Am Freitag, dem 10. Juni 2011, ist der große britische Reiseschriftsteller und Ehrenbürger von Heraklion Patrick Leigh Fermor im Alter von 96 Jahren im englischen Worcestershire gestorben.
Dazu heute ein Nachruf vom „Die Welt“-Autor Wieland Freund:
Fast hätte er die Zeit angehalten
Zum Tode des großen britischen Reiseschriftstellers Patrick Leigh Fermor, der von Holland bis nach Konstantinopel wanderte, als Europa im Sterben lag.
Darüber hat er nie ausführlich geschrieben: Am 26. April 1944, abends um halb zehn, wurde auf Kreta, in einer Kurve auf dem Weg nach Knossos, der Wagen des Wehrmachtsgenerals Kreipe von zwei Männern in gestohlenen deutschen Uniformen gestoppt. Danach ging alles sehr schnell: Nach einem Handgemenge wurde der General auf die Rückbank verfrachtet, seinen Platz auf dem Beifahrersitz nahm Patrick Leigh Fermor ein, die Mütze des Generals tief in der Stirn. So passierte der Wagen 22 Kontrollstationen, bis das britische Special Operations-Kommando ihn stehenließ und sich zu Fuß durch das Ida-Gebirge bis zur Küste durchschlug.
In Patrick Leigh Fermors Buch „Die Zeit der Gaben“ schrumpft dieses Abenteuer, eine der spektakulärsten Kommandoaktionen des Zweiten Weltkriegs, auf eine halbe Seite zusammen. Bill Moss, Leigh Fermors Stellvertreter und damals der Mann, der den Generalswagen fuhr, hat ein ganzes Buch über die Aktion geschrieben, „Ill Met by Moonlight“, das mit Dirk Bogarde in der Rolle Leigh Fermors verfilmt wurde. Leigh Fermor selbst erzählt nur, wie der entführte General im Schneeregen anfängt, Horaz zu rezitieren, und Fermor den Vers aufnimmt, wo Kreipe ihn abbricht. „Ach so, Herr Major“, sagt Kreipe, ein deutscher Pastorensohn. „Ja, Herr General“, sagt Leigh Fermor, der Sohn eines britischen Kolonialbeamten. Während Europa in Schutt und Asche fällt, scheint es, „als hätte für einen kurzen Augenblick der Krieg aufgehört. Einst hatten wir am gleichen Quell getrunken.“
Für Patrick Leigh Fermor ist das eine Schlüsselszene: Seine besten Bücher – „Mani“ und „Rumeli“, die beiden über Griechenland, sowie der lange Reisebericht, der mit „Die Zeit der Gaben“ beginnt – sind Erinnerung an ein untergegangenes Europa, das sich im Einklang mit seiner großen Kulturgeschichte weiß. Als der 18-jährige Paddy, wie die Freunde sagten, im Dezember 1933 in London zu seiner Lebensreise aufbricht, hat er einen Band Horaz im Rucksack. Als er wenig später Deutschland durchwandert, bringt er sich die Landessprache mit Schlegels und Tiecks Übersetzung des „Hamlet“ bei. Er sei „eine gefährliche Mischung aus Raffinesse und Rücksichtslosigkeit“, hatten ihm zuvor jene bescheinigt, die ihn von der Schule schmissen. Jetzt lockt den „vertriebenen Räuber“, der heute bei einem Schäfer unterkriechen und morgen eine gräfliche Bibliothek unsicher machen kann, das „drachengrüne Byzanz“.
Leigh Fermor durchwandert Holland, Deutschland, Österreich, Ungarn und die Karpaten und erreicht Istanbul, das er niemals so nennt, am Neujahrstag 1935. Und als er sich vierzig Jahre später an die Schilderung dieser Reise macht, weiß er, dass er eine im Sterben liegende Welt beschreibt. In einem geborgten Auto braust er mit trötender Messinghupe durch die vergessenen Städte des alten Siebenbürgen, dem Baron von Liphart-Ratshoff hört er beim Shakespeare-Rezitieren zu und sammelt k.u.k.-Visitenkarten – „Titel wie rostige Scharniere, deren Knarren nach verlorener Glorie klang.“ In Köln schläft er zwischen Büchern und Büsten auf dem Plumeau einer Bildungsbürgerfamilie; in München begegnet er einem Arbeiter, der ihn in den „Hitlerschrein“ seiner Kammer führt und sagt: „Du hättest es letztes Jahr sehen sollen! Da war hier alles voll mit roten Fahnen, Hammer und Sichel, Bilder von Lenin und Stalin. Aber als dann Hitler an die Macht kam, ist mir klar geworden, dass das alles Unsinn war. Ich begriff, dass Adolf mein Mann war.“
Von Istanbul aus wendet sich Leigh Fermor nach Griechenland, lebt mit einer rumänischen Prinzessin in einer Wassermühle und dann im moldawischen Stammsitz ihrer Familie. Als der Krieg ausbricht, meldet er sich freiwillig. Auf Kreta koordiniert er als Verbindungsoffizier den Widerstand; als Schäfer verkleidet schläft er unter Sternen und in Höhlen. Bald nach dem Krieg reist er in die Karibik. Sein Reisebericht von dort, sein erstes Buch „Der Baum des Reisenden“, erscheint zur gleichen Zeit wie der Bericht über die Entführung des Generals – danach ist Leigh Fermor berühmt. Bruce Chatwin besucht ihn, um ihn wie einen „Guru“ zu verehren und wie einen König zu stürzen. Später wird es Leigh Fermor sein, der Chatwins Asche verstreut – unweit des märchenhaft verwunschenen Hauses, das er und seine Frau Joan sich eingangs der Mani gebaut haben, dem Mittelfinger der peloponnesischen Hand, über den er sein Buch „Mani“ geschrieben hat – „das Gegenteil von einem Reiseführer.“
Dieses Haus mit seinen offenen Arkaden, dem verwilderten Studio und den Terrassen am Meer ist der logische Kulminationspunkt seiner Lebensreise. Hierher pilgerten seine Bewunderer, die in ihm einen letzten Renaissancemenschen sahen, hier bewirtete Leigh Fermor seine Freunde – vis-a-vis eines Wandgemäldes von Nicolas Ghika, auf andalusischen Stühlen, an einem venezianischen Tisch und zu Füßen einer kopflosen Sibylle aus Marmor, die er an einem römischen Straßenrand aufgelesen hatte. Und hier schrieb er auch über seine Fußreise nach Konstantinopel, dabei langsam und immer langsamer werdend, als wäre ihm schreibend die Macht gegeben, die Zeit anzuhalten.
1977 erst erschien „Die Zeit der Gaben“, das auf einer Donaubrücke abbricht; bis 1986 ließ Leigh Fermor sich mit dem zweiten Teil „Zwischen Wäldern und Wasser“ Zeit, wobei das Gerücht geht, dass er die nur noch zur Korrektur bestimmten Fahnen des fertigen Buchs jahrelang nicht an den Verlag zurückschickte und, als er es schließlich doch tat, alles umgeschrieben hatte. Leigh Fermor war ein großer Stilist, und viele der von ihm geschilderten Szenen – die Beschreibung einer Schule Delfine im Mittelmeer, die Entdeckung von Lord Byrons Pantoffeln in Missolonghi oder sein Besuch im Münchner Hofbräuhaus – werden wie Gedichte in Ehren gehalten. Und doch waren es wohl nicht allein die Sorgfalt und das Leben selbst, die ihn so langsam machten. Vielmehr, so scheint es, zögerte er die Schilderung seiner prägenden Reise hinaus, weil sie ihm zum Buch seines Lebens geraten war und letztlich wohl nur mit seinem Tod enden konnte.
Leigh Fermor hat nur einen einzigen Roman geschrieben – „Die Violinen von Saint-Jacques“ (1953) – und ist als Reiseschriftsteller doch ein Romancier gewesen, der sich selbst zur Romanfigur wurde. Vor allem „Die Zeit der Gaben“ und „Zwischen Wäldern und Wasser“ sind der große Bildungsroman Paddys, und es konnte als beinahe triumphaler Lebensbeweis gelten, wenn Leigh Fermor, mittlerweile über 90, bei einer von vielen Ordensverleihungen wie nebenbei mitteilte, dass er gerade Schreibmaschine lerne, um auch den dritten Teil zu vollenden. In Griechenland und Großbritannien ging ein Rauschen durch den Blätterwald, als er das sagte, und seit Leigh Fermors Bücher in Manfred Alliés großartiger deutscher Übersetzung im Züricher Dörlemann Verlag erscheinen, kann man auch in Deutschland begreifen, warum.
„Oh ja“, hat Leigh Fermor an einem Frühsommertag vor fünf Jahren in seinem Haus in Kardamili gesagt, „ich werde dieses Buch schreiben. Es soll am Berg Athos enden.“ Der Besucher wollte es damals nicht glauben, doch wie es aussieht, hat er sich geirrt. Offenbar war eine erste Fassung des dritten Bandes seit geraumer Zeit fertig, und wie die Artemis Cooper, die Paddys Biografie schreiben wird, mitteilt, hat Leigh Fermor den Text bis zuletzt überarbeitet – fast achtzig Jahre, nachdem er im Schatten Tower Bridge aufbrach. Samstag, 9. Dezember 1933: „Auf Picadilly schimmerten tausend Regenschirme über tausend Bowlerhüten“.
Am Freitag, den 10. Juni 2011, ist Patrick Leigh Fermor im englischen Worcestershire gestorben. In seinen 96 Jahren hat er für einige hundert gelebt.“
Rest in Peace, Paddy!