Bei Griechenland denkt die Welt in diesem Jahr an Generalstreiks, verschobene Flüge und Gewerkschafter, die Reisende nicht auf ihre Fähre lassen. Für den Tourismus des Landes ist 2010 ein Schicksalsjahr.
Von Anne-Dore Krohn, Frankfurter Allgemeine
Es ist das Jahr, in dem Stephanie aus Frankreich sich in Griechenland sicher fühlt, Thomas aus Belgien sich über die gute Infrastruktur freut, Heinz-Martin aus Deutschland das Kulturleben lobt und Alexandra aus Kanada das Land ihren Freunden empfehlen würde. Ein Jahr, in dem Touristen vor antiken Säulen durch einen Imagefilm spazieren und Gutes vermelden – über ein Land, das in der Krise steckt und deshalb Imagefilme dreht, in denen von der Krise keine Rede ist. „You in Greece“ heißt die jüngste Offensive der griechischen Fremdenverkehrszentrale, und seit Mai kann man auf dem Onlineportal nicht nur Thomas und Heinz-Martin sehen, sondern zum Beispiel auch nachlesen, dass Griechenland gastfreundlich ist, ein sicheres Reiseland und eine westlich geprägte Demokratie.
2010 ist das Jahr, in dem die Welt, wenn sie an Griechenland denkt, Generalstreiks vor Augen hat, Touristen, die unter gleißender Sonne auf Koffern sitzen, und Gewerkschafter, die Reisende nicht auf ihre Fähren lassen. Diese Bilder sind nicht repräsentativ. Die Mehrzahl der Touristen ist von den Streiks nicht betroffen. Aber Tourismus ist eine sensible Angelegenheit. Im Mai, als bei Protesten in Athen drei Menschen starben, gab es viel Skepsis und einige Stornierungen, vor allem von Familien. Inzwischen hat sich die Situation stabilisiert, doch das zweite Quartal lief dieses Jahr nicht gut, das bestätigen alle, die Reisebüros, das Fremdenverkehrsamt, der Deutsche Tourismusverband DRV – und fast jeder in Griechenland.
Weil Griechenland und der Tourismus es dieses Jahr nicht so leicht haben miteinander, probiert man es mit allen Formen der Krisenintervention. Das griechische Ministerium für Kultur und Tourismus hat eine Facebook-Seite eingerichtet, man kann dort Fan von Griechenland werden und mit anderen Fans Fotos austauschen. Im Juni kündigte Pavlos Geroulanos, Minister für Kultur und Tourismus, an, jedem Reisenden Ausgaben für Übernachtung und Verpflegung zu ersetzen, wenn „Streiks oder Naturkatastrophen“ schuld seien. Das klang, als seien die Staatsschulden etwas Schicksalhaftes, höhere Gewalt wie der Ausbruch des Eyjafjällajökull, aber mit Kompensation.
Laut griechischer Fremdenverkehrszentrale kommen jährlich etwa 2,5 Millionen Deutsche nach Griechenland, mehr Touristen schickt keine andere Nation. Im Frühjahr wurde das deutsch-griechische Verhältnis allerdings auf die Probe gestellt: Der deutsche Boulevard zog über die „Pleite-Griechen“ her und druckte die Venus von Milo mit Stinkefinger. Zeus, so wurde behauptet, würde sich im Grabe umdrehen – dabei müsste Zeus eigentlich immer noch auf dem Olymp sitzen.
Als Gott der Gastfreundschaft sollte er dieses Jahr schwer beschäftigt gewesen sein, denn mit ihr klappt es immer noch, trotz gegenseitiger Hetzkampagnen – in Griechenland hatte es Aufrufe zum Boykott deutscher Waren gegeben, und eine Zeitung hatte die Berliner Siegessäule mit Hakenkreuz gedruckt. Wenn man in diesen Tagen aus Deutschland zum Beispiel nach Kreta kommt, um nachzusehen, wie es so steht um die Krise und die Gastfreundschaft, kann es passieren, dass einem fremde Menschen auf die Schultern klopfen, weil die Jogi-Jungs bei der WM ausgerechnet Argentinien besiegt haben, die Mannschaft, die Griechenland aus dem Spiel gekickt hatte.
Im Fall der griechischen Finanzkrise, so lernt man auf Kreta, gibt es zwei Touristengruppen, die vollkommen erhaben sind über jeden Zweifel, wegen ein paar Streiks ihre Reisepläne zu überdenken: die Luxustouristen und die Stammgäste. Die Luxustouristen, darüber wurde schon gesprochen, sind von der Wirtschaftskrise relativ unbetroffen – die größte Hotelkette Griechenlands, Grecotels, die nur Vier- und Fünf-Sterne-Hotels betreibt, gibt an, genauso viele Buchungen zu haben wie im Vorjahr. Das Fünf-Sterne-Hotel „Sensimar Royal Blue“ bei Rethymnon hat gerade erst eröffnet und ist fast ausgebucht, genauso das Fünf-Sterne-Haus „Amirandes“ zwanzig Kilometer östlich von Heraklion. In diesen Hotels taucht man in eine Art sorgenfreien Raum, in dem es normal ist, auf iPads herumzutippen, Fernsehsender aus aller Welt zu empfangen und zum Frühstück zwischen Sushi, Eiweißomelett oder Pancakes zu wählen. Es ist wunderbar und sehr mondän, aber der Hoteldirektor Vassilis Minadakis sagt, er habe manchmal den Eindruck, dass viele eher wegen des schönen Hotels kommen würden als wegen des Landes.
Überzeugte Griechenland-Fans, die nicht so aussehen, als würden sie das auf Facebook veröffentlichen, trifft man zum Beispiel im Landhotel „Enagron“, ein verwachsenes, duftendes Anwesen im Dorf Axos am Fuße des Psiloritis-Berges. Der Besitzer Jannis Papadakis hat viele Jahre als Manager für Coca-Cola gearbeitet und dann alles hingeschmissen für diesen Agritourismus-Hof. Jetzt, mitten in der Krise, hat er zehn Prozent mehr Gäste als 2009. Gäste wie das Paar aus Franken, das gerade am „Wie mache ich Käse?“-Kurs teilnimmt, seit Jahrzehnten nach Griechenland fährt und sich davon so schnell nicht abhalten ließe: „Manchmal gibt es keinen Strom, manchmal kein Wasser, jetzt eben manchmal keine Fähre.“
Die kretischen Gastgeber sehen das nicht ganz so gelassen. Man spricht in diesen Tagen oft von Athen, es ist das Jahr, in dem Athen überall ist. Die wenigen Quadratmeter des Syntagma-Platzes, dem Platz der Verfassung, auf dem sich oft die Wut über das Sparprogramm der Regierung entlädt, bestimmen das Leben auf den gesamten 131 957 Quadratkilometern des Landes. „Schauen Sie sich doch um“, sagen die Taxifahrer, Verkäufer, Kellner oder Hoteldirektoren auf den Kykladen, den Ionischen Inseln, auf dem Peloponnes oder den Saronischen Inseln, und sie deuten auf das Meer, die Berge, den Strand, die Pools, den Himmel und die Liegen. „Hier ist alles wie immer. Aber die in Athen, die sorgen dafür, dass wir weniger verdienen.“
Auch in Athen gibt es Unmut gegenüber den Gewerkschaften. Im April wurden als Entschuldigung sogar Rosen an gestrandete Touristen verteilt. Nur wenige, die im Tourismus arbeiten, äußern Solidarität mit den Streikenden. Man muss sie fast suchen. Das Sparprogramm der Regierung sei hart, sagt zum Beispiel ein Kellner im Strandort Kamari auf der Insel Santorin, jeder habe das Recht zu demonstrieren: „Wenn meine Gäste etwas nicht mögen, wehren sie sich ja auch.“
Santorin liegt etwa 250 Kilometer von Athen entfernt, von Kreta erreicht man die südlichste der Kykladeninseln in zwei Stunden mit der Fähre. Eine halbmondförmige Vulkaninsel mit weißen, immerzu frisch gestrichenen Höhlenhäusern, rot- und schwarzsandigen Stränden und einer Vulkankaldera, an dessen Rändern man sich zum Sonnenuntergang versammelt. „Es fühlt sich seltsam an, über Urlaub zu sprechen“, heißt es im Vorwort des „Santorini Island Guide 2010“, „wenn die Welt auf Griechenlands Krise sieht, nicht auf seine Schönheit.“ Dieses Jahr sind noch weniger Touristen da als 2009. Die Hotels melden leere Zimmer, Autovermieter bleiben auf ihren Rollern sitzen. Ob das an der globalen Weltwirtschaftskrise oder den lokalen Unruhen liegt, weiß keiner so genau.
Von den Generalstreiks, die man inzwischen kaum noch mitzählen kann, ist auf Santorin wenig zu spüren. Dass ab und zu keine griechische Tageszeitung herauskommt, stört Touristen meist wenig, genauso wie der Streik der Fußball-Kommentatoren während der WM, dafür gab es beim Public-Tavernen-Viewing großzügige Wirte mit unendlichen Ouzo-Vorräten. Nur wenn die Fähren und Flugzeuge nicht fahren und fliegen, wie sie sollen, wird es ein bisschen mühsam. Vor allem das Hotelpersonal steht dann vor der logistischen Herausforderung, mitten in der Nacht Zimmer zu putzen, Gäste zu verabschieden und andere zu begrüßen, alles gleichzeitig.
Nur von den schönen Seiten des Landes ist in diesem Sommer wenig die Rede
Es ist das Jahr, in dem alle, die mit dem griechischen Fremdenverkehr zu tun haben, ein bisschen spontaner sein sollten. „Ein ziemlich besonderes Jahr“, sagt Petra Ibanidis vorsichtig, die seit 17 Jahren bei Attika-Reisen arbeitet, „wir müssen sehr flexibel sein.“ Reisebüros und Veranstalter, die sich Griechenland-Spezialist nennen, sind inzwischen Meister darin, um Generalstreiks herumzubuchen.
Die Wendigkeit, die sich der griechische Fremdenverkehr in diesem Jahr zwangsläufig antrainiert, könnte bald von Nutzen sein. Es gibt eine Vision, sie heißt „Greek Tourism 2020“. Im Moment trägt der Tourismus schon mehr als 16 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, das soll noch mehr werden: In den nächsten zehn Jahren möchte man die Bürokratie ab- und die Infrastruktur aufbauen und den Tourismus zur führenden Wirtschaftskraft machen. Schon auf der Internationalen Tourismusbörse im März hatte die stellvertretende Tourismusministerin und frühere Fellini-Muse Angela Gerekou dafür geworben. Mit professionellem Optimismus war sie durch die Hallen in Berlin gestöckelt und hatte dazu aufgefordert, jetzt – am besten gestern, aber bitte auf jeden Fall! – nach Griechenland zu fahren. Dummerweise musste Gerekou im Mai zurücktreten, weil ihr Mann, ein Schlagersänger, als Steuersünder entlarvt wurde. Griechenland greift jetzt scharf durch. Angeblich chartern die Finanzbehörden sogar Helikopter, um nicht angemeldete Pools aufzuspüren.
Gerekous Idee, jetzt nach Griechenland zu fahren, war trotzdem nicht schlecht: Als EU-Bürger tut man sich ja auch irgendwie selbst etwas Gutes damit. 2010 ist ein Jahr, in dem man seiner weltbürgerlichen Verantwortung nachkommt, wenn man sich an einen griechischen Strand legt. Und sollten über einem Helikopter kreisen, weiß man: Es geht nur ums Geld.
2011 sind wir wieder in Kreta—da kann uns nichts abhalten !!!