Griechenland benötigt mehr Zeit

Der Euro-Krisenstaat ist oft und zu lange schlecht regiert worden. Der zu Recht geforderte Wandel ist deshalb schwer zu schaffen

Frankenfelds Welt

„Meine Kindheit – ich räume es leise seufzend ein – liegt so weit im geschichtlichen Dunkeln, dass ich damals mit Luke Skywalker, Darth Vader oder anderen Sternenkriegern nicht spielen konnte. Es gab sie noch nicht.

Wie viele Jungen meiner Generation war ich am liebsten Old Shatterhand, der faustgewaltige und vielschüssige Westmann mit dem edlen Sidekick Winnetou. Doch auf dem Heldenfriedhof meiner Jugend liegen auch viele Griechen. Ihre Namen sind Achilles, Theseus, Herakles, Perseus oder Odysseus. Einige von ihnen sind jüngst sogar mit frischem Hollywood-Ruhm auferstanden. Diese Namen und jene von antiken Philosophen, Bildhauern oder Mathematikern stehen für ein Griechenland, das als Wiege der europäischen Zivilisation angesehen wird.

So ist Demokratie, von der Winston Churchill sagte, sie sei die schlechteste Staatsform – „ausgenommen aller anderen“, ein griechisches Wort. Gewiss ist es eine steile These zu behaupten, die Demokratie, wie wir sie heute genießen können, sei so in Griechenland erfunden worden. In der Attischen Demokratie durften nur männliche Vollbürger wählen – keine Frauen, Sklaven oder Ausländer. Auch wenn sich ausgerechnet eine verehrte Geistesgröße wie Platon noch vehement dagegen aussprach, auch das einfache Volk wählen zu lassen – die Grundidee dieser Regierungsform, die sich als die einzig legitimierte in der westlichen Welt durchgesetzt hat und die auf der (Wahl-)Freiheit basiert, stammt in der Tat aus Griechenland.

Die Geschichte des Kampfes um die Stadt Troja – die Ilias – sowie die der Irrfahrten des Helden Odysseus auf der Rückfahrt von Troja – die Odyssee – zählen zu den wichtigsten Quellen, aus denen sich Europas Zivilisation speist.

Die Griechen haben in der Folgezeit, annektiert von Römern und Byzantinern, dann jahrhundertelang von den Türken, terrorisiert von deutschen Besatzern und eigenen Diktatoren, ein wenig herzliches Verhältnis zu Machthabern entwickelt. Der Staat repräsentiert für viele Griechen einen Moloch, von dem wenig Gutes zu erwarten ist. Auch so erklärt sich die steuerliche Verweigerungshaltung vieler Bürger, so erklärt sich die korrupte Kultur der Fakelaki, jener kleinen Geldbriefe, ohne die viele Ärzte, Beamte, Führerscheinprüfer etc. gar nicht erst tätig werden. Diese verbreitete Unsitte ist ein eklatanter Hinweis auf staatliches Versagen – der Bürger ist gezwungen, zur Selbsthilfe zu greifen, wenn nicht nur die Tür klappen soll. Das Phänomen staatlichen Gemeinwohls ist offenbar weitgehend unbekannt – als es brenzlig wurde, brachten reiche Griechen flugs Dutzende Milliarden Euro im Ausland ins Trockene, anstatt ihrem Land zu helfen.

Das Wort griechische Tragödie bezieht sich ursprünglich auf die Neigung antiker Autoren, ihren Helden und Protagonisten meist ein schlimmes Ende nehmen zu lassen. Achilles, Ödipus, Medea, Orest – Happy End Fehlanzeige. Nicht einmal der gewaltige Herakles, besser bekannt unter seinem römischen Etikett Herkules, wurde verschont: Eine eifersüchtige Frau schenkte ihm ein vergiftetes Unterhemd.

Heute hat der Begriff griechische Tragödie eher eine wirtschaftliche Konnotation; und beim Namen Griechenland leuchten sofort die Warnhinweise Misswirtschaft und Korruption auf. Das ist nachvollziehbar, wird diesem ehrwürdigen Land aber nicht gerecht.

Griechenland ist oft und lange unglaublich schlecht regiert worden. Nun muss die Wiege der europäischen Kultur so reformiert werden, dass sie wieder erfolgreicher Teil der europäischen Wirtschaftskultur sein kann. Doch der derzeitige rüde Sparkurs erinnert eher an die Methode des griechischen Wegelagerers Prokrustes, der seine Opfer an die Länge seines Bettes anglich, indem er ihre Beine abhackte oder auf einem Amboss lang hämmerte. Sehr zuträglich war dieses Rezept damals schon nicht – und ist es auch heute noch nicht.

Furcht und Mitleid soll der Zuschauer angesichts der griechischen Tragödie empfinden, hat Aristoteles gefordert. Beides ist heute in Europa reichlich vorhanden. Doch zu einer europäischen Hilfe für Griechenland gibt es kaum eine vernünftige Alternative; es kann sich nicht aus eigener Hilfe sanieren. Mit Recht erwartet Europa dafür, dass sich das Land wandelt. Doch Griechenland benötigt mehr Zeit. Herakles, der einige Erfahrung mit der Ausmistung von Ställen hatte, steht leider nicht mehr zur Verfügung.“

Quelle: Hamburger Abendblatt