Historiker: Inquisition und Krise in Südeuropa

Von Michael Laczynski (Die Presse)

Wer dieser Tage an die europäische Krise denkt, denkt zuerst an Südeuropa. Doch der abschätzige Blick Richtung Süden ist kein neues Phänomen, wie der britische Historiker David Abulafia erläutert.

Seit dem Beginn der Schuldenkrise werden die von ihr am stärksten betroffenen Länder immer wieder als „Südeuropa“ subsumiert. Wie hat sich dieser Begriff im Laufe der europäischen Geschichte entwickelt?

David Abulafia: Vieles, was heute in negativer Hinsicht mit der Region in Verbindung gebracht wird, hat historisch betrachtet mit der Herrschaft der Ottomanen in Südosteuropa zu tun. So wie wir heute etwa Syrien sehen, blickte man damals auf Bulgarien oder Griechenland – man sah den Nahen Osten und nicht einen Teil Europas. Auf der anderen Seite des Mittelmeerraumes wiederum gab es Spanien, das seit dem 17. Jahrhundert wirtschaftlich verfiel. Die romantische Idee von Spanien als Ort der Toleranz und Kultur, die im 19.Jahrhundert aufkam, hatte vor allem damit zu tun, dass der industrialisierte Norden dem Süden in ökonomischer Hinsicht immer weiter davonzog. Und so wurde die Vergangenheit der Region glorifiziert und dem nunmehrigen Elend gegenübergestellt.

So wie es auch Goethe tat.

In Deutschland hatte sich zu dieser Zeit ein starkes Interesse an der griechischen Hochkultur entwickelt – wobei hier immer wieder zwischen der glorreichen Antike und der weniger glanzvollen Gegenwart unterschieden wurde. Daher rührt auch die romantische Idee, man müsse den Griechen helfen, sich aus der türkischen Knechtschaft zu befreien, die unter anderem den britischen Dichter Lord Byron dazu brachte, im griechischen Unabhängigkeitskrieg mitzukämpfen.

Wurde der Süden nur in wirtschaftlicher Hinsicht als rückschrittlich wahrgenommen?

Nein. Aus der britischen oder skandinavischen Perspektive war die iberische Halbinsel in Schatten getaucht – eine Region, die ihre mittelalterliche religiöse Toleranz aufgegeben und sich der finsteren Inquisition zugewandt hatte. Und was den Südosten anbelangt, so erschien die griechisch-orthodoxe Kirche schnell als orientalisch und fremdartig. Griechenland musste nicht wegen seines christlichen Glaubens von den Ottomanen befreit werden, sondern weil es die Wiege der Demokratie war.

Drehen wir nun den Spieß um: Wie sah man im Süden Europas den Norden?

In Italien beispielsweise war man sich seit dem späten 18. Jahrhundert der Notwendigkeit bewusst, einen einheitlichen Staat schaffen zu müssen, um den Anschluss an den Norden nicht zu verlieren. Auf Spanien trifft das zwar nicht zu, doch in Griechenland hatte es dieses einheitliche politische Gebilde auch nicht gegeben. Die Idee war, man müsse einen Staat nach dem Vorbild Nordeuropas kreieren, um in Folge die Industrialisierung vorantreiben zu können. Das war ein langwieriger Prozess, den Italienern ist der Aufbau eigener Industrien erst im 20. Jahrhundert geglückt.

Also suchte der Norden in Südeuropa die idealisierte Vergangenheit und der Süden im Norden ein Rezept für die Gegenwart.

Und das ist bis heute so geblieben. Denken Sie etwa an den Beitritt Griechenlands zur Europäischen Union: Den Griechen ging es vor allem darum, Teil eines großen, von Deutschland dominierten Wirtschaftssystems zu werden. Im Norden wiederum wurde argumentiert, die Griechen mögen zwar nicht alle Beitrittskriterien erfüllen, aber nachdem sie die „ersten Europäer“ sind, müsse man sie aufnehmen. All das basiert auf einer sehr mythischen Idee von Europa.

Kehren wir zurück in den Süden. Gibt es innerhalb der Region weitere Gemeinsamkeiten?

Eine Sache, die mir persönlich Sorgen bereitet, ist, dass diese Länder ihre traditionellen regionalen Handelsnetze aufgegeben haben und das Mittelmeer nicht mehr als ökonomische Einheit funktioniert. Nach 1945 wollten die Länder Nordafrikas nichts mehr mit ihren ehemaligen Kolonialherren Frankreich, Italien und Großbritannien zu tun haben und wandten sich stattdessen der Sowjetunion zu, was ein Desaster war. Die Sowjets haben die Volkswirtschaften Ägyptens und Algeriens ruiniert, ein Land nach dem anderen. Jetzt haben wir einen armen Südrand und einen vergleichsweise wohlhabenden Nordrand des Mittelmeeres, und beide blicken Richtung Brüssel, anstatt miteinander zu agieren.

Stichwort Brüssel: Anders als beim Mittelmeerraum handelt es sich bei der EU um ein relativ neues Phänomen. Wie artifiziell ist die Union?

Aus dem mediterranen Blickwinkel sehr. Zur EU gehört beispielsweise Zypern, das geologisch betrachtet ein Teil Asiens ist. Auch die Debatte darüber, ob die Türkei Teil Europas oder Asiens ist, führt an der Realität vorbei. In Wahrheit müsste es darum gehen, welche Volkswirtschaften innerhalb der EU harmonieren oder eben nicht. Aber die verschiedenen Definitionen Europas sind ein Kapitel für sich. Die British Airways etwa zählen Tel Aviv zu ihren europäischen Destinationen…

…ein Phänomen, das man auch vom Eurovision Song Contest kennt.

Exakt! Diese Vermischung von kulturellen und geografischen Merkmalen macht die Sache nicht gerade einfach.

Sie haben die Geburtswehen Italiens angesprochen. Auch das heutige Deutschland ist erst im 19. Jahrhundert entstanden, aber dort würde niemand auf die Idee kommen, von Aufspaltung zu reden. Warum ist die italienische Identität so fragil?

Zum Teil aufgrund der Tatsache, dass die italienische Vereinigung kein voller Erfolg war. Immer noch gibt es diese Kluft zwischen dem wirtschaftlich erfolgreichen Norden und dem krisengeschüttelten und korrupten Süden. Für Norditaliener ist der Süden ihres Landes eine einzige Peinlichkeit. In Deutschland wiederum haben wir es mit einer politischen und wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte zu tun. Und obwohl die Entwicklung des deutschen Nationalbewusstseins nicht immer gesund verlaufen ist, um es einmal vorsichtig zu formulieren, so hat es doch immer einen starken Gemeinschaftssinn gegeben – sowie Kräfte, die stets im Dienste der deutschen Vereinigung standen.

Was in Deutschland als ausgeschlossen gilt, wird in Spanien immer wieder debattiert: die Sezession von Teilen des Landes. Für wie stark halten Sie die spanischen Zentrifugalkräfte?

Die spanischen Unabhängigkeitsbewegungen sind tief verwurzelt. Bisher standen kulturelle Fragen im Vordergrund, die eigene Sprache und Identität. Doch jetzt – und das ist eine besorgniserregende Entwicklung – rückt das Konzept einer eigenständigen politischen Entität Katalonien in den Vordergrund. Auch hier ist das Problem ähnlich gelagert wie in Italien: Katalonien und das Baskenland sind wirtschaftlich erfolgreich und sträuben sich immer mehr, ins nationale Budget einzuzahlen. Obendrein gibt es ein Problem mit jenen Spaniern, die zwar in diesen Regionen leben, aber nicht Basken oder Katalanen sind. Ihnen wird diese ethnische Identität zusehends aufgezwungen. Ich glaube, dass sich die Situation verschlechtern wird und zu einer Bedrohung für die Einheit Spaniens entwickeln könnte.

Wie real ist diese Gefahr?

Sehr viel hängt davon ab, wie sich die Konjunktur in den nächsten fünf Jahren entwickeln wird. Wenn es der Regierung in Madrid gelingen kann, Reformen durchzuziehen, das Land ökonomisch zu stabilisieren und die Krise zu meistern, dann wird auch der innenpolitische Druck zurückgehen.

Sezessionistische Bestrebungen und Debatten über die Gründung neuer Staaten gibt es auch anderswo in Europa. Begünstigt die EU als übernationale Organisation derartige Tendenzen?

Da haben Sie absolut recht. Das hängt auch stark mit der Idee vom „Europa der Regionen“ zusammen, die in Brüssel als Mittel gesehen wird, um den Einfluss der nationalen Regierungen zurückzudrängen. Aus der Brüsseler Perspektive mag das zwar Sinn ergeben, doch dieser Ansatz ist bedrohlich, und Katalonien ist da nur ein Extrembeispiel.

Aber müssen derartige Bestrebungen gleich gefährlich sein? Man könnte doch als Kleinstaat friedlich unter dieses europäische Dach schlüpfen. Was spricht zum Beispiel gegen ein unabhängiges Schottland?

Zumindest beteuern die Schotten, sie wollen Teil der EU und unter dem Szepter der Queen bleiben. Womöglich würden die Katalanen auch die Autorität von König Juan Carlos akzeptieren – wobei ich nicht weiß, wie er zu der Sache stehen würde. Die Frage ist aber, ob wir uns die EU als Föderation von Zwergen wünschen. Im britischen Interesse liegt das jedenfalls nicht.

Blicken wir noch einmal nach Südeuropa: Tickt ein südeuropäischer Bürger anders als sein Nachbar im Norden?

Familie und Patronage sind tiefer verwurzelt. Die Südeuropäer waren immer auf parallele Netzwerke angewiesen, um erfolgreich zu sein.

Die Loyalität gegenüber dem Staat ist also zweitrangig…

…und die extreme Ausformung dieser Tradition ist die Mafia.

Momentan blickt man im Norden eher abschätzig Richtung Südeuropa. Ist das ein vorübergehendes Phänomen?

Nein, diese Haltung könnte sich durchaus verfestigen. In Skandinavien hat man eine andere Vorstellung davon, wie Europa funktionieren sollte. Dort ist man emotional eher distanziert, was die Bindung zum Süden anbelangt.

Aber man gibt sich moralisch entrüstet über die Entwicklungen in den Krisenstaaten.

Ich denke, dass die Enthüllungen über Steuerhinterzieher, Frühpensionisten und so weiter in Nordeuropa einen üblen Nachgeschmack hinterlassen haben. Dabei hat der Norden von der EU stark profitiert. Doch viele der nun kritisierten Verwerfungen in Italien oder Griechenland sind kulturell verwurzelt. Das macht die Problem so vertrackt.

FAKTEN
Der britische Historiker gilt als einer der größten Kenner der Geschichte des Mittelmeerraumes. David Abulafia unterrichtet in Großbritannien an der University of Cambridge und ist Mitglied des Caius College und der British Academy.

Das jüngste Buch von David Abulafia trägt den Titel „The Great Sea“ und ist 2011 bei Penguin/Allen Lane erschienen. Darin entwirft der britische Historiker ein Panoramabild der mediterranen Region von den Ursprüngen der Menschheit bis zur Gegenwart.