die Band nennt sich The Presidents und besteht aus gestandenen Professoren, die alle mal Rektoren ihrer Fakultät waren. Sie mimen Jimi Hendrix und spielen Led Zeppelin, der Saal ist voll, eine Mischung aus akademischer Nomenklatura, Studenten, Schülern und ganz normalen Fans von Rockmusik. Die Akustik ist lausig, aber die vier spielen wirklich gut. Und das Beste kommt zum Schluss: „Always look at the bright side of life“. Ein Schuss Optimismus – das, was hier jeder braucht. Sogar ältere Leute im Anzug summen mit, der ganze Saal lächelt. Und die Kasse stimmt. Fast 4 000 Euro haben The Presidents am Schluss gesammelt und auch noch ein paar Freiwillige rekrutiert, die in der Sozialklinik mitarbeiten wollen.
Aber die freiwilligen Ärzte kennen ihre Grenzen. Entzündungen, Knochenbrüche, faule Zähne, da können sie helfen. Aber Krebs? Was passiert, wenn ein Krebspatient keine Krankenversicherung mehr hat, kein Geld und keine Familie? Neulich erzählte mir Katharina, eine befreundete Ärztin, die in einem Bewilligungsausschuss der staatlichen Krankenkasse IKA sitzt, eine Horrorgeschichte. „Vor dem Ausschuss erschien eine 40-jährige Frau, kahl nach einer Chemotherapie. Sie hatte keine Perücke, nicht mal ein Tuch auf dem Kopf. Junge Frauen behalten ja immer einen Rest Eitelkeit, egal wie krank sie sind, aber die war am Ende.“
Als der Ausschuss sie für drei Monate in den Krankenstand schicken wollte, brach sie in Tränen aus. „Sie bat uns, sie gesundzuschreiben. Sie müsse dieses Jahr unbedingt noch zehn Tage arbeiten, sonst hätte sie keine Versicherung.“
Kaki Bali ist freie Journalistin in Thessaloniki und Mitarbeiterin der linken Tageszeitung „Avgi.