Kreta: „Die beinah aufgehaltene Zeit“, von Holger Czitrich-Stahl.

Die beinahe aufgehaltene Zeit.

Mal wieder Kreta und wieder das bekannte Ziel in der Messara. Zeit zum Entspannen, Nachdenken, Neujustieren. Und Zeit für Gedankenspiele, wie sie nur als Begleiterscheinungen auf Reisen, als Reflexionen über Weg und Ziel, Raum und Zeit, Land und Leute entstehen können.

Matala.

Seit nunmehr 28 Jahren besuche ich diesen Ort, dessen Namen Eingeweihte allzu gut kennen, aber erst dann weitergeben, wenn sie sich sicher wähnen, eine Art Gleichgesinnten vor sich zu haben. Denn hier gibt es kaum etwas, was dem heutigen Mainstreamtourismus heilig ist: Kein Hotel am Strand, keinen Golfplatz, kein All-Inclusive, nicht die lärmende Nachbarschaft von Fastfood-Restaurants, Internet-Cafés und Souvenirshops.

Hier gibt es Ruhe, Hahnengeschrei, zuweilen kläffende Hunde aus der Nachbarschaft, vor allem aber Einheimische, die sich an die immer wieder kehrenden Gäste gewöhnt haben, ihre Bedürfnisse kennen und größtenteils akzeptieren. Man ist miteinander groß, bisweilen alt geworden, grüßt sich freundlich und ehrlich. Die Kreter hier, die vor rund 45 Jahren die Hippies von Matala wohl wie Außerirdische betrachteten, dann merkten, dass ihr Dorf, das ja kurz vor Matala liegt, von immer mehr jungen Leuten, zunächst mit Rucksäcken bewehrt, besucht wurde, die ein bescheidenes und bezahlbares Quartier suchten, sie sind materiell gesichert aus diesen Jahrzehnten heraus gekommen.

Fischer Giorgos.

Die ersten Pioniere dieses Idylletourismus übergaben ihren Besitz an ihre Kinder oder sind jetzt gerade in diesem Prozess begriffen, manche sind längst unter der Erde, wie der Wirt und Lyraspieler Markos, dessen Spiellaune mit jedem Glas Raki wuchs und dessen Rechnungen stets positive Überraschungen enthielten. Auch Zouboulia und Giorgos, unsere ersten Wirtsleute, haben sich mittlerweile aus dem „operativen Restaurantgeschäft“ verabschiedet und vermieten „nur noch“ Zimmer, die Tochter managt alle Geschäfte.

Ähnlich sieht es auch bei „Kri-Kri“ aus, wo die Töchter des Hauses nun mehr und mehr in die Geschäfte einbezogen sind. Alles geht hier langsamer, ruhiger, „chilliger“ vor sich als wir es gewohnt sind vor lauter Hektik und Tempo. Kaum kommt man an, so scheint jedwede Adrenalinproduktion verlangsamt, stellt sich ein quasi heimatliches Empfinden ein. Man wird von den Einheimischen begrüßt, hält ein kleines Schwätzchen, meldet sich sozusagen zurück – und dieses Verhalten sind beide Seiten gewöhnt.

Die Gitarre von Spiros.

Die deutsche Kolonie der Dortgebliebenen organisiert sich um die „Traumfabrik“ herum, einer alten Ölmühle, die Restaurant und Kulturtreff gleichermaßen wurde. Allerdings gibt es auch innerhalb der deutschen, holländischen und österreichischen Community gewisse wahrnehmbare Hierarchisierungen. Aber die Zeit scheint beinahe stehen geblieben zu sein. Doch es gibt neben aller zu begrüßender Beständigkeit selbstverständlich Neues zu vermerken.

Die Straße nach Matala wurde ausgebaut und ist mit einem Radweg und mit Straßenbeleuchtung versehen, da sie vormals im Dunkeln ein Unfallschwerpunkt war. Der Campingplatz ist verschwunden und durch eine Immobilienanlage ersetzt. Schade! Das alles aber ist geschehen, ohne den Charakter des Ortes gravierend zu verändern. Es verdankt sich den politischen Entscheidungen vor Ort. Und deshalb darf es nie den chinesischen Ölhafen vor Tymbaki geben.

„Fischer Giorgos“. Kunst von Scotty, dem letzten Hippie von Matala.

Denn eine ökologische Katastrophe im Kleinen gibt es dennoch: Durch das Planieren des Hügelgeländes vor Kommos für einen Parkplatz hat es bereits massive Gesteinserosionen gegeben, denen leider einige Schatten spendende Tamarisken zum Opfer fielen. Mögen die neuen politischen Entscheidungsträger alles tun, um die Zeit im positiven Sinne beinahe anzuhalten und nicht jeden Unfug mitmachen zu wollen. Dabei helfen wir ihnen gern.

(Geschrieben am 23. Oktober 2015 in der Messara)

Holger Czitrich-Stahl

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4 Kommentare

  1. Ein wunderbarer Beitrag.

    Ich durfte Matala bisher nur einmal erleben – und das war während der Hauptsaison. Wunderschön, aber auch trubelig.

    Dieses Jahr werden mein Mann und ich das erste Mal im Winter auf Kreta sein. Ich bin gespannt, wie es dann in Matala sein wird. Ruhig und idyllisch oder doch gespenstisch und ’seelenlos‘? Wir werden sehen.

    Vielen Dank auf jeden Fall für den Einblick
    Annemarie

  2. Moin Dr. Till Schelz-Brandenburg, ob Matala keine Seele hat, so weit möchte ich mich nicht aus dem Fenster lehnen. Geschmäcker sind ja verschieden. Mir ist in Matala aber in der Saison einfach viel zu viel Trubel und ich finde das Matala auch einfach überbewertet. Aber wie schon gesagt, die Geschmäcker sind verschieden und Matala hat seine Fans.

    Viele Grüße aus Hamburg, kv

  3. Der rote Felsen hat vollständig recht. Um sich vom Matala-Image zu desillusionieren, muss man nur einmal im Winter dorthin fahren: Ein Geisterort ohne jede Menschenseele – und eben auch ohne sonstige Seele!
    Till

  4. Moin, über Mátala streiten sich die Geister. die einen sehen immer noch ein Hippie Flair, die anderen sehen nur noch Kommerz und einen Ausverkauf der Hippie Ära in Mátala.

    Mir gefällt Mátala auch nicht besonders. Nach meiner Meinung ist der Ort völlig überbewertet, kleiner Strand, der im Sommer komplett mit Liegen/Sonnenschirmen zugepflastert ist.

    In den letzten 10 Jahren sind viele Mátala-Freunde nach Pitsídia abgewandert, da in Mátala einfach zu viel Trubel ist.

    Bei Tripadvisor: „Wir waren gestern (4. Juli 2022) in Matala und fanden es furchtbar. Wir waren 1983 zum ersten Mal dort und in den 1980er Jahren noch ein paar Mal. Zuletzt waren wir 2001 dort.

    Auf dem Weg von Plakias haben wir in Agia Galini Halt gemacht und die Atmosphäre dort mit den Restaurants hinter den Stränden und den Restaurants in der Stadt mit Schwertfisch und frischem Thunfisch hat uns sehr gut gefallen. Im Gegensatz dazu war in Matala so viel los. Es gab buchstäblich Hunderte von Autos, offensichtlich Tagesausflügler, und eine Reihe von Reisebussen. Der Strand war, wie gesagt, völlig überfüllt, und es ist ja nicht so, dass es ein schöner Strand wäre.

    Ich habe nichts gesehen, wofür es sich lohnte, dorthin zu fahren, abgesehen von einer nostalgischen Erinnerung und dem Vermächtnis von Joni Mitchell.“

    Bekannt wurde Mátala in erster Linie durch die zahlreichen Wohnhöhlen aus der Jungsteinzeit in der Felswand nördlich der Bucht. In den 60er Jahren wurde der Ort, bis dahin ein relativ verschlafenes Fischernest, von Hippies entdeckt.

    Ein Tavernenwirt erzählte übrigens, dass vor der „Hippie-Zeit“ Mátala aber auch ein beliebter Sommerferienort für die Kreter selbst war. Einige besaßen (und besitzen noch) eines der kleinen Häuser im Dorf, andere richteten sich in den Höhlen ein, das war ebenso romantisch wie preiswert.

    2008 bin ich das erste Mal in Mátala gewesen…

    Ta Leme, kv

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