Historische Notiz – „Die kleinasiatische Katastrophe.“

Erdogan ist eine Katastrophe, die wirtschaftliche und politische Situation in Griechenland auch. Wiederholt sich „die kleinasiatische Katastrophe?“. Hier mal wieder was Historisches.

Von Dr Holger Czitrich-Stahl

Die „kleinasiatische Katastrophe“ Griechenlands: der griechisch-türkische Krieg von 1919-1922 und die gegenseitigen Massenvertreibungen von 1922/23. Historische Notiz 156 vom 1. August 2017.

Wenige Ereignisse haben sich als eine so furchtbare Katastrophe in das kollektive Gedächtnis der griechischen Nation eingebrannt wie die „kleinasiatische Katastrophe“ von 1922/23 und die dieser vorausgegangene griechisch-türkische Krieg von 1919-1922. Für beide Kriegsgegner begann eine Zeit heftiger Umbrüche. Die Türkei modernisierte sich unter der Herrschaft von Mustafa Kemal Atatürk mehr und mehr nach westlichem Vorbild und beendete so die jahrhundertelange Ära des Osmanischen Reiches als einer asiatisch-europäischen Großmacht. Griechenland wiederum stürzte Regierung und König Konstantinos I. und geriet für Jahre in die Wirren politischer Unruhen, denen 1924 die Monarchie per Volksabstimmung zum Opfer fiel und die zur autoritären Herrschaft von General Theodoros Pangalos 1925/26 führte.

Noch heute ist das griechisch-türkische Verhältnis angespannt. Gründe dafür gibt es viele, zum Beispiel die Zugehörigkeit der ostägäischen Inseln und der Dodekanes zu Griechenland seit 1948, die nahe der türkischen Küste liegen, allerdings von Griechen bewohnt sind. Die Hoheitsgewässer sind von daher sehr umstritten und führen immer wieder zu militärischen Beinahezusammenstößen, wie die „Zeit“ berichtet:

„Dogfights“ nennt sich das, was sich die türkische und griechische Luftwaffe täglich liefern: ein Kräftemessen zwischen gegnerischen Kampfflugzeugen; wie Hunde umkreisen sich die Jets, bis der Stärkere die Oberhand gewinnt. Diese Kurvenkämpfe, wie sie beim Militär heißen, finden immer dann statt, wenn das türkische Militär in den griechischen Luftraum eindringt. Seit diesem Jahr bis zu mehrere Hundert Mal täglich. In den vergangenen Jahrzehnten hatten sich diese Grenzverletzungen als eine Art professionelles Flugtraining etabliert.

Doch inzwischen hat sich die Tonlage zwischen den Nachbarstaaten und Nato-Mitgliedern erheblich gewandelt, und zwar zum Schlechten. Es geht um Territorialansprüche und alte Rivalitäten. Seit ein paar Monaten wird in Griechenland vermehrt über Provokationen von türkischer Seite berichtet, von Grenzüberschreitungen in Luft und auf See, die über das bekannte Maß hinausgehen. Und es geht die Sorge um, dass die Dogfights, die per se schon ein Sicherheitsrisiko darstellen, an den engen Grenzen einmal als Werkzeug dienen könnten, bilaterale Konflikte zu schüren.“ (1)

Recep Tayyip Erdogans Neo-Osmanismus steckt hinter diesen Provokationen. Von daher ist es von pikanter Aktualität, an das Ende des griechisch-türkischen Krieges am 30. August 1922 und die sich daran anschließende „kleinasiatische Katastrophe“ der Griechen in dieser Historischen Notiz 156 zu erinnern. Doch im Gegensatz zur heutigen Lage war damals Griechenland der Provokateur und Angreifer.

Der „groß-griechische Traum“ und der „kranke Mann am Bosporus

Griechenland, das seit 1916 an der Seite der Entente gegen die Mittelmächte, zu denen aus das Osmanische Reich gehörte, gekämpft hatte, wollte sein in den Balkankriegen 1912/13 vergrößertes Territorium weiter ausdehnen. Noch fehlten die ostägäischen Inseln und die Dodekanes, Teile Thrakiens, Konstantinopel/Istanbul und die Region um Smyrna/Izmir, um die Idee eines Griechenlands, das alle Griechen in einem Staat vereint, Wirklichkeit werden zu lassen. Dass diese „megali idea“ eine großgriechische und imperialistische Position darstellte, sei nur am Rande bemerkt, doch sie leitete das Handeln der politischen Führungen der damaligen Zeit.

Italien hielt seit 1912 die erstgenannten Inselgruppen besetzt, wohingegen das Osmanische Reich über Ostthrakien und die Regionen um Istanbul und Izmir herrschte, die ja historisch zu den traditionellen griechischen Siedlungsgebieten gehörten, die jedoch weitere Gebiete Anatoliens umfassten und bis an die Schwarzmeerküste reichten. Auch die Eroberung dieser Großregionen war Bestandteil der „megali idea“.

Das Osmanische Reich wiederum wurde sowohl durch die innenpolitische Zerrissenheit als auch durch die Kriegsentwicklung zu seinen Ungunsten nachhaltig geschwächt. Seit 1913 regierte eine Junta aus einerseits nationalistischen, andererseits nach Westen ausgerichteten Militärs, die „Jungtürken“, das Land mit harter Hand und versuchte, laizistische Reformen durchzusetzen in einem Großreich, das nach damals geltenden islamischen Normen aufgebaut war und jahrhundertelang demgemäß funktionierte.

Als der erste Weltkrieg ausbrach, entschied sich der starke Mann der „Jungtürken“, General Enver Pascha, für den Anschluss an die Mittelmächte um das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn. Mit deutscher Unterstützung geriet das Osmanische Reich zunächst in den Krieg mit Russland, aber auch mit den Briten, die Zypern besetzt hatten und nun gemeinsam mit Frankreich die Dardanellen angriffen, so dass an zwei Fronten verteidigt werden musste. Furchtbare Verluste schwächten die osmanischen Truppen, gleichzeitig aber kam es auch zum Völkermord an den Armeniern im Osten des Reichs. Der russische Vormarsch auf die Schwarzmeerküste konnte nicht aufgehalten werden, durch die Mobilisierungsarbeit der Briten unter „Lawrence von Arabien“ fielen die arabischen Reichsteile von Istanbul ab und Großbritannien rückte in den Nahen Osten ein.

Als am 30.Oktober 1918 das Osmanische Reich in den Waffenstillstand von Mudros einwilligte, war es in seiner Existenz bedroht, die „Jungtürken“ wurden abgesetzt, es standen innenpolitische Wirren und schwierige Friedensverhandlungen bevor. (2) Diese offensichtlich für Griechenland günstige Lage verführte es dazu, 1919 den Angriff auf den „kranken Mann am Bosporus“ zu wagen. Eine gravierende Fehleinschätzung, hatte man doch nicht mit einem Kriegshelden gerechnet, der von den „Jungtürken“ gebraucht, aber gefürchtet wurde: General Mustafa Kemal, später genannt Atatürk.

Der griechisch-türkische Krieg von 1919-1922

Griechenlands bedeutender Ministerpräsident Eleftherios Venizelos (1864-1936), der führende Politiker der griechischen Liberalen und Anhänger einer Bindung des Landes an die Alliierten(3), setzte sich 1916 nach einer Phase der politischen Spaltung Griechenlands in Royalisten und „Venizelisten“, als alter und neuer Regierungschef in Athen durch. Seine Absicht, Griechenland in den Krieg gegen die Türkei zu führen, um Territorialgewinne im Sinne der „megali idea“ zu erzielen, konnte er gegen den erbitterten Widerstand der Krone, die deutschfreundlich gesinnt war, Königin Sophia war die Schwester Wilhelms II., im Oktober 1916 durchsetzen.

Am Ende des Krieges hatte Griechenland West- und Ostthrakien, die Region um Izmir und die genannten Inselgruppen für sich erobert, was im Vertrag von Sèvres im Sommer 1920 vertraglich sanktioniert wurde. Vor allem die Region um Izmir/Smyrna besaß eine mehrheitlich griechische Bevölkerung und gehörte seit der Kolonisationswelle des 8. bis 6. vorchristlichen Jahrhunderts zur griechischen Welt. Im Mai 1919 rückten griechische Einheiten in Smyrna ein und eröffneten somit den griechisch-türkischen Krieg. Im Osten der Türkei sammelten nun Mustafa Kemal und Ismet Pascha reguläre Truppen und Freischärler um sich und riefen zum „antiimperialistischen Befreiungskampf“ auf, gedeckt von Sowjetrussland. Die erst nach dem erneuten Sturz Venizelos 1920 eingesetzten königstreuen Kommandeure, eher unerfahren, begnügten sich nicht mit Smyrna/Izmir, sondern rückten auf Ankara vor.

Pavlos Tzermias, bedeutender griechischer Historiker und Sohn eines venizelistischen Politikers, schreibt dazu, „daß der griechische Vorstoß gegen das anatolische Hochplateau mit einer katastrophalen Niederlage endete. Mustafa Kemal und Ismet Pascha (1884-1973), der zweimalige Besieger der Griechen bei Inönü im Jahre 1921, legten große militärische Fähigkeiten an den Tag…Die entscheidende Schlacht fand im August 1921 am Sakarya-Fluß statt, dessen großer Bogen bis auf beinahe 50 Km an Ankara heranreicht.“(4)

Durch die erfolgreiche Kriegsführung und die dadurch erreichte nationale Mobilisierung der Türken wurde der Vertrag von Sèvres faktisch zur Makulatur, Mustafa Kemal und Ismet Inönü Pascha kämpften für eine Türkei von Ostthrakien bis zum Kaukasus und zwischen Schwarzem Meer bis in die syrisch-kurdischen Gebiete, wie sie heute das Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien bilden. Der türkische Vormarsch in Richtung Smyrna/Izmir und Konstantinopel/Istanbul war nicht mehr aufzuhalten. Zwischen dem 26. und 30. August fand die Schlacht von Dumlupinar im Westen der Türkei statt, bei der die griechische Armee entscheidend geschlagen wurde.

Die türkischen Truppen rückten nun auf Smyrna/Izmir vor und richteten dort ein durch Plünderungen, Gewalt und Vertreibungen ein Blutbad an. Ehrlicherweise muss hinzugefügt werden, dass auch der griechische Einmarsch 1919 mehr als tausend unschuldige Menschenleben forderte, weil auch hier gewütet wurde. Doch starben im September wohl mindestens 25.000 vorwiegend Griechen durch die brutale Gewalt und eine Feuersbrunst im Armenviertel. Ob die türkische Armee das Feuer selbst gelegt hat, ist umstritten. Aber mit dem Untergang des beinahe 3000 Jahre alten Smyrna „erlosch auch die „ionische Vision“. Der Großgriechenland-Traum war ausgeträumt.“(5)

Die „kleinasiatische Katastrophe“ und ihre Folgen

Nach der militärischen Niederlage der griechischen Truppen wurden in Athen die verantwortlichen für die kleinasiatische Katastrophe wegen Hochverrats angeklagt und zum Teil für schuldig gesprochen und im November 1922 erschossen. Darüber hinaus musste Griechenland Ostthrakien jenseits des Flusses Evros an die Türkei zurückgeben.

Die Inseln Imbros und Tenedos fielen an die Türkei zurück. Die Region um Smyrna/Izmir war verloren. Während in der Türkei der Machtkampf zwischen Mustafa Kemal und Ismet Inönü auf der einen Seite und dem Sultanat sich 1922/23 endgültig zu Gunsten der laizistischen Nationalbewegung um den späteren Atatürk entschieden wurde und mit der Ausrufung der Republik 1923 besiegelt wurde, ging es schweizerischen Lausanne nun um die Revision des Vertrages von Sèvres; auch hier schlug der türkische Sieg zu Buche. Die erfolgten militärischen Rückgaben Griechenlands an die Türkei wurden vertraglich bestätigt, Izmir gehörte nun endgültig zur (Republik) Türkei, Zypern fiel Großbritannien zu, die Dodekanes-Inseln übernahm das faschistische Italien, die ostägäischen Inseln um Lesbos kamen zu Griechenland.

Am 24. Juli 1923 vereinbarten die Vertragspartner aber eine weitere schwerwiegende Maßnahme, nämlich einen nahezu kompletten Bevölkerungsaustausch. Die in Griechenland lebenden Türken mussten, sofern sie nicht schon brutal vertrieben worden waren, das Land verlassen, und umgekehrt verließen die kleinasiatischen Griechen ihre Heimat. Nur Istanbul/Konstantinopel und Westthrakien blieben ausgenommen. So verließen rund eine halbe Million Muslime und Türken den griechischen Boden und in der anderen Richtung rund 1,6 Millionen Griechen die Türkei.

Dieser „Bevölkerungsaustausch“ verlief keinesfalls friedlich, Bestialitäten wurden auf beiden Seiten verübt. In der türkischen Literatur kann man darüber zum Beispiel bei Yasar Kemal vieles finden, in der griechischen Literatur bei Nikos Kazantzakis, dem großen Dichter, Essayisten und Philosophen. Von der Regierung berufen, die Flüchtlinge aus dem Kaukasus zu begleiten und ihnen zu helfen, schrieb er: „Von Süden her beschlugen die Kurden alle Griechen, die sie fingen, mit Hufeisen, und vom Norden her stiegen die Bolschewiken herab mit Feuer und Beil; und in der Mitte saßen die Griechen von Batum, von Sochum, von Tiflis, von Thar, und die Schlinge wurde immer enger um ihren Hals, sie warteten, hungrig, nackt, krank auf den Tod…vor Kars hatten in jenen Tagen die Kurden drei Griechen gefasst und hatten sie wie Maultiere beschlagen.“(6)

Diese brutale „ethnische Säuberung“ gab das Beispiel für weitere Unmenschlichkeiten des 20. und 21. Jahrhunderts ab und veränderte Griechenland deutlich. Der orientalische Einfluss der „Pontusgriechen“ und Smyrnas ist nirgendwo besser nachzuempfinden als im „griechischen Blues“, dem Rembetiko. Frieden aber zwischen Türken und Griechen gibt es aber auch nach beinahe 100 Jahren immer noch nicht, wie die Eingangsbemerkungen verdeutlichten.

Anmerkungen

1) http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-05/griechenland-tuerkei-luftwaffe-territorialanspruch-konflikt, Zugriff am 26. Juli 2017
2) Vgl. dazu Ferenc Majoros/Bernd Rill, Das Osmanische Reich 1300-1922, Wiesbaden 2004, S. 358-364.
3) https://de.wikipedia.org/wiki/Eleftherios_Venizelos, Zugriff am 31. Juli 2017.
4) Pavlos Tzermias, Neugriechische Geschichte. Eine Einführung, Tübingen und Basel 1993 (2.), S. 128.
5) Ebd., S. 129.
6) Nikos Kazantzakis, Rechenschaft vor El Greco, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 373-374.

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