Ein Wochenende mit Archelons: Meeresschildkrötenprojekt in Chania.

Von Anna Kauber Birkelbach, Marie Boms und Marie Busold. Praktikantinnen bei Radio Kreta.

Marie, Anna und Marie.

Langsam und strauchelnd kämpft sich die frisch geschlüpfte Meeresschildkröte über den Steinstrand. Zu fünft beobachten wir gespannt, wie sie im Licht des Sonnenaufgangs ihre ersten Schritte in Richtung Meer macht. Das gestaltet sich schwieriger als erwartet. Nicht nur einmal müssen wir sie anstupsen, ihr wieder den richtigen Weg durch unsere vorgefertigte Spur im Sand zeigen. Jeder noch so kleine Sonnenstrahl leitet sie vom Weg ab, jede größere Kuhle ist ein Hindernis. Die kleinen Steinchen wirken neben ihr fast riesig und mehrere Wellen werfen die Mini-Meeresschildkröte immer wieder ein Stückchen zurück. Dass wir diesen Bilderbuchmoment einmal erleben dürfen, hätten wir am Morgen nicht für möglich gehalten.

Doch beginnen wir noch einmal von vorne.

Gegen Abend haben wir den letzten Bus von Paleochora nach Chania genommen, um am nächsten Morgen bereit für den Tag zu sein. Gegen 5 Uhr klingelt uns der Wecker aus dem Schlaf. Im Dunkeln geht es mit dem Taxi ganz ans westliche Ende des Strandes „Paralia Kolimpari“. Dort treffen wir auf die freiwilligen Helfer Mattheo und George. Mattheo kommt aus Frankreich und ist für mehrere Monate Teil von Archelons Freiwilligenprojekt für Meeresschildkröten in Chania. George Vrampas arbeitet bereits seit zwei Jahren für die Organisation und reist als Projektmanager zwischen den kretischen Stationen Rethymno, Messara Bay und Chania umher. Im Winter arbeitet er in Archelons Sea Turtle Rescue Center in Athen.

Der Himmel ist schon jetzt in ein leuchtendes Orange getaucht. Ein atemberaubender Anblick, der uns die kurze Nacht ein wenig vergessen lässt. Doch es soll noch schöner werden. Jeden Morgen wird der Strand bei der sogenannten „Morning Survey“ abschnittsweise von den verschiedenen Archelon-Teams abgelaufen. Der betroffene Strandabschnitt in Chania ist ungefähr 14 Kilometer lang, 4 Kilometer davon fallen heute in unsere Schicht. Hier auf Kreta ist vor allem die Caretta caretta – also die „unechte Karettschildkröte“ bekannt, die in der Zeit von Mitte Mai bis Mitte August zum Nisten an genau die Strände zurückkehrt, an denen sie einst selbst geschlüpft ist. Sie kann bis zu einem Meter groß und circa 70 bis 80 Kilogramm schwer werden. Von Ende Juli/ Anfang August bis Mitte Oktober befinden sich die Meeresschildkröten in der Schlupfzeit. Die Organisation Archelon versucht zu gewährleisten, dass die Meeresschildkröten beim Nisten nicht gestört werden und ihre Jungen sicher ins Meer finden.

Ausgestattet mit einem Eimer, mehreren Markierungspfeilern, einem Schreibblock und einem Maßband geht es für uns los. Bereits nach einigen Metern ragen die ersten Markierungen aus dem Sandstrand hervor: Drei Holzpfeiler, die pyramidenartig über dem zuvor gefundenen Nest aufgestellt sind. Zur eigenen Orientierung haben die freiwilligen Helfer von Archelon Markierungen an den Nestern vorgenommen. So können sie schnell überprüfen, ob die Schutzpfeiler noch über dem Nest stehen und nicht umgestellt wurden.

Über ein kleines Kärtchen an einem der Pfeiler, erhalten wir alle nötigen Infos über das Nest. Das schwarze Datum gibt Auskunft darüber, wann das Nest gefunden wurde – also meistens in der Nistzeit zwischen Mai und Anfang August. Das rote Datum zeigt uns, wann die ersten Baby-Meeresschildkröten das Nest verlassen haben. Das ist nach circa 45 bis 60 Tagen der Fall, erklärt uns George. Sobald ein Nest in die Phase kommt, in der Meeresschildkröten schlüpfen könnten, bauen die freiwilligen HelferInnen kleine Schutzzäune um das Nest. Sie sollen verhindern, dass die kleinen Tiere sich auf dem Weg ins Meer verirren. Allerdings kommen nicht alle geschlüpften Meeresschildkröten auch direkt an die Oberfläche. Viele von ihnen halten sich noch bis zu zehn Tagen unter dem Sand auf.

Bei dem nächsten Nest das wir erreichen, sind diese zehn Tage bereits verstrichen. Da Archelon eine wissenschaftliche Organisation ist entscheidet sich das Team dazu, das Nest zu öffnen und die verbliebenen Eier zu untersuchen. Das ermöglicht der Organisation wissenschaftliche Daten über die Meeresschildkrötenpopulation in Griechenland zu sammeln. Allerdings gibt es auch bei der Nestöffnung einiges zu beachten. Anstatt direkt nach den Eiern zu buddeln, die sich bis zu einem halben Meter tief unter dem Sand befinden können, beginnen George und Mattheo mit der flachen Hand langsam den Sand wegzuschieben. Mit zwei ausgestreckten Fingern piksen sie leicht in den Sand. Da wo er durchlässiger ist, sind die Meeresschildkröteneier nicht mehr weit. Wir halten gespannt den Atem an und haben Angst, was uns in wenigen Minuten erwartet. Bereits bevor wir das erste Ei erreichen, zieht George eine tote Meeresschildkröte aus der Grube, sie hat es leider nicht lebend an die Oberfläche geschafft. Betroffen beobachten wir das kleine Wesen. Es ist rund drei bis 5 Zentimeter groß, schwarz gefärbt und besitzt einen winzigen Panzer.

Nach und nach erreicht George auch die ersten Eier, holt sie aus dem Nest und reiht sie in Fünferblöcken im Sand auf. Entgegen unserer Erwartungen haben sie lediglich die Größe eines Tischtennisballs. Warum man bei der Nestöffnung besonders vorsichtig vorgehen muss, sehen wir sofort: Denn beim weiteren Freilegen des Nestes fällt uns eine Bewegung ins Auge und George hält inne – eine lebendige Baby-Meeresschildkröte! Wir können unser Glück kaum fassen und auch für Mattheo ist es erst das zweite Mal, dass er in der Frühschicht einen solchen Fund macht. In einem blauen Plastikeimer transportieren wir das kleine Lebewesen zum Meer. Dort angekommen schaufeln wir eine kleine Spur frei, die die Meeresschildkröte ins Wasser führen soll. Zusätzlich entfernen wir die obere, heiße Sandschicht, damit sich die Meeresschildkröte unterwegs nicht verbrennt. „Man darf die Meeresschildkröten auf keinen Fall direkt ins Wasser setzen“, erklärt uns George. „Sie brauchen diese paar Meter zum Meer, um ihre Bewegungen zu koordinieren und sich zu orientieren. Nur dann sind sie im Meer in der Lage zu schwimmen und vergessen das Atmen nicht.“

Nach diesem Moment der Euphorie, geht es mit einer genauso wichtigen, aber weniger schönen Aufgabe weiter. Eines nach dem anderen öffnet George die kleinen Eier, die er zuvor aus dem Nest geholt und sorgfältig aufgereiht hat. Es herrscht eine bedrückte Stille und wir starren auf die leere Grube, in der einst hätten hundert Meeresschildkröten schlüpfen können. In mehreren Eiern sind die Meeresschildkröten schon deutlich entwickelt und auch die Plazenta ist teilweise gut erkennbar. Je nach Entwicklungsstadium ordnen Mattheo und George die Meeresschildkrötenbefunde in ihrem Notizblock in früh-, mittel- und spätentwickelt ein. Manche Eier zeigen bis auf ein Augenpaar auch noch gar kein Gewebe.

Schätzungen zufolge erreicht nur etwa eine von 1000 bis 10 000 Meeresschildkröten das Erwachsenenalter.

Für Mattheo war es heute das erste Nest, das er als Volunteer bei Archelon selber öffnen durfte. Als auch dieser Teil bewältigt ist, legen wir die geöffneten Eier wieder in die Grube und schließen das Nest. „Eine natürliche Ernährung für den Boden“, erklärt George. Wir verlieren nicht viel Zeit und laufen direkt weiter – immerhin liegen noch einige Kilometer vor uns, und kühler wird es mit der Zeit nicht. Auf unserem Weg durch den Sand passieren wir ein paar weitere Nester, an denen wir die errichteten Schutzmaßnahmen kontrollieren können.

Plötzlich halten George und Mattheo abrupt an: „Meeresschildkrötenspuren“, klären sie uns auf. Und tatsächlich, bei genauerem Hinsehen erkennen wir mehrere kleine Fußabdrücke, die kreuz und quer durch den Sand verlaufen. Sie stammen von zwei Nestern, die leider noch nicht eingezäunt waren. Normalerweise passiert das wenige Tage vor dem erwarteten Schlüpfen, wegen mangelnder Zeit und begrenztem Zaunmaterial muss sich das Team aber regelmäßig zwischen den Nestern entscheiden. Gemeinsam folgen wir den Fußabdrücken, die uns zum Teil zur Straße, zum Teil zu einem kleinen See im hinteren Bereich des Strandes führen. Die Tierchen folgen nach dem Schlüpfen den Lichtreflektionen, die der Mond im Meer erzeugt. Die Lichter von Hotelanlagen oder vorbeifahrenden Autos können sie aber vom Weg abbringen.

Angestrengt suchen wir jede noch so kleine Ecke ab, um so viele kleine verirrte Meeresschildkröten zu retten, wie es geht. Und es lohnt sich: Gleich drei Baby Meeresschildkröten können wir aus dem See holen, zwei weitere finden wir im Gestrüpp. Auch sie entlassen wir gemeinsam in das große, weite Meer. Hintereinander tapsen sie in die Wellen, ein schöner Anblick. Am nächsten Tag findet der öffentliche „Beach Walk“ (Strandspaziergang) statt, bei dem das Team von Archelon auf ihre Arbeit aufmerksam machen möchte. Das Team veranschaulicht den Besuchern wie Meeresschildkrötenspuren aussehen, zeigen ihnen ein markiertes Nest und wie man sich in der Nähe solcher Meeresschildkröten-Hotspots am besten verhält.

Das Ziel von Archelon formuliert George dabei ganz deutlich: „Wir möchten erreichen, dass Menschen und Meeresschildkröten gemeinsam am Strand koexistieren können“. Sie geben den Strandbesuchern folgende Tipps mit auf den Weg: Man sollte den Niststrand nach Sonnenuntergang und vor Sonnenaufgang nicht betreten, seine Sonnenliegen einklappen und am hinteren Ende des Strandes stapeln, Schirme und andere Gegenstände entfernen, sowie alle grellen Lichter (Autos, Taschenlampen, Lichter von Hotelanlagen) vermeiden. Denn fühlt sich die Meeresschildkröte beim Nisten gestört, verliert sie ihre Brut schlussendlich im Meer.

Bereits seit 1983 ist die Organisation Archelon in Griechenland tätig und sucht auf ihrer Website https://archelon.gr immer wieder nach freiwilligen Helfern für ihre Meereschildkrötenprojekte. Auch die öffentlichen Beach Walks und die daran gebundene Adoption einer Schildkröte helfen der Organisation sehr. In diesem Jahr feierten sie ihren ersten Tracking-Rekord: Sie sichteten eine Meeresschildkröte, die bereits seit 37 Jahren zum Nisten an den Strand auf Kreta zurückkehrt. Ein wahrer Erfolg für das Team und ihre Arbeit.

Anmerkung: Die Zitate wurden von uns aus dem Englischen übersetzt.

Ein Kommentar

  1. Wunderschön – und traurig gleichsam.

    Wir machen es diesen Tieren, die, mutmaßlich seit rund 200.000.000 Jahren, diese (ich schreibe ganz bewußt nicht „unsere“) Erde bevölkern, wirklich nicht leicht. Sie haben die Dinosaurier überlebt, ebenso wie den Meteoriteneinschlag und viele andere Katastrophen auch.

    Aber nun sind wir da – und das ändert alles!

    Wir vereinnahmen und zerstören Ihre Brutstrände, wir vermüllen das Meer mit Plastik, das die Schildkröten dann gerne für Quallen, ihre Leibspeise, halten. Wir sorgen für reichlich Lichtverschmutzung, die es den des Nachts schlüpfenden Reptilien unmöglich macht, das rettende Meer zu finden, und wir schreddern sie in Schiffsschrauben von meist völlig unnütz auf dem Meer herumfahrenden Booten von Möchtegernen.

    Wenigstens kann jeder von uns einen kleinen Teil dazu beitragen, die Arbeit der ehrenamtlichen Helfer zu unterstützen, indem er Patenschaften für zum Beispiel Babyschildkröten übernimmt. In den meisten größeren Orten und Städten auf Kreta unterhalten die Helfer und Mitarbeiter von Archelon Infostände. Dort könnt ihr euch umfassend informieren lassen und für ein bisschen Kleingeld Patenschaften übernehmen – und ein gutes Gefühl bekommen. Zusätzlich noch eine schönes Schildkröten Plüschtier. Noch viel besser und eindrücklicher ist allerdings das Strahlen der freiwilligen Helfer.

    Wer keinen Infostand findet: https://archelon.gr/en/adopt

    Wenn Radio-Kreta bis zum Ende dieses Jahres, also bis zum 31. Dezember 2024, von euch mindestens 250 belegte übernommene Patenschaften für Nestlinge gemeldet werden (entspricht einer finanziellen Unterstützung in Höhe von 7.500 €), spenden wir (mein Madl und ich) 1.000 € zusätzlich an Archelon. Die Überweisung wird Radio-Kreta öffentlich machen.

    Die Patenschaften lassen sich natürlich beliebig verlängern und erweitern 🙂 Es werden auch Patenschaften für erwachsene Schildkröten angeboten, für verletzte Tiere und für Nester. Diese müssen überwacht und betreut werden.

    Meinen Dank an das wunderbare Team von Radio-Kreta für diesen eindrücklichen und nahegehenden Bericht.

    Ein harmonisches Zusammenleben auf Kreta – nicht nur mit Meersschildkröten – wünscht

    der Insel-Max!

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