„Das wahre Leben ist anderswo“
Autor: Manuel Gogos, 29.1.2014
Arbeitsmigration und Tourismus: Das sind die beiden großen Wanderungsbewegungen des 20. Jahrhunderts, und beide suchen sie nach dem wahren Leben anderswo. Während die Militärjunta regiert, beginnt die erste Hochphase des deutschen Griechenlandtourismus. Die ideale Gegenweltlichkeit Griechenlands konnte auch der Massentourismus nicht gänzlich auflösen.
Während Günter Wallraff sich 1974 auf dem Athener Syntagmaplatz ankettet, um gegen die Junta zu demonstrieren, ruft er gleichzeitig zum Tourismusboykott auf. Dennoch fällt die Zeit der griechischen Militärjunta (1967-1974) mit der ersten Hochphase des deutschen Griechenlandtourismus zusammen. Arbeitsmigration und Tourismus, die beiden großen Wanderungsbewegungen des 20. Jahrhunderts, beide suchen sie nach dem wahren Leben anderswo. Bis in die 1960er Jahre gibt es noch keine regelmäßigen Fährverbindungen von griechischen Inseldörfern ans Festland, Esel stehen noch nicht unter Naturschutz und die Kinder laufen noch neben dem Auto des Fremden her, staunenswert als schlüge ein Pfau sein Rad.
Mancher deutsche Theologiestudent der ersten Stunde hat dies „ursprüngliche“ Griechenland bei seinen griechischen Querfeldein-Wanderungen noch selbst erlebt, als man die Gastfreundschaft so heilig hielt, dass Gäste mit einem Teelöffel Rosen-Marmelade willkommen geheißen wurden und die Gastgeber für ihren Gast selbst noch ihr eigenes Bett räumten. Doch konnten diese innigen Formen der Gastfreundschaft die Zeit der aufkommenden Tourismus-Industrie schwerlich überleben.
Vorläufer der Griechenlandfahrt – Alfons Hochhauser
Im 19. Jahrhundert waren es meist noch imaginäre Reisen, die Deutsche nach Griechenland unternahmen, wie der fiktive Griechenland-Überflug von Friedrich Hölderlins „Hyperion“. Im 20. Jahrhundert kommen Reisende tatsächlich hierher, wie Alfons Hochhauser, einer der ersten „Aussteiger“, die im Umfeld der Lebensreformbewegung die Länder südlich der Alpen erkundet haben. Mit 14 von zu Hause ausgerissen, tingelt der Österreicher durch Spanien, Tunesien und Palästina.
Doch als er im Frühjahr 1927 von griechischen Freunden zu einer Bootsfahrt entlang der Pilion-Gebirges eingeladen wird, da hat die Fahrt für ihn etwas Schicksalhaftes: „Mir war, als sei ich hier schon einmal gewesen. Ich sah diese herrliche, wilde Küste mit ihren Höhlen, Klüften und Schluchten und wusste: Ich war angekommen.“
Im Pilion-Gebirge hat der frühe Griechenlandfahrer als Hirte im Gebiet der vergessenen Ruinenstadt Mitzela in einem hohlen Baum gelebt, hier hat er in einer Felsenhöhle der schroffen Kuluribucht mit seiner griechischen Frau eine Kneipe für Dynamitfischer aufgemacht. Auch philhellenische Motive sind in dieses Narrativ eingeschlossen wie eine Fliege in Bernstein. Hochhauser war bekennender Anhänger der zwölf Olympischen Götter, er fühlte sich selbst als Grieche: „Mir liegt die Kultur dieses Landes seit meiner Schulzeit sehr am Herzen. Die meisten Unterrichtsstunden behandelten das antike Griechenland. Die Lieb und Bewunderung für sie haben mir Flügel verliehen und mich zum Berg der Zentauren gebracht, wo ich so viele Jahre gelebt habe. Und die nächtlichen Geräusche des Waldes waren mir bald so vertraut wie das Uhrticken in der Diele meines Elternhauses.“
Durch Werner Helwigs Abenteuerroman Raubfischer in Hellas (1939), dem diese Erlebnisse als Vorlage dienten, wurde der Griechenlandfahrer Hochhauser weltbekannt. 1942 erfährt der deutsche Unterwasserpionier Hans Hass, der gerade zu einer Tauchexpedition in die Ägäis rüstet, dass es den Helden aus Helwigs Roman tatsächlich gibt. Er sucht Alfons Hochhauser in Berlin auf und gewinnt ihn als Teilnehmer für seine Expedition. Dabei wird auch die wohl berühmteste Zeus-Statue aufgefunden, sie steht heute im Nationalmuseum in Athen.
Die Griechenlandbücher Erhard Kästners
Auch Erhard Kästners Griechenland-Bücher haben im Nachkriegsdeutschland Kultstatus erlangt. Kästners guter Ruf als Bibliothekar von Wolfenbütttel wies ihn als bekennenden Philhelenen aus, seine Reputation war lange Zeit unbestritten. Tatsächlich konnte es zur Abfassung seiner Griechenland-Bücher wie „Ölberge, Weinberge“ (1974), „Die Stundentrommel vom heiligen Berg Athos“ (1974) oder „Kreta“ (1975) aber nur kommen, weil Kästner sich – nach seinem Eintritt in die NSDAP – freiwillig nach Griechenland meldete, um zur Zeit der deutschen Besatzung dort umherzureisen und den Wehrmachtssoldaten in Buchform Land und Leute zu erklären. Der Journalist Arn Strohmeyer hat Erhard Kästner darum in seinem Buch „Dichter im Waffenrock“ zu Recht als NS-Propagandisten bezeichnet.
Am 29.9.1942 schreibt Goebbels, die baldige Veröffentlichung von Kästners erstem Griechenland-Buch sei dringend erwünscht. Das Propagandaministerium bezahlt die Veröffentlichung, und es kommt selbst auf seine Kosten. Zwar fühlt sich Kästner gelegentlich einmal von einem hübschen Mädchengesicht an den Adel der alten Griechen erinnert; ansonsten aber kann man sich darauf verlassen, dass der Autor die Neugriechen verschmäht: „Mein Gott, wo kommt das Kind her? Hier mitten unter den kleinen Lemuren und Affengesichtern?“ Die einzigen, die dem deutschen Romantiker und Bukkoliker, der sich als „Pilger“ im heiligen Land unterwegs sieht, von der Hetze ausnimmt, sind die Hirten. „Hirten Griechenlands! Es will mir scheinen, als ob hier vielleicht bei euch allein das heilige Feuer von einst von Mann zu Mann weitergereicht worden ist und immer noch glimmt.“
Ansonsten, so suggeriert Kästner, sind es vielmehr die deutschen Soldaten, die es verdienen, die griechischen Heroen der Antike zu beerben. Kästners erstes Griechenland-Buch erscheint in einer Auflage von 500 Stück, ehe die deutsche Luftwaffe weitere 10.000 Exemplare ordert – für jene Soldaten, die in Kreta eingefallen waren, und denen Kästners Werk in seiner unbereinigten Version aus dem Krieg gewissermaßen noch auf den Leib geschneidert ist.
„An dieser Stelle unserer Fahrt begegneten wir einem Zug, der nordwärts fuhr. Es waren Männer von Kreta, die von dort kamen und nun einem neuen Ziel und einem neuen Kampf entgegen gingen. Und nun öffneten sich die Abteile, immer mehr kletterten von den Wagen und rannten im vollen Lauf über den weißen Strand ins köstliche, blinkend blaue Meer. Und als ob ein geheimes, der Landschaft innewohnendes Gesetz es so wollte, fiel es kaum einem ein, die Badehose zu tragen. Unversehens ergab sich ein völlig klassisches Bild. Sprühend im Licht dieses Morgens und im Glanz ihrer jungen Nacktheit tummelte sich die Schar dieser Eroberer am fremden Meer.“[1]
Blumenkinder
In den späten 1960er Jahren kommen die Hippies auch in Griechenland an. Der Hippietrail führt nach Süden und nach Osten, manche Aussteiger kommen bis Ibiza oder Marokko, andere führt der Weg auf dem Autoput der Gastarbeiter durch Österreich, den Balkan und eben Griechenland in die Türkei, nach Afghanistan, Pakistan und Indien. Dabei machten viele Zwischenstation auf den griechischen Inseln. Orte wie Matala auf Kreta haben so ihren eigenen Mythos geschaffen, sogar Hippie-Prominenz wie Cat Stevens, Leonard Cohen oder Janis Joplin sollen hier gesehen worden sein. Berühmt war das Fischerdorf Matala besonders für seine Höhlen am Meer. Wehrmachtssoldaten versteckten hier ihre Waffen, ehe die Hippies sie als Behausung entdecken. Der Migrations- und Tourismusforscher Mark Terkessidis sieht in der imaginären Vorstellungswelt der touristischen Griechenlandfahrer darum sogar Parallelen zu den Wehrmachtssoldaten, die sich zwanzig Jahre zuvor nackt in die Fluten des Mittelmeers stürzten.[2]
„In Matala lebt man nackt und bärtig. Wilde, dionysische Strand-Partys in den Nächten. Man sitzt ums Lagerfeuer und spielt Bouzouki, im Vollrausch meinen viele, die Gestalten des griechischen Mythos vorbeilaufen zu sehen. Morgens dann hat der Blick von den Höhlen etwas unschuldiges wie am siebten Schöpfungstag: Nur Steine, Wasser, Licht. Darin besteht das ganze utopische Imaginäre des Tourismus: Ein erfüllteres, authentischeres Leben zu führen, an einem Platz, an dem man einen quasi paradiesischen Zustand erleben kann. Für viele Touristen der frühen 1970er Jahre verbindet sich dieser Traum eines Ausbruchs aus dem eigenen Alltag ausgerechnet mit einem Land, dessen Inseln für Gegner der Junta – interniert in Konzentrationslager und der Dürre und gleißenden Sonne schutzlos preisgegeben – auch die Hölle bedeuten konnten.“
Tanz den Alexis Sorbas
In ihren nudistischen Tendenzen bringen die Hippies zur Zeit der Obristendiktatur die bukolische Idylle nach Griechenland zurück. Mit Ledersandalen und Hirtentaschen suchen sie nach dem einfachen, dem authentischen Leben. Darin huldigen sie dem Lebenskünstler Alexis Sorbas, einem sechzigjährigen Mazedonier mit türkischem Namen, der in seinem Tanz Schwerkraft und Schwermut aufhob, der leckere Suppen kochte und sich grämte, wenn eine hübsche Frau in der Nacht allein bleiben muss; Sorbas, der Eingeborene, der Edle Wilde, welcher unglaubliche Dinge sagt und verrückte Dinge tut, war Kult. Zwar hatte nicht jeder das Buch des griechischen Romanautors Nikos Kazantzakis gelesen; aber alle kannten die Verfilmung von Cacoyannis aus dem Jahre 1964 – Anthony Quinn in der Hauptrolle ist als Prototyp des Griechen überhaupt ins kollektive Unbewusste der Völker eingegangen. Mit seinem Tsifteteli auf die Musik von Mikis Theodorakis erweist sich der „malerische Neohellene“ Sorbas als Opfer der Orientalisierung durch Hollywood: Wenn Sorbas der Prototyp eines Griechen ist, dann wird das ewige Land der Griechen zum Planet der Affen.
Griechenland-Reflexe in der deutschen Alltagskultur
Bereits in den 1950er Jahren begann der deutsche Schlager zu spüren, dass sein Traum vom „Himmel auf Erden“ vielleicht besser auf Capri zu finden wäre. In den 60ern entdeckt man den Orientalismus a la „Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe“, und in den 70ern wird das „Schöne Mädchen aus Arkadia“ zum Favoriten auf dem Schlagermarkt wie im Reisebüro. Während Udo Jürgens in seinem Evergreen „Griechischer Wein“ den deutschen Schlager mit der Gastarbeiterschnulze verschmilzt, stürmen zugleich die Exoten selbst die Hitparade: Neben Rex Gildo und Wencke Myhre singen nun Costa Cordalis und Vicki Leandros oder Demis Roussos. Ein ganzes Potpourri klingt da in den Ohren: „Ich war ein Vagabund der Liebe“, „Die Bousouki klagt durch die Sommernacht“, „Mannomann, der Wein von Samos…“ – es ist diese Hitparade, mit der die Kinder deutscher, griechischer wie deutschgriechischer Familien gleichermaßen aufgewachsen sind.
„Es ist schon interessant, wie das im Schlager reflektiert wird. Weil die Suche nach dem Paradies bestand ja dann auf mehreren Ebenen: Eine davon war der Tourismus mit dem reellen Ortswechsel. Eine Form war der Schlager, wo man das auch zu Hause erleben konnte. Und eine Form war auch das Restaurant, das griechische oder italienische, wo die echten italienischen oder griechischen Kellner da standen und einen bedienten und wo das sozusagen einen Miniurlaub für einen Abend ermöglichte.“ (Mark Terkessidis, Berlin 2010)
Die Verklärung des Griechenlandfahrers
Das Arsenal von griechischen Ausflugs- und Urlaubsbildern ist unerschöpflich. Dabei erscheinen die unzähligen Postkartenansichten von Kykladen und Sporaden in den letzten Jahrzehnten eines massierten, pauschalen Tourismus vielmehr als „Potemkinsche Dörfer“ – Theaterkulissen, Lockszenarien, Knoten eines großen Spinnennetzes, in dem die heutigen Griechen notgedrungen sitzen, um Touristen auszunehmen. Es ist dies die tiefe Paradoxie des Tourismus: Selbst wenn der Tourist auf der Suche nach dem Ursprünglichen immer weiter ins Landesinnere vorstößt, oder auf immer entlegenere Inseln ausweicht – letztlich ist er selbst es, der die Ursprünglichkeit, die er suchte, zerstört.
Die „unberührte Landschaft“ kann unter den Umständen nicht „unberührt“ bleiben – wenn sie es denn je war. In den 1980ern tritt das Mittelmeer als missachtete Landschaft hervor, das Projekt eines überfischten Meeres als zoologischer Schutzpark scheint nicht mehr utopisch. Reist man heute nach Griechenland oder in andere Länder Südeuropas, sucht man mit der Kamera gern jenes pastorale Bild der frühen 1970er; Details, die dabei die Idylle stören könnten – wie Industrieanlagen, Umweltverschmutzung, oder eben andere Touristen – werden dann im Sucher ausgespart. Und doch: selbst unter dem Andrang des Massentourismus und trotz all dieser blinden Flecken scheint die Ägäis ihre ideale Gegenweltlichkeit bis heute nicht ganz eingebüßt zu haben.
Fußnoten
1. Z.n. Arn Strohmeyer, Dichter im Waffenrock: Erhart Kästner in Griechenland und auf Kreta 1941 bis 1945, Mähringen 2006, S. 43.
2. So im Interview mit dem Verfasser, Berlin 2010. Vgl. auch „Fliehkraft: Gesellschaft in Bewegung – von Migration und Tourismus“ von Tom Holert und Mark Terkessidis, Köln 2006. Creative Commons License. Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/de/
Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc-nd/3.0/de/ Autor: Manuel Gogos für bpb.de.