Von Hansgeorg Herrmann
Kreta ist fast dreihundert Kilometer lang, im Schnitt vierzig Kilometer breit und hat drei Gebirgsstöcke mit sechzig Gipfeln, die höher als zweitausend Meter sind. Soviel zu den Fakten. Dem Mythos freilich kommt man damit nicht auf die Spur.
Der bekannteste Schriftsteller der Insel ist Nikos Kazantzakis, der berühmteste Musiker Mikis Theodorakis, und es scheint zwischen Sitia im Osten und Kastelli im Westen meistens die Sonne. Kretas bekanntestes Altertum heißt Knossos; ob allerdings der Minotauros dort hauste, ist ungewiß. Und schon steht man mit einem Fuß im Mythos, dem man auch sonst auf Kreta nicht entkommt. So ist Kreta etwa keineswegs so, wie es auf Postkarten dargestellt wird – auf absurden Fotografien, die überall in Metallständern vor jedem Kiosk hängen. Denn Männer reiten hier nicht auf Eseln, Frauen backen kein Anisbrot im Lehmofen hinter dem Haus, Bauern dreschen kein Getreide mit dem Holzschlegel, und Fischer fischen heute eher selten.
Vielmehr fahren die Männer fahren in allradgetriebenen Pritschenwagen herum, schwarzlackiert, mit Kuhfängern so groß wie ein Doppelbett. Frauen kaufen Brot aus dem nächstbesten Elektro-Schnellbackofen. Bauern bauen überhaupt kein Getreide mehr an, weil sie es zum subventionierten EU-Preis in der Kooperative abholen können. Fischer machen ihre bunten Holzboote im Hafen fest, damit sie sich wenigstens in Gedanken vorstellen können, eines Tages wieder rauszufahren, um zu fischen. In hundert Jahren vielleicht.
Fischen mit Dynamit
Die Strände waren nie besonders toll; in diesen Tagen sind sie nicht besser geworden, höchstens schmutziger. In der Gegend von Heraklion, der mit hundertfünfzigtausend Einwohnern größten menschlichen Siedlung Kretas, sieht es spätabends am Strand so aus, als seien die Müllkutscher der Stadt hier vorbeigekommen, weil sie keine Lust hatten, ihre Fuhre in eine Schlucht in den Bergen zu kippen.
An den immer noch dünn besiedelten Küsten im Süden ist das Meer türkisblau, kristallklar und ziemlich tot. Die einhändigen, einbeinigen, kopflosen Jungs der heimischen Fischereizunft haben ihre Fanggebiete dreißig Jahre lang gründlich gesäubert, mit Dynamit vor allem und mit Schleppnetzen so lang wie ein ganzes Fischerleben. Seit einiger Zeit gibt es nicht einmal mehr Seeigel, was die Strandhoteliers und ihre Gäste nicht weiter stören wird.
Wildkräuter statt Gyros
Wer über Kreta spricht, muß den Nationaldichter zu Wort kommen lassen. Für Nikos Kazantsakis war die Insel ein lebendes Wesen. Vom Psiloritis aus, dem höchsten Gipfel, auf den er geklettert war, sah er sie zu seinen Füßen liegen, „gebärend und dampfend wie ein Tier“. Das stimmt irgendwie noch immer, weil einige Millionen Ziegen und Schafe auf der freien Weide gehen; keiner weiß, wie viele es wirklich sind. Sie werden mit Millionen Euro aus Brüssel bezahlt und gehätschelt.Ihre Hüter brauchen vor allem Straßen und Geld. Die Behüteten brauchen Futter. Sie haben die Bergwelt so schnell und gründlich kahlgefressen, daß die Kinder der Schaf- und Ziegenhirten gar nicht mehr wissen, daß die Almen früher grün statt braun waren, daß die Alten fünfzig, nicht fünfhundert Tiere in der Herde hatten, daß es sogar im Gebirge Bäume gab und daß man mittags Wildkräuter aß statt Gyros; so blieb der Körper schlank, und das Herz schlug kräftig bis ins hohe Alter.
Wer Kreta früher bereiste, sagen wir vor dreißig Jahren, der wünschte sich, nie mehr nach Hause zurück zu müssen. Im April, wenn sich anderswo der Himmel zuzog, war die Landschaft ein Tollhaus der Natur. Hornissen, Bienen, Schmetterlinge und Nashornkäfer brausten über das dornige Brachland, ein Blütenmeer breitete sich aus bis an den Horizont. Wer aus dem Flugzeug stieg, in Chania zum Beispiel, der wußte, wo er gelandet war. Kretas Duft, der Duft seiner Kräuter, war unvergleichlich.
Für jeden ein Bett
Nikos Kazantsakis beantwortete die Frage nach dem Wesen seiner Heimat mit einem Gleichnis wie aus der Bibel: Ein Dorf in den Bergen müsse man sich vorstellen, irgendwo zwischen Heraklion und Rethimnon. Es sei Abend, die Sonne würde gleich untergehen. Aus der Tür seines Hauses trete ein älterer Herr, der Großvater des Dichters vielleicht oder auch ein anderer. Er entzünde das Licht in seiner Laterne und mache sich auf den Weg, gehe die Hauptstraße hinauf, leuchte enge Gassen aus, schaue in jeden Winkel und seufze, ein bißchen verzweifelt. Er sucht, doch er findet nicht.
Der Alte ist sichtlich enttäuscht, als er endlich wieder zu Hause ankommt, die Nachbargehöfte schlafen längst in dunkler Nacht. Jetzt erst löscht er den Docht und schließt die Tür. Er geht zu Bett, als letzter wohl im Ort. Jeden Abend tut er das, aber warum?
Kreta war reinste Gastfreundschaft, lehrt Kazantsakis‘ Parabel. Nur wer nachts schon dann nicht schlafen konnte, wenn der geringste Verdacht bestand, daß draußen in der Dunkelheit ein anderer vor verschlossener Tür stehen könnte, bei schlimmem Wetter womöglich, ohne Kost und Logis, der war wirklich ein Kreter, unabhängig von Rang und Besitz. Wollte heute jemand eine Landkarte griechischer Gastfreundschaft zeichnen, müßte er auf Kreta nur noch wenige Schwerpunkte eintragen. Dort, wo sich die Gebirgsstöcke der Insel auf mehr als zweitausend Meter erheben, im Dikti-Massiv oder in den Weißen Bergen, dort finden sich in ärmlichen Dörfern noch Epizentren der Gastfreundschaft, nicht mehr aber an den belebten Stränden des Massentourismus.
Der weiche Singsang des Dialekts
Ungefähr in der geographischen Mitte Kretas liegen die interessantesten Landschaften der Insel: die Sfakia an der kargen, einer Steinwüste ähnlichen Südseite, und ihr gegenüber, vom steilen Grat der Lefka Ori bestens abgeschirmt gegen die Hitze Afrikas, der Apokoronas – mit Flüssen, die kühles, klares Wasser führen, grünen Zypressen und lieblichen Weingärten. Oben, am achthundert Meter hohen Paß, fließen nach dem Regen die Wasser auseinander, viel nach Norden, wenig nach Süden. Und gleichsam stellvertretend für ganz Kreta scheiden sich hier auch die Geister.
Die Sfakia, seit jeher ein Hort der Überlieferung, hat nur ins Land gelassen, was- auf den ersten Blick zumindest – auch für das gewohnte Leben in der Dorfgemeinschaft von Nutzen war: Straßen, Autos, ein wenig Tourismus. Ihre Bergdörfer sind wohl deshalb bevorzugtes Ziel jener wenigen Gäste aus der Fremde, die Echtheit suchen, Individualisten die meisten. In den Kaffeehäusern stoßen sie tatsächlich auf Männer in dunklen Hemden und Jacken. Sie hören nichts als den melodischen, weichen Singsang des sfakiotischen Dialekts; sie sehen dieses merkwürdige, aus schwarz gefärbten Baumwollfäden geknüpfte Geflecht über der sonnenverbrannten Stirn der alten Knaben, ein Kopftuch namens Mandilli; und sie entdecken vielleicht sogar ein paar Füße, die in schweren, ledernen Reitstiefeln stecken.
Hammerschläge als Musik
Die Ebene von Askifou ist Mittelpunkt dieser rauhen Gegend, siebenhundert Meter liegt sie über dem Meeresspiegel, eingerahmt von Zweitausendern, beschützt und gefangen zugleich. Zweitausendvierhundert Meter ragt der Berg Kastro auf, in seinem kalten Schatten die Siedlung Ammoudari, eingebettet in Felder aus dunklem Schwemmland mit Reben und Kartoffeln. Aus einem kleinen, weiß getünchten Haus mit grünen Läden mitten im Ort dringen Hammerschläge fast wie Musik. Ein Schuhmacher arbeitet in seiner Werkstatt, dreißig Quadratmeter Zementboden, feuchte Wände, ein schwerer Kanonenofen, der auch im Sommer bollert. Männer schauen morgens vorbei, bücken sich ächzend unter der niedrigen Tür. Dann sitzen sie auf der hölzernen Bank, keiner mehr jung. Nasen wie Schnäbel ragen aus bärtigen, hageren Wangen, nur Raunen und Schweigen. Ein Menschenmuseum.
Nikos Gelaidakis, der Meister, stellt hier aus: sfakiotische Schäfer und Bauern, gekrümmte Rücken, schwielige Hände, Singsang. Neue Stiefel, schwarz, glänzend, mit silbernen Schnallen; alte Stiefel, die Seiten rissig wie trockener Ackerboden; ein schweres Regal am Eingang mit kniehohen Leisten, hartes Holz, so bleich wie Knochen, ein Beinhaus fast. Vor der Werkstatt rauschen Busse vorbei. Laut zieht der Tourismus seine Spur durch das Dorf. Die riesigen Wagen sind klimatisiert, sie verweilen nicht gerne, sie fahren nur. Sie bewegen Menschen, denen es langweilig wurde unten am Strand, die bloße Bewegung ist ihnen Programm genug. Passagiere sitzen hinter getönten Scheiben gekühlt, wie vakuumverpackt. Fremde bestaunen hier eine fremde Welt.
Ein Bulldozer pro Familie
Dort, wo das Wasser nach langer Talfahrt ankommt, räkelt sich lässig die Landschaft Apokoronas in ihrem neuen Kleid, Hügel mit Olivenhainen, Weinreben, Orangen. Ein Garten Eden, rauntenfrüher die Leute, nur zwei Plagen bedrohten das Land: die Grillides, eine Familie, die einst mit Sicherheitsgarantien an jeder Vendetta ihr Geld verdiente; und der Notias, ein heißer Fallwind aus dem Süden, der Ernten zerstört und labile Menschen leicht in den Wahnsinn treibt. Dort lebt der Händler Kostas Foundakis. Seinen Laden hat er in der nahen Stadt Chania, die Töchter verkaufen dort Kleider für besonders dicke Menschen. Er sagt, das sei ein glänzendes Geschäft. Auch Kostas‘ Nachbarn haben gut zu tun, denn sie üben bedeutende Berufe aus. Der eine ist Bauunternehmer, der andere Finanzbeamter, nur Ärzte sind heute noch wichtiger. Vor der Haustür des Händlers hat sich viel verändert in jüngster Zeit, dort machen nicht mehr Hummeln und Bienen den Lärm. Glaubt man den offiziellen Statistiken, kommen im Apokoronas auf jede Großfamilie ein Bagger und zwei Bulldozer. Teermaschinen durchstreifen Felder und Fluren, sie geben dem Land industrielle Struktur. Foundakis hat neulich seine Brachen verkauft, unter Ginstersträuchern verbergen sich fünfzig Hektar bestes Ackerland. Der Bauunternehmer wird sich darum kümmern, eine Ferienkolonie soll dort entstehen.
Manche Dinge aber bleiben, wie sie sind. Knossos zum Beispiel, dieses Kleinod englischen Spürsinns, dieses Luftschloß gepflegter Phantasie. Gepflegt wird das Bild der Minoer mit allen Ingredienzen des kultivierten Altertums: freundliche, rotbraune Menschen, fröhlicher Tanz und nackte, wippende Frauenbrüste, gertenschlanke Jünglinge, wuchtige Stiernacken, lachende Delphine vor den Küsten des unbefestigten Palasts, Theaterszenen, herrliche Fresken, die Leichtigkeit des Lebens vor viertausend Jahren. Ist es wirklich so gewesen – jäh dahingegangen, auf ewig unbegreiflich?
Mythos zum Anfassen
Schon der Archäologe Arthur Evans traute seinen Funden nicht. Mit Beton richtete er her, was ihm fehlte. Wände, Treppen, Dächer, Dinge zum Anfassen, um zu verstehen. Und dann erlebte der nostalgische Kulturtourismus seinen Schock: Menschenopfer! Wissenschaftler fanden Skelette, Kinderknochen zumal, dazu verräterische Messerspuren. Die minoische Epoche, identifiziert als Phänomen unbeschwerten Daseins, als reale Möglichkeit sogar, war sie womöglichvöllig anders? Konnte Unbeschwertheit wachsen aus einer Last von Blut und grausamem Tod? Die Diskussion verebbte. Fremdenführer loben nun wieder das Alabasterbad der Königin. Wer aber „Minotauros“ von Dürrenmatt liest, wird begreifen, warum Knossos Menschen traurig stimmt.
Es gibt Trost und Hoffnung. Wer ein hübsches Hotel in einem Dorf findet und ein Nashornkäfer saust ihm abends ins volle Glas, der sollte dort bleiben. Unbedingt. Wer in einer Taverne am Strand halt macht und der Wirt bedient ihn nicht gleich – weil er alleine am Herd steht und die Frau gerade Kräuter putzt, der sollte den Mann nach einem Zimmer fragen. Wer in der Stadt unterwegs ist und ein Lokal sieht, in dem eine schwarz gekleidete Frau, wahrscheinlich eine Witwe, für zwanzig unrasierte Männer kocht, wahrscheinlich Junggesellen, der sollte sich dort hinein wagen, denn er bekäme vielleicht das beste, billigste und unbekannteste Essen seines Touristenlebens. Wer ein Kaffeehaus entdeckt, in dem niemand die Haare mit der Sonnenbrille hochgesteckt hat, in dem es weder holländisches Bier vom Faß noch Instantkaffee mit Trinkhalm gibt, der sollte sich schleunigst einen griechischen Kaffee bestellen – sehr süß, weil er so am besten ist.
„Eßt dort, wo die schwarze Witwe kocht.“
Informationen: Griechische Zentrale für Fremdenverkehr, Neue Mainzer Straße 22, 60311 Frankfurt, Telefon: 069/2578270, Fax: 069/ 25782729, E-Mail: info@gzf-eot.de, Internet: www.gnto.gr (Englisch)
und FAZ
oder bei www.radio kreta.de (deutsch)
genau das ist KRETA.ich komme seit 35 Jahren nach Kreta aber ein neskafe mit strohhalm ist mir lieber als ein kafe ellinika metrio.
Sehr interessanter Beitrag. Die Zeit bleibt leider nicht stehen und Veränderungen sind unabwendbar. Leider sind sie nicht immer von Vorteil.
Der einfache Urlauber will Sonne, Strand, Meer uns sein all inclusive.
Wir, die schon viele Jahre nach Kreta kommen, suchen das was verloren scheint.
Exzellenter Beitrag!!!
Nur: Instantkaffee mit Trinkhalm muss sein… 🙂