Yanis Varoufakis: „Rettet den Kapitalismus“.

Der heutige griechische Finanzminister erklärt, warum man zunächst das System vor sich selber schützen muss. Bekenntnisse eines unorthodoxen Marxisten inmitten einer abstossenden europäischen Krise.

Von Yanis Varoufakis

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Yanis Varoufakis in Athen

Im Jahr 2008 erlebte der Kapitalismus einen globalen Starrkrampfanfall. Dieser löste eine Kettenreaktion aus, die Europa in eine Abwärtsspirale stiess. Diese andauernde Krise bedroht aber nicht nur Arbeiterinnen, Beraubte, Banker, spezielle Gruppen, soziale Klassen oder sogar Nationen. Nein, Europas aktuelle Lage stellt eine Bedrohung für die ganze Zivilisation dar.

Meines Erachtens erleben wir gegenwärtig nicht einfach eine weitere zyklische Krise, die überwunden sein wird, sobald die Profitrate nach den unvermeidlichen Lohnsenkungen wieder steigt. Deshalb stellt sich für uns Radikale folgende Frage: Sollen wir diesen generellen Niedergang des europäischen Kapitalismus als Chance begreifen, ihn durch ein besseres System zu ersetzen? Oder müssen wir so beunruhigt sein, dass wir eine Kampagne zur Stabilisierung des europäischen Kapitalismus starten sollten?

Für mich ist die Antwort klar. Die Krise in Europa wird wohl kaum eine bessere Alternative zum Kapitalismus hervorbringen, sondern viel eher gefährliche rückwärtsgewandte Kräfte entfesseln, die ein Blutbad verursachen und gleichzeitig jede Hoffnung auf Fortschritt auf Generationen hinaus vernichten könnten.

Für diese Ansicht bin ich von gutmeinenden Radikalen beschuldigt worden, ich sei defätistisch und wolle ein sozioökonomisches System in Europa retten, das sich nicht rechtfertigen lässt. Diese Kritik, das gestehe ich offen, schmerzt. Und sie schmerzt, weil sie nicht nur einen kleinen Kern Wahrheit enthält.

Ich teile die Ansicht, dass die heutige EU grundsätzlich ein undemokratisches Kartell ist, das die Völker Europas auf einen Weg der Menschenfeindlichkeit, der Konflikte und einer andauernden Rezession geführt hat. Ich akzeptiere auch die Kritik, dass ich Politik auf der Grundlage einer Einschätzung betrieben habe, wonach die Linke grundsätzlich besiegt worden sei und es vorläufig auch bleibe. Ich gestehe, ich würde lieber ein radikaleres Programm vertreten, das im Kern darin bestünde, den europäischen Kapitalismus durch ein anderes, vernünftigeres System zu ersetzen.

Doch an dieser Stelle möchte ich meine Sicht auf einen krisengeschüttelten, zutiefst unvernünftigen und abstossenden europäischen Kapitalismus darlegen, dessen Zusammenbruch, trotz all seiner Fehler, unter allen Umständen vermieden werden sollte. Dieses Bekenntnis soll dazu dienen, Radikale von einem widersprüchlichen Auftrag zu überzeugen: den freien Fall des europäischen Kapitalismus zu stoppen, eben gerade damit wir Zeit bekommen, um eine Alternative zu formulieren.

Als ich 1982 meine Dissertation begann, wählte ich bewusst ein hochmathematisches Thema, für das das Denken von Karl Marx unerheblich war. Als ich später eine akademische Karriere als Lehrbeauftragter in herkömmlichen wirtschaftswissenschaftlichen Instituten verschiedener Universitäten einschlug, bestand das implizite Einverständnis zwischen mir und meinen Jobgebern darin, dass ich jene Art Wirtschaftswissenschaft lehren würde, in der Marx nicht vorkam. In den späten achtziger Jahren wurde ich beispielsweise von der Universität Sydney angestellt, um einen linken Kandidaten zu verhindern (was ich damals allerdings nicht wusste).

Nachdem ich im Jahr 2000 nach Griechenland zurückgekehrt war, verbündete ich mich mit dem damaligen Pasok-Aussenminister Giorgios Papandreou, da ich hoffte, verhindern zu helfen, dass die wiedererstarkte Rechte an die Macht zurückkehrte, die in Griechenland sowohl innen- wie aussenpolitisch eine fremdenfeindliche Politik durchsetzen wollte. Wie jedermann weiss, scheiterte Papandreous Partei nicht nur dabei, die Xenophobie zu stoppen. Sie führte auch eine strikte neoliberale Politik durch, die die sogenannten Bail-outs in der Eurozone einläutete, was, unbeabsichtigt, dazu führte, dass Nazis auf die Strassen von Athen zurückkehrten. Zwar trat ich Anfang 2006 als Papandreous Berater zurück und wurde zu einem der heftigsten Gegner seiner Politik, mit der er die Implosion Griechenlands nach 2009 noch verschlimmerte. Dennoch haben meine öffentlichen Interventionen in die Debatten um Griechenland und Europa, etwa der «Modest Proposal for Resolving the Eurozone Crisis» 1, den ich mittrug, keinerlei marxistischen Anstrich.

Unberechenbar im eigenen Marxismus

Vor diesem Hintergrund mögen Sie vielleicht überrascht sein, wenn ich mich als Marxist oute. Tatsächlich hat Karl Marx meine Sicht auf die Welt geprägt, und zwar seit meiner Kindheit bis heute. Darüber spreche ich nicht allzu oft freiwillig in der guten Gesellschaft, weil bei der blossen Erwähnung des M-Worts zumeist abgeschaltet wird. Aber ich verleugne es auch nicht. Nachdem ich einige Jahre vor einem Publikum referierte, dessen Ideologie ich nicht teile, ist in mir das Bedürfnis gewachsen, offen über den Einfluss von Marx auf mein Denken zu sprechen. Und zu erklären, warum ich, obwohl ich ein dezidierter Marxist bin, es wichtig finde, seiner Theorie in bestimmten Fragen entschieden zu widersprechen. Das heisst mit anderen Worten, im eigenen Marxismus unorthodox und unberechenbar zu sein.

Ein radikaler Gesellschaftstheoretiker kann, so glaube ich, den wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream auf zweierlei Arten herausfordern: einerseits durch eine eingegrenzte Kritik, indem er die Axiome des Mainstreams akzeptiert und dann dessen interne Widersprüche aufdeckt, indem er sagt: «Ich werde eure Annahmen nicht bestreiten, aber dies sind die Gründe, warum eure eigenen Schlussfolgerungen nicht logisch daraus hervorgehen.» So hat Marx die britische politische Ökonomie untergraben. Er akzeptierte jedes Axiom von Adam Smith und David Ricardo, um zu zeigen, dass im Rahmen ihrer Annahmen der Kapitalismus ein widersprüchliches System war. Andererseits kann ein radikaler Theoretiker natürlich eine alternative Theorie konstruieren in der Hoffnung, dass sie ernst genommen wird.

Bezüglich dieses Dilemmas war ich immer der Meinung, dass die herrschenden Kräfte niemals durch Theorien gestört werden, die von anderen Annahmen als ihren eigenen ausgehen. Kein etablierter Ökonom wird sich heute mit marxistischen oder auch nur neoricardianischen Theorien auseinandersetzen. Man kann den Mainstream neoklassischer ÖkonomInnen nur herausfordern, wenn man die internen Widersprüchlichkeiten seines eigenen Modells zeigt. Aus diesem Grund hatte ich mich von Beginn an entschieden, in die «Gedärme» der neoklassischen Theorie einzutauchen und praktisch keine Energie darauf zu verschwenden, ein alternatives, marxistisches Modell des Kapitalismus zu entwickeln. Meine Gründe dafür waren, behaupte ich, durchaus marxistisch.

Doch wenn ich die Welt, in der wir leben, kommentieren sollte – und zwar im Gegensatz zur herrschenden Ideologie, wie die Welt funktionieren sollte –, gab es für mich keine andere Möglichkeit, als auf die marxistische Tradition zurückzugreifen, die mein Denken geprägt hat: und dies seit jenen Tagen, als mein Vater, der Metallurg war, mir als Kind die Auswirkungen technischer Innovationen auf historische Prozesse veranschaulichte. Wie zum Beispiel der Übergang vom Bronze- zum Eisenzeitalter die historische Entwicklung verändert hatte; wie die Entdeckung der Stahlherstellung die historische Zeit um den Faktor zehn beschleunigt hat und wie die auf Silikon basierenden IT-Technologien sozioökonomische und historische Brüche vorantreiben.

Diese Einsicht in den ständigen Triumph der menschlichen Vernunft über unsere technischen Mittel und die Natur – ein Triumph, der immer auch dazu dient, die Rückständigkeit unserer sozialen Beziehungen und Institutionen sichtbar zu machen – verdanke ich Marx.

Den Schriften von Marx begegnete ich relativ früh als Folge der seltsamen Zeiten, in denen ich aufwuchs, als Griechenland versuchte, dem Albtraum der neofaschistischen Diktatur zwischen 1967 und 1974 zu entrinnen. Was mich beeindruckte, war Marx’ unübertreffliche, überzeugende Gabe, ein dramatisches Drehbuch für die menschliche Geschichte zu schreiben, ja für die menschliche Verdammnis, die durchwirkt war von der Möglichkeit der Erlösung und wirklicher Spiritualität.

Marx schuf eine Erzählung, die von Arbeitern, Kapitalisten, Beamten und Wissenschaftlern bevölkert war – dramatische Figuren, die um Vernunft und Wissenschaft im Rahmen einer sich selbst ermächtigenden Menschheit kämpften, während sie, entgegen ihren Absichten, dämonische Kräfte entfesselten, die ihre eigene Freiheit und Menschlichkeit überwältigten und unterdrückten. Es war ein Zusammentreffen von Dr. Faust und Dr. Frankenstein mit Adam Smith und David Ricardo.

Diese dialektische Perspektive, in der alles mit seinem Gegenteil schwanger geht, sowie das scharfe Auge, mit dem Marx die Möglichkeiten für Veränderungen in den unveränderlich scheinenden sozialen Strukturen entdeckte, halfen mir, die grossen Widersprüche der kapitalistischen Epoche zu begreifen. Sie lösten das Paradox eines Zeitalters auf, das den bemerkenswertesten Reichtum und im gleichen Zug unübersehbare Armut produzierte. Angesichts der europäischen Krise, der Verwertungskrise in den USA und der lang andauernden Stagnation des japanischen Kapitalismus verkennen die meisten KommentatorInnen den dialektischen Prozess unter ihrer Nase. Sie erkennen den Schuldenberg und die Verluste der Banken, aber vernachlässigen die Kehrseite der Medaille: den Berg brachliegender Ersparnisse, die aus Angst «eingefroren» sind und nicht in produktive Investitionen verwandelt werden. Eine marxistische Einsicht in Polaritäten hätte ihnen die Augen öffnen können.

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Karikatur von Freund Klaus Stuttmann

Ein Hauptgrund, warum die herrschende Meinung mit der gegenwärtigen Realität nicht zurechtkommt, besteht darin, dass sie niemals die dialektisch enge «verbundene Produktion» von Schulden und Kapitalüberschuss, von Wachstum und Arbeitslosigkeit, von Armut und Reichtum, von Spiritualität und Verdorbenheit und tatsächlich von Gut und Böse, von neuen Perspektiven des Vergnügens und neuen Formen der Sklaverei, von Freiheit und Versklavung begriffen hat. Das Drehbuch von Marx wies uns auf diese Polaritäten als Quellen der Listen der Geschichte hin.

Seit ich als Ökonom zu denken begonnen habe, meine ich, dass Marx eine Entdeckung gemacht hat, die im Herzen jeder sinnvollen Analyse des Kapitalismus bleiben muss, und zwar die Entdeckung einer weiteren Polarität innerhalb der menschlichen Arbeit, zwischen den beiden verschiedenen «Naturen» der Arbeit: erstens Arbeit als eine wertschöpfende Aktivität (die «formgebende Tätigkeit» durch das «Feuer der Arbeit», wie Marx sagt), die niemals im Voraus quantifiziert werden kann (und deshalb nicht in eine Ware umgewandelt werden kann), und zweitens Arbeit als Quantität (das heisst verausgabte Arbeitsstunden), die käuflich und mit einem bestimmten Preis versehen ist. Was Arbeit von anderen produktiven Energieausstössen wie zum Beispiel Elektrizität unterscheidet, ist ihre doppelte, widersprüchliche Natur. Diese Differenzierung qua Widerspruch hat die politische Ökonomie vor Marx nicht gemacht, und die heutige herrschende Ökonomie weigert sich hartnäckig, sie anzuerkennen.

Marx’ bemerkenswerte Analyse

Sowohl Elektrizität wie Arbeit können als Waren betrachtet werden. Tatsächlich bemühen sich sowohl Unternehmerinnen wie Arbeiter darum, die Arbeit warenförmig zu machen. Unternehmerinnen benutzen ihren ganzen Scharfsinn und den ihrer Human-Resources-ZudienerInnen dazu, die Arbeit zu quantifizieren, zu messen und zu homogenisieren. Gleichzeitig suchen Angestellte auf Arbeitssuche mit allen Mitteln, ihre Arbeitskraft zur Ware zu machen, Lebensläufe zu schreiben und umzuschreiben, um sich als Anbieter quantifizierbarer Arbeitseinheiten darzustellen. Und da ist der Haken. Wenn Arbeiterinnen und Unternehmer jemals alle Arbeit erfolgreich in Waren verwandeln, wird der Kapitalismus untergehen. Das ist eine Einsicht, ohne die die Tendenz des Kapitalismus, ständig Krisen zu produzieren, nie ganz begriffen werden kann, und zudem eine Einsicht, die niemand haben kann, ohne ein wenig Marx studiert zu haben.

Im Science-Fiction-Klassiker «Invasion of the Body Snatchers» von 1956 greifen uns die Aliens nicht direkt an, wie etwa in H. G. Wells’ «The War of the Worlds». Stattdessen werden die Menschen von innen her erobert, bis nichts mehr von ihrem menschlichen Geist und ihren Gefühlen übrig ist. Ihre Körper bleiben als blosse Hüllen zurück, die einst einen freien Willen enthielten und nun arbeiten, das alltägliche Leben absolvieren und als menschliche Simulacra, also blosse Zeichen funktionieren, die von den nicht quantifizierbaren Launen der menschlichen Natur befreit sind. Das entspricht etwa dem, was entstehen würde, wenn die menschliche Arbeit vollkommen auf menschliches Kapital reduziert würde und so ins herkömmliche ökonomische Modell eingefügt werden könnte.

Jede nicht marxistische Wirtschaftstheorie, die menschliche und nicht menschliche Produktivität als austauschbare und qualitativ gleichwertige Quantitäten behandelt, setzt voraus, dass die Entmenschlichung der menschlichen Arbeit vollendet ist. Aber falls sie je vollendet werden könnte, dann würde dies das Ende des Kapitalismus als eines Systems bedeuten, das Werte schaffen und austauschen könnte. Erstens würde ein System entmenschlichter Simulacra oder von Automaten einer mechanischen Uhr voller Rädchen und Federn gleichen, ein jedes Zeichen mit einer eigenen, einzigartigen Funktion, die zusammen ein «Gut» produzieren: die Zeitmessung. Doch wenn diese Gesellschaft nichts anderes als solche Automaten enthielte, wäre die Zeitmessung kein «Gut». Es wäre sicherlich ein Resultat, aber warum ein Gut? Ohne reale Menschen, die die Funktion der Uhr erfahren könnten, kann es nichts «Gutes» oder «Böses» geben. Eine Gesellschaft aus Automaten würde, wie eine mechanische Uhr oder ein Schaltkreis, voller funktionierender Teile sein, würde eine Funktion vorführen, aber nichts, was sinnvollerweise als «gut» oder «böse», ja überhaupt als «Wert» bezeichnet werden könnte.

Falls das Kapital es je schaffen würde, die Arbeit vollkommen zu quantifizieren und damit zur Ware zu machen, so wie es dies ständig versucht, wird es auch diese unbestimmbare, aufsässige menschliche Freiheit aus der Arbeit austreiben, die erst die Hervorbringung von Wert ermöglicht. Die glänzende Einsicht von Marx in das Wesen der kapitalistischen Krise war genau dies: Je erfolgreicher der Kapitalismus Arbeit in eine Ware verwandelt, desto weniger Wert besitzt jede produzierte Einheit, desto tiefer ist die Profitrate und desto näher die nächste hässliche Rezession der Wirtschaft als eines Systems. Die menschliche Freiheit als ökonomische Kategorie darzustellen, ist die einzigartige Einsicht von Marx, die ihm erlaubt, eine entschieden dramatische und analytisch genaue Interpretation des Kapitalismus zu liefern, der immer wieder aus dem Erfolg des Wachstums Rezession und Depression gebiert.

Wenn Marx schrieb, Arbeit sei das lebendige, formgebende Feuer, sie sei die Vergänglichkeit der Dinge, so lieferte er den grössten Beitrag, den je ein Ökonom zum Verständnis der scharfen Widersprüchlichkeit, die in der DNA des Kapitalismus sitzt, geliefert hat. Er betonte die Realität, dass Arbeit in ihrer Warenform von flüssigem Kapital (Geld) erworben werden kann, aber dass sie immer einen feindlichen Willen gegen den kapitalistischen Käufer behält. Marx machte damit nicht nur eine psychologische, philosophische oder politische Feststellung. Er lieferte vielmehr eine bemerkenswerte Analyse, warum Arbeit in jenem Moment, in dem sie (als eine nicht quantifizierbare Tätigkeit) diese Feindseligkeit aufgibt, steril und unfähig wird, Wert zu produzieren.

Die Freiheit der Neoliberalen

In einer Zeit, in der die Neoliberalen die Mehrheit der Menschen mit ihren theoretischen Fangarmen umschliessen und beständig die Ideologie wiederholen, man müsse die Produktivität steigern, um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, um so Wachstum zu schaffen …, in einer solchen Zeit bietet Marx’ Analyse ein kraftvolles Gegenmittel. Das Kapital kann in seinem Kampf, Arbeit in eine unbeschränkt biegsame, mechanische Produktivkraft zu verwandeln, niemals gewinnen, ohne sich selbst zu zerstören. Das ist es, was weder die Neoliberalen noch die Keynesianer je verstehen werden. «Wenn die ganze Klasse der Lohnarbeiter durch die Maschinerie vernichtet würde, wie schrecklich für das Kapital, das ohne Lohnarbeit aufhört, Kapital zu sein!», wie Marx schrieb.

Praktisch alle Denkschulen, auch progressive ÖkonomInnen, behaupten, dass heute, obwohl Marx eine eindrückliche Persönlichkeit gewesen sei, von seinen Erkenntnissen nichts mehr von Bedeutung sei. Ich bin da anderer Meinung. Neben der Tatsache, dass er das grundlegende Drama der kapitalistischen Dynamik begriffen hatte, vermittelte mir Marx auch die Werkzeuge, dank deren ich immun gegenüber der giftigen Propaganda der neoliberalen GegnerInnen wirklicher Freiheit und Vernunft geworden bin. Zum Beispiel erliegt man leicht der Vorstellung, dass Reichtum privat produziert und dann durch einen sozusagen illegalen Staat mittels Steuern enteignet wird. Dabei hat Marx schlagend gezeigt, dass gerade das Gegenteil zutrifft: Reichtum wird gemeinschaftlich produziert und dann privat angeeignet, und zwar durch die sozialen Beziehungen der Produktion und der Eigentumsverhältnisse, die wiederum zu ihrer Aufrechterhaltung praktisch ausschliesslich auf einem falschen Bewusstsein beruhen. Gleiches gilt für das Konzept der «Autonomie», das so gut in unsere postmoderne Zeit zu passen scheint. Auch sie ist kollektiv produziert, durch die Dialektik der gegenseitigen Anerkennung, und wird dann privat angeeignet.

In seinem jüngsten Buch «Never Let a Serious Crisis Go to Waste. How Neoliberalism Survived the Financial Meltdown» hat der Historiker Philip Mirowski gezeigt, wie der Neoliberalismus eine Mehrheit der Leute überzeugen konnte, dass Märkte nicht nur ein nützliches Mittel zu einem bestimmten Zweck sind, sondern ein Zweck in sich selbst. Gemäss dieser Auffassung können gemeinschaftliche Aktivitäten und öffentliche Institutionen es niemals «richtig machen», während die ungehinderten Tätigkeiten der dezentralisierten privaten Interessen nicht nur in säkularisierter göttlicher Vorsehung das richtige Resultat produzieren, sondern auch die richtigen Wünsche, Eigenschaften und sogar Ethiken.

Im 20. Jahrhundert haben sich zwei politische Bewegungen auf das marxsche Denken bezogen, nämlich die kommunistischen und die sozialdemokratischen Parteien. Beide – zusätzlich zu ihren anderen Fehlern (und Verbrechen) – versäumten es zu ihrem eigenen Schaden, Marx in einer zentralen Hinsicht zu folgen: Anstatt Freiheit und Vernunft als die zentralen Schlachtrufe und Konzepte zu übernehmen, entschieden sie sich für Gleichheit und Gerechtigkeit und überliessen so das Konzept der Freiheit letztlich den Neoliberalen. Marx war unzweideutig: Das Hauptproblem des Kapitalismus besteht nicht darin, dass er ungerecht ist, sondern dass er unvernünftig ist, weil er regelmässig ganze Generationen der Entbehrung und der Arbeitslosigkeit überantwortet. Er verwandelt sogar KapitalistInnen in angstbesetzte Automaten, weil sie ebenso von den Maschinen versklavt sind, die sie angeblich besitzen. Denn sie leben in ständiger Furcht, dass sie keine KapitalistInnen mehr wären, wenn sie ihre Mitmenschen nicht in Waren verwandelten, um die Kapitalakkumulation besser voranzutreiben.

Wenn also der Kapitalismus ungerecht erscheint, dann weil er alle versklavt, Arbeiter ebenso wie Kapitalistinnen; er verschleudert menschliche und natürliche Ressourcen. Dieselbe Produktionsweise, die aufsehenerregende Gadgets und unermesslichen Reichtum erzeugt, erzeugt zugleich tiefes Unglück und Krisen. Weil die Sozialdemokratie und die Linke es nicht schafften, eine Kritik des Kapitalismus anhand der Begriffe Freiheit und Vernunft zu formulieren, wie es Marx für unabdingbar hielt, erlaubten sie den Neoliberalen im Allgemeinen, sich das Mäntelchen der Freiheit umzuhängen und im Streit der Ideologien einen bemerkenswerten Sieg zu erringen.

Vielleicht die bedeutsamste Dimension dieses neoliberalen Siegs besteht in dem, was «demokratisches Defizit» genannt wird. Ganze Ströme von Krokodilstränen sind in den letzten drei Jahrzehnten der Aufwertung der Finanzmärkte und der Globalisierung über den Verfall unserer grossen Demokratie vergossen worden. Marx hätte lang und laut über jene gelacht, die über dieses demokratische Defizit erstaunt oder empört sind. Was war das grosse Ziel des Liberalismus im 19. Jahrhundert? Es bestand darin, wie Marx nie müde wurde zu betonen, die ökonomische von der politischen Sphäre zu trennen und die Politik auf Letztere zu beschränken, während die ökonomische Sphäre dem Kapital vorbehalten blieb.

Warum ein unorthodoxer Marxist?

Was auch immer ich von der sozialen Welt zu verstehen glaube, verdanke ich weitgehend Karl Marx. Jetzt möchte ich erklären, warum ich dennoch zornig auf ihn bin. Ich möchte erklären, warum ich bewusst ein unorthodoxer, eigenwilliger Marxist bin. Marx beging zwei grosse Irrtümer: einen, indem er etwas ausliess, und einen, den er aktiv betrieb. Selbst heute beeinträchtigen diese beiden Irrtümer die Wirksamkeit der Linken, insbesondere in Europa.

Der erste Irrtum von Marx – die Auslassung – bestand darin, dass er zu wenig bedachte und darüber schwieg, welche Auswirkung seine eigene Theorie auf die Welt haben würde, über die er theoretisierte. Seine Theorie ist diskursiv aussergewöhnlich kraftvoll, und Marx spürte ihre Kraft. Warum war er dann nicht darüber besorgt, dass seine SchülerInnen, Leute, die diese kraftvollen Ideen besser verstanden als normale ArbeiterInnen, die via Marx’ Ideen auf sie übertragene Kraft womöglich dazu benutzen könnten, andere Genossen auszunützen, ihre eigene Machtbasis aufzubauen und einflussreiche Positionen zu gewinnen oder etwa auch mit beeinflussbaren Studentinnen zu schlafen?

Marx sah auch eine andere Dialektik nie voraus. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Schaffung eines ArbeiterInnenstaats – wie ursprünglich in der Sowjetunion – den Kapitalismus dazu bringen könnte, zivilisierter und sozialer zu werden, während der ArbeiterInnenstaat durch die Feindseligkeit der kapitalistischen Umgebung durch den Virus des Totalitarismus infiziert würde.

Der zweite Irrtum von Marx, den er meines Erachtens aktiv vorantrieb, war schlimmer. Es war seine Annahme, dass die Wahrheit über den Kapitalismus in den mathematischen Formeln seines Modells entdeckt werden könne (etwa mit den «Reproduktionsschemata» 2). Das war das Schlimmste, was er seinem eigenen theoretischen System antun konnte. Der Mann, der uns die menschliche Freiheit als wichtigste ökonomische Kategorie nahebrachte, der Wissenschaftler, der der radikalen Unentschiedenheit ihren gebührenden Platz in der politischen Ökonomie einräumte: Das war derselbe, der schliesslich mit vereinfachenden algebraischen Formeln herumspielte, in denen Arbeitseinheiten natürlich voll quantifiziert waren, und der dabei wider alle Vernunft hoffte, aus solchen Gleichungen zusätzliche Einsichten über den Kapitalismus zu gewinnen. Nach seinem Tod vergeudeten marxistische ÖkonomInnen lange Karrieren damit, sich einem ähnlichen scholastischen Mechanismus hinzugeben. Versponnen in die sinnlose Debatte über das «Transformationsproblem»3 und was damit anzufangen sei, wurden sie allmählich zu einer beinahe aussterbenden Rasse, während der neoliberale Moloch jeden Widerspruch, der im Weg stand, zermalmte.

Wie konnte Karl Marx nur so verblendet sein? Warum erkannte er nicht, dass keinem mathematischen Modell je die Wahrheit über den Kapitalismus entspringen kann, wie herausragend der Modellbauer auch sein mag? Verfügte er nicht über die intellektuellen Werkzeuge, um zu erkennen, dass die kapitalistische Dynamik dem nicht quantifizierbaren Teil der menschlichen Arbeit entspringt, der also von einer Variablen abhängt, die niemals mathematisch genau bestimmt werden kann? Natürlich verfügte er darüber, da er doch diese Werkzeuge geschmiedet hatte! Nein, der Grund für diesen Irrtum ist ein bisschen bedenklicher: Wie die vulgären Ökonomen, die er so brillant widerlegte (und die weiterhin die Wirtschaftsabteilungen an den Universitäten beherrschen), schätzte er die Macht, die ihm mathematische «Beweise» verliehen.

Falls ich richtig liege, wusste Marx, was er tat. Er verstand, oder besass die Fähigkeit zu verstehen, dass eine umfassende Werttheorie nicht in den Rahmen eines mathematischen Modells eines wachsenden, dynamischen Kapitalismus eingepasst werden kann. Er war sich zweifellos darüber bewusst, dass eine angemessene ökonomische Theorie Georg Wilhelm Friedrich Hegels Aussage anerkennen muss, «dass die Regeln des Unbestimmten gleichfalls unbestimmt sind». In ökonomischen Begriffen bedeutet dies die Einsicht, dass die Marktmacht von KapitalistInnen, und entsprechend der Profit, nicht notwendig auf ihre Fähigkeit zu reduzieren ist, Arbeit aus ihren Angestellten zu pressen; dass einige KapitalistInnen aus einer gegebenen Masse an Arbeit oder aus einer gegebenen Masse an KonsumentInnen mehr herauspressen können als andere, und zwar aus Gründen, die jenseits von Marx’ eigener Theorie liegen.

Allerdings hätte diese Einsicht bedeutet anzuerkennen, dass seine «Gesetze» nicht unveränderlich sind. Marx hätte gegenüber konkurrenzierenden Stimmen und Richtungen in der Gewerkschaftsbewegung eingestehen müssen, dass seine Theorie unbestimmt ist und dass seine Erklärungen entsprechend nicht alleinig und eindeutig richtig sind, sondern dass sie ständig provisorisch waren.

Zuweilen merkte Marx, und gestand es auch ein, dass er zu deterministisch argumentierte. Als er mit dem dritten Band des «Kapitals» begann, erkannte er, dass selbst eine beschränkte Komplexität (indem man zum Beispiel unterschiedliche Kapitalausstattungen in verschiedenen Sektoren der Wirtschaft einräumte) sein Argument über den fixen Zusammenhang von Lohn, Preis und Profit widerlegte. Doch solche Probleme deckte er wieder dogmatisch zu.

Diese Entschlossenheit, über eine vollständige, geschlossene Geschichte oder ein Modell zu verfügen, das letzte Wort zu behalten, kann ich Marx nicht vergeben. Denn sie erwies sich als verantwortlich für eine grosse Zahl von Irrtümern und bedeutsamer noch für Autoritarismus – Irrtümer und Autoritarismus, die weitgehend dafür verantwortlich sind, dass die gegenwärtige Linke so unfähig ist, eine Kraft für das Gute und ein Hindernis gegen den Missbrauch der Freiheit und der Vernunft zu sein, den die Neoliberalen heute vorantreiben.

Die Erkenntnis von Keynes

John Maynard Keynes stand der Linken feindlich gegenüber. Er liebte das Klassensystem, das ihn hervorgebracht hatte, wollte persönlich nichts mit dem Plebs zu tun haben und arbeitete hart und geschickt, um Ideen zu finden, mit denen der Kapitalismus trotz seiner Anfälligkeit für womöglich tödliche Starrkrampfanfälle überleben könnte. Als aufgeschlossener, freigeistiger, bürgerlicher Liberaler hatte Keynes die seltene Gabe, nicht vor Herausforderungen an seine eigenen Vorannahmen zurückzuschrecken. Mitten in der Grossen Depression nach 1929 brach er aus der Tradition aus, in der er aufgewachsen war. Er bemerkte, dass die Beschäftigung weiter sank, je tiefer die Löhne fielen, und die Investitionen nicht einmal nach einer langen Phase von Nullzinsen anwuchsen, und er war bereit, die Lehrbücher wegzuwerfen und das Funktionieren des Kapitalismus neu zu überdenken.

Doch warum übernahm Keynes nicht die Position von Marx, der doch als Erster Krisen als Bestandteil der kapitalistischen Dynamik erklärt hatte? Nun, weil die Grosse Depression nicht einem üblichen Abschwung entsprach, den Marx so glänzend erklärt hatte. Im ersten Band des «Kapitals» erzählt Marx die Geschichte der wiederkehrenden Rezessionen, die wegen des Doppelcharakters der Arbeit entstehen und Wachstum ermöglichen, das wiederum mit dem nächsten Abschwung einhergeht, der wieder die Erholung ermöglicht und so weiter. Doch die Grosse Depression hatte nichts Wiederkehrendes an sich. Der Einbruch der dreissiger Jahre war genau dies: ein Einbruch, der wie ein statisches Gleichgewicht funktionierte – ein ökonomischer Zustand, der sich ewig fortzusetzen schien, wobei die vorausgesagte Erholung sich hartnäckig weigerte, jenseits des Horizonts zu erscheinen, selbst nachdem sich die Profitrate als Folge der kollabierten Löhne und Zinsen erholt hatte.

Keynes «entdeckte» zwei Dingen über den Kapitalismus: dass er erstens ein grundsätzlich unbestimmtes System war mit dem, was heutige ÖkonomInnen als unendliche Zahl von verschiedenen Gleichgewichten bezeichnen würden, von denen einige mit ständiger Massenarbeitslosigkeit einhergingen; und dass der Kapitalismus zweitens in jedem Augenblick in eines dieser schrecklichen Gleichgewichte fallen konnte, unvorhersehbar, ohne Sinn und Verstand, bloss weil ein beträchtlicher Teil von KapitalistInnen fürchtete, dass er das täte.

Einfacher gesagt: Wir wissen nicht, wann eine Rezession kommt und wie sie durch Marktkräfte überwunden werden kann. Wir wissen nicht, wie sich der Kapitalismus morgen verhält, selbst wenn er sich zu einem bestimmten Zeitpunkt stark und unbezwingbar präsentiert. Es ist möglich, dass er einfach auf die Schnauze fällt und nicht mehr aufsteht. Keynes’ Idee von den «animal spirits», den irrationalen Elementen im Wirtschaftsprozess, war eine zutiefst radikale Idee, die die radikale Unbestimmtheit in der DNA des Kapitalismus erfasste. Diese Idee hatte Marx zuerst eingeführt – mit seiner Analyse des Doppelcharakters der Arbeit –, sie dann aber während der Arbeit am «Kapital» aufgegeben, um seine Theorie in Form von mathematisch nicht widerlegbaren Beweisen zu präsentieren. Von allen Passagen in Keynes’ «Allgemeiner Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes» von 1936 ist es die Idee der selbstzerstörerischen Willkürlichkeit des Kapitalismus, die wir wieder aufgreifen und mit der wir den Marxismus erneut radikalisieren müssen.

Die Lektion von Margaret Thatcher

Ich zog im September 1978 für das Studium nach England, etwa sechs Monate bevor Margaret Thatchers Sieg Britannien für immer veränderte. Während ich zusah, wie die Labour-Regierung unter dem Gewicht ihres verkümmerten sozialdemokratischen Programms zerfiel, erlag ich einem gravierenden Irrtum: Ich dachte, dass Thatchers Sieg gut sei, weil er der britischen Arbeiterklasse und dem Mittelstand einen kurzen, scharfen Schock versetzen würde, der nötig war, um eine progressive Politik wiederzubeleben; der der Linken eine Chance gebe, ein neues, radikales Programm für eine neue Art wirksamer, progressiver Politik zu schaffen.

Selbst als sich die Arbeitslosigkeit unter Thatchers radikalen neoliberalen Eingriffen verdoppelte und dann verdreifachte, hegte ich weiterhin die Hoffnung, dass Lenin recht habe: «Je schlimmer, desto besser.» Als das Leben schmutziger, brutaler und für manche kürzer wurde, erkannte ich meinen tragischen Irrtum: Die Dinge konnten immer schlechter werden, ohne dass sie je besser wurden. Mit jeder Schraubendrehung der Rezession wurde die Linke noch etwas introvertierter und noch weniger fähig, ein überzeugendes progressives Programm zu entwickeln. Die Arbeiterklasse wurde gleichzeitig gespalten in diejenigen, die aus der Gesellschaft ausschieden, und diejenigen, die ins neoliberale Gedankensystem eingesogen wurden. Meine Hoffnung, dass die Verschlechterung der «objektiven Bedingungen» irgendwie neue «subjektive Bedingungen» schaffe, denen eine politische Revolution entspringe, war schlicht Unsinn. Alles, was dem Thatcherismus entsprang, waren Kleinkriminelle, eine extreme Aufwertung des Finanzmarkts, der Triumph der Einkaufszentren über den Quartierladen, die Verherrlichung des Eigenheims und … Tony Blair.

Mrs. Thatcher erteilte mir eine harte Lektion darüber, dass eine lang andauernde Rezession jede progressive Politik zu untergraben und die Menschenfeindlichkeit ins Gewebe der Gesellschaft zu tragen vermag. Diese Lektion vergesse ich auch angesichts der gegenwärtigen europäischen Krise nicht. Tatsächlich ist sie der wichtigste Faktor meiner Einschätzung der Krise. Dies ist der Grund, warum ich jene Sünde offen eingestehe, deren mich einige KritikerInnen aus der Linken bezichtigen: die Sünde, kein radikales politisches Programm zu vertreten, das die Krise als Gelegenheit begreift, den europäischen Kapitalismus umzustürzen, die grässliche Eurozone aufzulösen und die EU der Kartelle und bankrotten Banker zu untergraben.

Ja, ich würde liebend gerne ein solch radikales Programm vorstellen. Aber ich bin nicht bereit, denselben Irrtum zweimal zu begehen.

Ein griechischer oder portugiesischer oder italienischer Ausstieg aus der Eurozone würde bald zu einer Fragmentierung des europäischen Kapitalismus führen mit einer in einer starken Rezession steckenden Überflussregion östlich des Rheins und nördlich der Alpen, während der Rest von Europa sich im Griff einer unerträglichen Stagflation befände. Wer würde wohl von dieser Entwicklung profitieren? Eine progressive Linke, die wie ein Phönix aus der Asche der europäischen öffentlichen Institutionen steigt? Oder die Nazis der Goldenen Morgenröte, die verschiedenen NeofaschistInnen, die Xenophoben und die Kleinkriminellen? Ich zweifle keinen Augenblick daran, welches von den beiden Lagern am meisten vom Zerfall der Eurozone profitieren würde.

Deshalb bin ich nicht bereit, dieser postmodernen Version der dreissiger Jahre neuen Schub zu verleihen. Falls das heisst, dass wir, die angemessen unorthodoxen MarxistInnen, den europäischen Kapitalismus vor sich selbst retten müssen, dann ist es halt so. Nicht aus Liebe für den europäischen Kapitalismus, für die Eurozone, für Brüssel oder die Europäische Zentralbank, sondern weil wir die menschlichen Opfer dieser Krise möglichst gering halten wollen.

Was sollten MarxistInnen tun?

Europas Eliten verhalten sich heute so, als ob sie weder die heutige Krise verstünden, die sie verantworten, noch deren Konsequenz für sich selbst, geschweige denn für die europäische Zivilisation. Urtümlich primitiv, entscheiden sie, die schwindenden Reserven der Schwachen und der Beraubten zu plündern, um die klaffenden Lücken im Finanzsektor zu stopfen, und sie weigern sich, die Unmöglichkeit der Aufgabe anzuerkennen.

Aber obwohl Europas Eliten die Augen verschliessen und sich in Auflösung befinden, muss die Linke eingestehen, dass sie schlicht nicht bereit ist, jenen Graben, der sich durch den Kollaps des europäischen Kapitalismus auftun würde, mit einem funktionierenden sozialistischen System zu überbrücken. Deshalb sollte unsere Aufgabe in zweierlei bestehen: erstens, eine Analyse der gegenwärtigen Situation zu liefern, die auch NichtmarxistInnen, wohlmeinende EuropäerInnen, die vom Sirenengesang des Neoliberalismus verführt wurden, hilfreich finden. Zweitens, dieser vernünftigen Analyse Vorschläge folgen zu lassen, um Europa zu stabilisieren – damit die Spirale des Niedergangs gestoppt werden kann, der letztlich nur die Bigotten stärkt.

Das haben wir mit dem «Bescheidenen Vorschlag» zu tun versucht. Wenn wir ein unterschiedliches Publikum von radikalen Aktivistinnen bis Hedgefondsmanagern ansprechen, dann steht dahinter die Idee, strategische Allianzen sogar mit Rechten zu schmieden, mit denen wir ein einfaches Interesse teilen: das Interesse, die negative Rückkoppelung zwischen Austerität und Krise, zwischen bankrotten Staaten und zerbrochenen Rücken zu beenden. Eine Rückkoppelung, die sowohl den Kapitalismus wie jedes progressive Programm untergräbt, das ihn ersetzen will. So verteidige ich meine Versuche, für die Sache des «Bescheidenen Vorschlags» Leute von Bloomberg oder von der «New York Times», britische Tory-ParlamentarierInnen und Financiers zu gewinnen, die über den prekären Zustand Europas besorgt sind.

Lassen Sie mich mit zwei Bekenntnissen enden. Erstens: Obwohl ich gerne bereit bin, ein gemässigtes Programm zur Stabilisierung eines Systems, das ich kritisiere, als wirklich radikal zu verteidigen, gebe ich doch nicht vor, davon begeistert zu sein. Es mag wohl das sein, was wir unter den gegebenen Umständen tun müssen, aber ich bin traurig darüber, dass ich vermutlich nicht mehr hier sein werde, wenn ein radikaleres Programm zur Debatte steht.

Bündnisse mit dem Teufel

Mein zweites Geständnis ist sehr persönlich: Ich weiss, dass ich riskiere, heimlich die Trauer zu lindern, die mich erfasst, da ich jede Hoffnung auf die Überwindung des Kapitalismus in meiner Lebenszeit aufgebe, und zwar indem ich das Gefühl züchte, akzeptabel für die gute Gesellschaft zu werden. Das Gefühl der Selbstzufriedenheit, von den Einflussreichen umhegt zu werden, ist gelegentlich in mir aufgestiegen. Und welch ein unradikales, hässliches, korrumpierendes und zerstörerisches Gefühl war es!

Meinen persönlichen Tiefpunkt erlebte ich in einem Flughafen. Irgendeine reiche Institution hatte mich eingeladen, an einer Tagung den Hauptvortrag über die europäische Krise zu halten, und eine wahnwitzige Summe aufgeworfen, um mich erster Klasse einfliegen zu lassen. Auf dem Rückweg, erschöpft nach mehreren Flügen, schritt ich der langen Reihe der Passagiere der Economy Class entlang, um zum Gate zu gehen. Plötzlich bemerkte ich mit Schrecken, wie einfach in mir das Gefühl aufkam, berechtigt zu sein, die Masse zu überholen. Ich merkte, wie einfach ich das vergessen konnte, was mein linker Verstand immer gewusst hatte: dass sich nichts besser bestätigt als ein falsches Gefühl der Berechtigung. Allianzen mit reaktionären Kräften zu bilden, wie wir es meines Erachtens tun sollten, um Europa heute zu stabilisieren, führt uns in Versuchung, vereinnahmt zu werden, unseren Radikalismus durch den warmen Schein des Gefühls aufzuheben, in den Korridoren der Macht angekommen zu sein.

Ein radikales Bekenntnis, wie ich es hier zu schreiben versucht habe, ist vielleicht das einzige programmatische Gegenmittel zu ideologischen Rutschpartien, die uns zu Rädchen in der Maschine zu machen drohen. Falls wir Bündnisse mit dem Teufel eingehen (zum Beispiel mit dem Internationalen Währungsfonds, mit Neoliberalen, die sich immerhin dem entgegensetzen, was ich «Bankruptokratie» nennen würde), müssen wir verhindern, so zu werden wie jene SozialistInnen, die die Welt nicht zu verändern vermochten, aber dabei ihre eigenen Lebensumstände verbessern konnten. Wir müssen den revolutionären Maximalismus vermeiden, der letztlich den Neoliberalen hilft, jeden Widerstand gegen ihre selbstzerstörerische Gemeinheit zu umgehen, und wir müssen uns der inhärenten Hässlichkeit des Kapitalismus bewusst bleiben, während wir, aus strategischen Gründen, versuchen, ihn vor sich selbst zu retten. Radikale Bekenntnisse mögen dabei helfen, dieses schwierige Gleichgewicht zu finden. Schliesslich ist der marxistische Humanismus ein ständiger Kampf gegen das, was wir werden.

1 Von Yanis Varoufakis, Stuart Holland und James K. Galbraith im Herbst 2013 vorgelegt. In der neusten Version einsehbar auf der Website www.yanisvaroufakis.eu. Der Text wurde Ende Februar auf Deutsch im Verlag Antje Kunstmann unter dem Titel «Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise» veröffentlicht.

2 Im zweiten Band des «Kapitals» versuchte Marx, mit den Reproduktionsschemata nachzuweisen, dass eine Gesellschaft, um sich reproduzieren zu können, bei der Produktion ein bestimmtes Verhältnis von Produktions- und Konsumtionsmitteln aufweisen muss.

3 Unter dem Stichwort «Transformationsproblem» beschäftigte sich Marx besonders im dritten Band des «Kapitals» mit der Frage, 
wie die in gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit gemessenen (abstrakten) Werte von Waren 
in (empirische) Produktionspreise transformiert werden.

Gekürzte Version eines im Mai 2013 am 
sechsten subversiven Festival in Zagreb gehaltenen Vortrags, der im Dezember 2013 überarbeitet auf Varoufakis’ Blog veröffentlicht wurde. Aus dem Englischen von Stefan Howald.

Der pragmatische Marxist

Seit dem 27. Januar 2015 ist Yanis Varoufakis (53) Finanzminister in der griechischen Regierung von Alexis Tsipras. Damit steht ein profilierter Intellektueller und Marxist an der Spitze einer krisenhaften kapitalistischen Volkswirtschaft.

Varoufakis dissertierte im Jahr 1982 mit einer Arbeit zur Spieltheorie in der Ökonomie und machte dann eine akademische Karriere. Mit der Eurokrise wurde er einer der profiliertesten Kritiker des folgenden Spardiktats der Troika. In Büchern und einem weitherum beachteten Blog legte er eine alternative Sichtweise zu Verschuldung und Austeritätspolitik vor. 2013 veröffentlichte er gemeinsam mit Stuart Holland und James K. Galbraith «A Modest Proposal for Resolving the Eurozone Crisis».

Der hier vorgelegte Text ist Mitte 2013 entstanden. Varoufakis analysiert darin die aktuelle Krise, er zeigt, wie sie marxistisch gedacht werden kann, und er spricht über eine widerständige Politik. Indem er seine eigene Haltung reflektiert, steht dieses «Bekenntnis» durchaus in der Tradition von Jean-Jacques Rousseau: radikal subjektiv und radikal gesellschaftsbezogen. Und es macht deutlich, wie Varoufakis als Finanzminister mit Theorie und Praxis, mit Radikalismus und Reform umzugehen gedenkt.

www.yanisvaroufakis.eu

3 Kommentare

  1. Bei allem Verständnis zu dem Varoufakis-Bericht –

    Mein Kommentar hat sich nicht auf den OBIGEN bezogen
    sondern auf einen FAZ-Leserbrief bezüglich der „Spur der Troika“ (Mo. 9.3. ARD 22.45)

    Ein interessantes Beispiel wie Medien sich verzweigen, ableiten usw.

    Dies einfach zur Klarstellung.

    Hellas steht mir und bleibt mir nahe

  2. Ich muss gestehen: Ich habe etwa die Hälfte gelesen und dann abgebrochen, weil ich vieles nicht verstehen und nachvollziehen kann. Mir ist nur klar geworden, dass Voroufakis ein Wissenschaftler, aber kein Politiker ist, denn als solcher müsste er dem Volk seine Ziele und Strategie mit einfachen Worten erklären können. Anscheinend ist er dazu nicht bereit oder nicht fähig. Schade !

  3. Die Doku vor zwei Tagen ARD (vorher muss das schon bei arte gewesen sein) 22.45

    „Die Spur der Troika“ Untertitel: Macht ohne Kontrolle

    hat mich erst geschockt erstaren lassen, nachdenklich bin ich zurückgeblieben.

    Obiger Bericht gibt zumindest sehr zu denken.

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