Weihnachten in Griechenland 2012: „Selig sind die Barmherzigen“

Von STEPHAN KAUFMANN, Frankfurter Rundschau

Zu Weihnachten 2012 ist ein Viertel aller Griechen arbeitslos, bei den jungen Menschen sind es mehr als 50 Prozent. In vier Jahren Krise hat die deutsche Wirtschaft mächtig profitiert – von den Schulden der armen Krisenländer.

Weihnachten ist das Fest der Liebe, des Friedens – und der Barmherzigkeit. Mit Spenden wird die geltende Regel durchbrochen, dass jeder nur das erhält, worauf er einen Anspruch hat. Wer spendet, gibt freiwillig. Barmherzigkeit ist ursprünglich eine Eigenschaft Gottes – und eine der wichtigsten Pflichten im Christentum wie im Islam. Barmherzig ist, wer Hungernde speist, Fremde aufnimmt oder Schulden erlässt. Der Nutzen für den Spender liegt in der Pflichterfüllung. Daneben aber winken geldwerte Vorteile. Das gilt besonders beim Schuldenerlass. Zum Beispiel für Griechenland.

Vier Jahre Krise haben die griechische Wirtschaft ruiniert. Seit 2008 ist die Produktion um ein Fünftel gesunken. Zu Weihnachten 2012 ist ein Viertel aller Griechen arbeitslos, bei den jungen Menschen sind es sogar mehr als die Hälfte. Die Schuldenlast des Landes wird immer schwerer.

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Reichtum aus Schulden
Die Krise Südeuropas ist das Ergebnis einer Entwicklung, von der die deutsche Wirtschaft lange profitiert hat. Deutsche Exporteure lieferten nach Spanien, Portugal, Griechenland und verdienten gut. Deutsche Banken gaben den dazu nötigen Kredit – und verdienten mit. Heute ist Deutschland reich und Südeuropa arm. Doch Deutschlands Reichtum besteht zu einem großen Teil aus Forderungen an die Krisenländer, also aus ihren Schulden.

Um diesen Reichtum zu retten, wurden bereits zwei Hilfspakete für Athen geschnürt. Zudem erhielt es einen Schuldenerlass über 100 Milliarden Euro. Dieser „größte Erlass der Geschichte“ ist aber mächtig in sich zusammen geschrumpft. Am Ende bleibt für Athen wohl nur eine Entlastung von 24 Milliarden. Im Gegenzug aber muss Griechenland Auflagen erfüllen, die „durchaus einen Zug von Schuldknechtschaft an sich haben“, schreibt der Hans-Jürgen Wagener, emeritierter Volkswirtschaftsprofessor in Frankfurt/Oder.

Ziel der Unterstützung ist die „Schuldentragfähigkeit“: Griechenland soll in die Lage versetzt werden, seine Verbindlichkeiten zu bedienen. Mehr nicht. Doch nicht einmal das dürften die Hilfskredite leisten. Griechenland bleibt auf Dauer zahlungsunfähig. Einen neuen Schuldenerlass lehnt die deutsche Bundesregierung aber strikt ab. Athens Verbindlichkeiten und Zinsen werden weiter gestundet – und damit auf ewig verlängert. Die Bank Credit Suisse nennt dies einen „perpetual zero-bond“, also eine endlos laufende unverzinsliche Anleihe.

Schuld besteht nicht ewig
So wird die Fiktion aufrechterhalten, dass Griechenland irgendwann doch zahlt. Doch keine Schuld kann ewig bestehen. Irgendwann muss der Schuldenerlass wohl kommen. Die Frage ist nur, wie viele Griechen bis dahin noch ihren Job verlieren müssen, wie viele Griechinnen noch ohne ärztliche Hilfe entbinden müssen, und wie viele Griechen sich aus Verzweiflung das Leben nehmen – die Selbstmordrate hat sich seit 2008 bereits verdoppelt. „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“, so steht es in der Bibel. Darauf muss Griechenland hoffen. Schließlich hat es auch schon einmal auf Forderungen verzichtet. Nutznießer war Deutschland.

Zu Weihnachten vor 60 Jahren lastete die Nachkriegsschuld schwer auf der Bundesrepublik. Zum einen waren dies Vorkriegsschulden im Ausland, zum großen Teil nicht geleistete Reparationszahlungen nach dem Ersten Weltkrieg. Dazu kamen Nachkriegsschulden, unter anderem aus Marshall-Plan-Hilfen. Zusammen ergab sich also eine Forderung von 30 Milliarden Mark. Angesichts einer Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik von 70 Milliarden sei diese Forderung „unmöglich zu erfüllen“, so Hermann Josef Abs, der 1952 einen Schuldenerlass für Deutschland verhandelte.

Forderungen nach kompletter Rückzahlung der Schulden „wären der sicherste Weg, die Deutschen in die Arme der Russen zu treiben“, warnte damals der US-Außenpolitiker Alexander Wiley. Das durfte nicht passieren. Unter US-amerikanischer Führung gewährten am Ende daher 65 Gläubigerstaaten – darunter auch Griechenland – einen Erlass von 50 Prozent der gesamten Auslandsverbindlichkeiten und dazu eine massive Senkung der Zinsen. Nicht Teil des Schuldenabkommens war die Frage der Reparationen für die von Nazi-Deutschland besetzten Länder – wie zum Beispiel Griechenland. Auch die griechischen Zwangsarbeiter wurden nicht entschädigt.

Wachstum fördern statt sparen
Die Gläubigerstaaten achteten zudem darauf, dass die Rest-Schuld tragbar blieb. Die Rückzahlung der Schulden wurde gestreckt bis zum Jahr 1988. Anders als im Fall Griechenlands wurden von der jungen Bundesrepublik keine Sparprogramme verlangt, sondern das Wachstum gefördert. Während Griechenland heute seine Schulden mit neuen Schulden zurückzahlt, konnte die Bundesrepublik die Rückzahlung aus seinen Exporteinnahmen decken.

Anders als Athen heute konnte Westdeutschland von einem globalen Aufschwung profitieren. Seine Wirtschaftsleistung legte jedes Jahr zwischen neun und acht Prozent zu. Die Auslandsschulden Westdeutschlands sanken nach der vollen Umsetzung des Abkommens 1958 auf sechs Prozent der Wirtschaftsleistung. 1988 konnte die letzte Tranche zurückgezahlt werden. „Seine heutige finanzielle Stabilität verdankt Deutschland Amerika, das nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg auf viel Geld verzichtet hat“, sagt Albrecht Ritschl, Wirtschaftshistoriker an der London School of Economics.

Washington verfolgte damit jedoch seine eigenen Ziele: Westdeutschland sollte als Frontstaat im Kalten Krieg aufgebaut werden, „um eine weitere Ausbreitung der kommunistischen Herrschaft zu verhindern“, so Commerzbank-Ökonom Ralph Solveen.

Diese Zeiten sind vorbei. Doch auch heute könnte ein Schuldenerlass Griechenland den Weg ebnen. Daher macht sich der Internationale Währungsfonds (IWF) dafür stark – bislang erfolglos. Ein Verzicht der Gläubiger wäre übrigens nichts Besonderes: Der IWF zählt über 600 Schuldenerlasse seit den fünfziger Jahren, knapp 60 davon beinhalteten eine echte Verringerung des ausstehenden Kreditvolumens.

„Wir wollen Griechenland helfen“, betonte Regierungssprecher Steffen Seibert kürzlich zum Besuch von Kanzlerin Angela Merkel in Athen. Vielleicht sollte sich die Kanzlerin der Worte eines ihrer Vorgänger erinnern: „Wer ernsthaft will, muss auch bereit sein zu handeln und Opfer zu bringen“, mahnte Konrad Adenauer in seiner Weihnachtsansprache 1952.
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