Ein Portrait: Nikos Samartzidis, von Peter Völker.

Nikos Samartzidis: Die mykenische Linear-B-Schrift in ein künstlerisches Licht gesetzt

Von Peter Völker

Dem jungen britischen Architekten Michael Ventris gelang 1952, was Archäologen in aller Welt über Jahrzehnte Kopfzerbrechen bereitet hatte: die Entschlüsselung der Schriftzeichen auf Tontäfelchen aus der mykenischen Blütezeit.

Erst seine geistige Leistung erhellte die mykenische Kultur, denn auf den in Knossos, Pylos, Mykene und Theben ausgegrabenen tönernen Dokumenten, die in der Stunde der Zerstörung der Paläste zufällig gebrannt wurden, offenbarte sich eine vielschichtige Gesellschaft, die bis etwa 1200 v. Chr. ihre Macht und ihren Glanz entfaltet hatte, bevor das s.g. dunkle Zeitalter danach über 400 Jahre lang jegliche Schrift vom griechischen Boden verschlang. Der griechische Künstler Nikos Samartzidis, vom Mythos der Schrift fasziniert und infiziert, reichert nun diesen uralten „Schatz“ der mykenischen Archäologie und Mythologie mit einer neuen Dimension an: der Bildenden Kunst und setzt in seinen Gemälden ein neues Licht auf die einst geheimnisvollen Silbenzeichen. Dabei transkribiert er nicht nur archaische Texte, beispielsweise von Homer, sondern auch moderne Lyrik in die Linear-B-Schrift.

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Kretischer Wind

„Linear-B…ist….das wichtigste einheimisch-europäische Schriftsystem, das vor der Einführung alphabetischer Schreibweisen aus Kleinasien in Gebrauch war. Es ist gleichzeitig die einzige Silbenschrift für eine bekannte europäische Sprache“, merkt Harald Haarmann in dem Werk „Universalgeschichte der Schrift“ an. Nikos Samartzidis, der bescheidene, freundliche und tiefsinnige Mensch, hat diese mykenische Schrift als archäologischer Laie erlernt und tauscht seine Erkenntnisse und sein künstlerisches Schaffen inzwischen mit führenden Mykeneforschern aus, so beispielsweise mit Prof. Tom Palaima von der Texas-Universität in Austin, in dessen Fakultäts-Flur auch die Bilder aus Rüsselsheim hängen, wo der Künstler heute lebt (http://www.utexas.edu/research/pasp/news.html). „Der griechische Kunstmaler vereint in seinen Werken zeitgenössische Lyrik mit der Zeichensprache der mykenischen Silbenschrift zu einem gestalterischen Spiel fesselnder Formenmagie“, schreibt der Hanauer Kunstmaler Yochen Schwarz. Und der Kunsthistoriker Dr. Peter Forster analysiert seine Werke wie folgt: „Für ihn lebt nicht nur die Erinnerung der alten kretischen Schriften weiter, sondern dieses Vermächtnis ist ein Katalysator seiner heutigen Arbeiten.“

Von der chinesischen Kaligrafie zu Linear-B

Der Maler und Kunstpädagoge Justus Schmalhausen interpretiert die Linear-B-Werke von Nikos Samartzidis „wie Ausgrabungen archaischer Funde aus einer sagenhaften Zeit“. Und in einem Beitrag für das „Rüsselsheimer Echo“ schreibt der Journalist Peter Thomas: „Nikos Samartzidis macht den Betrachter seiner Bilder zum Archäologen, zum Enträtsler kryptischer Botschaften: Die schiere Schönheit der Schrift ist das erste, was die archaisch wirkenden Kunstwerke von sich preisgeben. Aber so tief, wie die Narben, Schnitte und Riefen in die Farbe schneiden, so tief gewährt der Künstler Einblicke in die Bedeutungsschichten seiner Arbeiten. Die Bildprogramme frühantiker Schriftkultur, die Geschichte der Lyrik, Kalligrafie und Poetik sind Facetten in Samartzidis Bildern“…“ Die vorherrschende Farbe der Oberfläche wirkt verwittert, von Sonne und Jahrhunderten ausgebleicht, scharfe Risse erzählen vom Schicksal der Texttafeln im Strudel der Zeit“.

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„Transkription „Labyrinthoio Potnia“ (86×144 cam; Text nach Jiannis Ritsos.

Seinen Weg zum Erlernen und Umsetzen der Linear-B-Schrift in Gemälde hat Nikos Samartzidis über einen Umweg gefunden: die chinesische Kaligrafie, mit der er sich früh beschäftigte. Aber irgendwann besann sich der Künstler auf seine Identität, seine Wurzeln, beschäftigte sich zunächst mit dem altgriechischen Alphabet, um letztendlich zu seiner heutigen Leidenschaft, der alten mykenischen Schrift zu finden.

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„Transkription zu Nestor-Text von Homer“ (50×170).

Die Stille zum Leben erweckt

Eine künstlerische Begegnung, die sich in ein gemeinsames Kunstwerk und eine Freundschaft zwischen mir und dem Künstler verfestigte, fand während der Griechenland-Wochen in der Kulturstation Kaufmann im Frühjahr 2010 in der Barbarossastadt Gelnhausen statt. Dort stellte er mehrere Wochen seine Bilder im Kunstverein Meerholz aus. Vor dem geistigen Hintergrund der mykenischen Hochkultur wurde mein Gedicht „Stille“ aus dem deutsch-griechischen Lyrikband „Agamemnon und Kassandra in Lakonien“ von Nikos Samartzidis in die mykenische Linear-B-Schrift übertragen und in ein großflächiges Gemälde umgesetzt. Bereits vor acht Jahren war der poetische Text von der griechischen Dirigentin und Komponistin Lisa Xanthopoulou (Thessaloniki) für vierstimmigen Chor vertont worden.

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„Transkription zu dem zeitgenössischen Gedicht Stille‘“ (89×89 cm)

Stille

Fernab dem blühenden Mykene
liegt in guter Erde ein großer Mensch,
einst geliebt von Kassandra,
ihm zur Seite gebettet.
Über die Gräber weht nicht nur
der Wind der Geschichte.
Das Leben, die Liebe
fließen den Berghang hinab
durch Sträucher und Gräser
zum Meer hin
und verlieren sich.

Die künstlerische Palette ist breit gefächert

Doch Nikos Samartzidis‘s Schaffen auf die künstlerische Umsetzung antiker und moderner Texte in die Linear-B-Schrift einzuengen wäre fehl am Platze, denn seine Palette ist musisch weit gefächert. So greift er zu feierlichen Anlässen auch zu Gitarre und Baglamas und verzaubert seine Zuhörerinnen und Zuhörer nicht nur mit Rembetiko. Beeindruckend sind seine digitalen Fotokollagen und Bildbearbeitungen knallharter Realitäten sowie seine Arbeiten in Keramik, Schmuck, Linolschnitt und Flachreliefs in Sandstein.

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„Alter Bahnhof von Korinth“ (70×100 cm; Akrylfarben auf Leinwand)

Schwerpunktmotive sind immer wieder Bahnhöfe, Tankstellen und Häfen. Vor allem seine Bilderreihe zum Bahnhof von Korinth hat mich in Bann gezogen. Stillgelegte Gleise und Waggons in irrealen Farben entführen nicht nur in eines der letzten großen Eisenbahnabenteuer Europas, der Peloponnes-Eisenbahn, sondern verweisen den Betrachter auf die Vergänglichkeit menschlicher Werke und machen vordergründig traurig. Unter dem peloponnesischen Sternenzelt, das sich über dem Verfall spannt, entsteht in den Werken des griechischen Künstlers jedoch gleichzeitig eine neue, gedachte Realität der Hoffnung, weil sich die Natur zwischen Gleisen und Waggons ihren Lebensraum zurück erobert.

Reise zur Identität

Samartzidis wurde 1957, also fünf Jahre nach der Entschlüsselung der Linear-B-Schrift, in Pella (Makedonien) geboren. Er wächst jedoch in Athen auf und verbringt seine Jugendzeit in Thessaloniki. Schon als Schüler beschäftigt er sich in seiner Freizeit mit der Malerei. Nach seinem Abitur nimmt er privaten Unterricht in freiem und technischen Zeichnen. 1977 experimentiert er in der kleinen, freien Kunstwerkstatt von G. Spantoudakis in Thessaloniki und verschreibt sich der Kunst.
Auf der Suche nach seiner Identität bereist er drei Jahre lang (1979-1982) die Insel Kreta und kommt so mit den Landschaften der Ägäis in Berührung, was ihn so in Bann zieht, dass er sich auf der dem lybischen Meer zugewandten Seite der Insel niederlässt. Seine dortige Lebenssituation zwingt ihn, auch als Landarbeiter Geld zu verdienen. 1982 zieht es ihn wieder nach Thessaloniki zurück, wo er sich bis 1986 mit Keramik in Form und Malerei beschäftigt.

Seine Liebe zur Natur, zum Landleben und zum Meer führen ihn in das idyllische Dorf Horto am Pilion (1987), wo er ein kleines Atelier betreibt. Er malt mit Tusche, Tempera und Acryl Landschaften und das Meer. Seine Germälde sind in ein ruhiges, abendliches Licht getaucht. Nicht weit entfernt, bei Milies, erzog der sanfte Zentaure Chiron den Achilleus. Für Nikos Samartzidis war es nach eigenen Angaben eine glückliche kreative Zeit.

Transkriptionen mit Exclusivität

Seit 1990 lebt der Vater von fünf Kindern mit seiner Frau Stella im hessischen Rüsselsheim und arbeitet im Opelwerk, das die Stadt so prägt. Nachdem er sich mit altgriechischer Vasenmalerei und byzantisnischen Techniken vertraut gemacht hat, setzt er in Deutschland seine künstlerische Suche nach Formen der modernen Kunst fort. Seine Transkriptionen antiker und moderner Texte in die Linear-B-Schrift verleiht seinem Werk weltweit eine künstlerische Exclusivität. Samartzidis ist aktives Mitglied der künstlerischen Vereinigung „Malkasten“ in der Stadt Rüsselsheim. Sein Schaffen präsentierte er in unzähligen Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen in Deutschland. Informationen zum Künstler unter: www.nikosam-art.de.

Peter Völker


streamplus.de

Zu Gast bei Radio Kreta: Der Schriftsteller Peter Völker.

Ein Kommentar

  1. Lieber Herr Völker, Ihr Beitrag hat uns dazu angeregt Kontakt zu Herrn Samartzidis aufzunehmen.
    Wir wohnen im Rheingau und nur ca. 40 km von Rüsselsheim entfernt.

    Heute, am 2.4.2016 fand bereits ein Treffen bei Familie Samartzidis statt, mit einem anschließenden Besuch im „Malkasten“, wo sich nicht nur die Künstlerwerkstatt befindet, sondern auch eine Vielzahl der Arbeiten von Nicos.

    Wir waren sehr begeistert und verabschiedeten uns mit dem Versprechen, dass der Kontakt weitergeführt werden soll.

    Freundliche Grüße
    Barbara und Jürgen Lehmann

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