110 Jahre leben, von Paul Gourgai.

GRÄBER, KERZEN, MÜNZEN 

Auf halbem Weg zwischen Frangokástello und Chóra Sfakíon im Südwesten Kretas liegt die kleine Ortschaft Nomikianá, bemerkenswert wegen einer singulären Gegebenheit, die bislang niemandem (?!) aufgefallen ist. Es handelt sich um einen Grabstein, besser gesagt um den Marmordeckel eines Grabes auf dem Friedhof der kleinen Ortschaft, in den die Geburts- und Sterbedaten der hier beerdigten Person, Despina Mavrigiannaki, eingraviert sind. 

Diesen Angaben zufolge lebte die Frau 110 Jahre!  


Despina Mavrigiannaki, 1884 –1994. 

Maex, meiner Gefährtin bei vielen Abenteuern, insbesondere unseres Abenteuers zu zweit, und mir fiel die Besonderheit dieser Angaben deshalb  sehr rasch auf, weil wir uns seit vielen Jahren u.a. mit dem Phänomen der  sogenannten „Supercentenarians“ beschäftigen, das sind Personen, die 110 Jahre und mehr lebten. Naturgemäß sind es nur wenige, die dieses hohe Alter erreichen; in Griechenland sind es gerade einmal fünf Personen, deren Daten  diesbezüglich auch geprüft und validiert sind. 

Für uns beide ist es eine Beschäftigung besonderer Art geworden, auf Friedhöfen nach den ältesten Verstorbenen zu suchen. Wir teilen die Gräberreihe in zwei Bereiche, Maex übernimmt den linken, ich den rechten Teil der Gräber. Wir rufen uns dann, wie bei einer Versteigerung, die jeweils größte Zahl an Lebensjahren zu, sofern wir damit nicht andere Besucher des  Friedhofs stören würden, was bei unseren Besuchen des Friedhofs von Nomikianá nie Thema war. Der Friedhof lag stets ganz und gar einsam da; in der Mittagshitze totenstill.  

Aus solcher kontemplativer Beschäftigung erwuchs uns, als praktizierenden Sozialwissenschaftlern, im Laufe der Jahre ein Forschungsgegenstand, dessen Bearbeitung zu so manchen kuriosen Erlebnissen führte.  

(Siehe Paul Gourgai, Die älteste Frau der Welt, Typoskript erhältlich beim Autor) 

Im Zuge unserer Recherchen stießen wir auf eine international tätige Organisation mit Sitz in Kalifornien, die sich professionell mit der Sammlung und Prüfung von Angaben über Personen befasst, die einhundertzehn Jahre und älter geworden sind. An dieses Institut werden die relevanten Daten von nationalen Korrespondenten gemeldet, die auch für die Prüfung der Gültigkeit dieser Angaben Sorge tragen; sofern sie denn diese Agenda auch tatsächlich wahrnehmen. Im vorliegenden Fall der Frau aus Nomikianá scheint sich irgendetwas gespießt zu haben, denn der als zuständig genannte und von uns auch kontaktierte Gerontologe hat sich nie gerührt, so, um es im Kontext zu formulieren, als ob er sich totstellen wollte. 

Vor einigen Jahren fanden wir als Quartier für die Wintermonate auf Kreta eine Wohnung, die direkt neben dem kleinen örtlichen Friedhof lag; wir erinnern uns an einen in einen dunklen Anzug gekleideten jüngeren Mann, der täglich an einem bestimmten Grab extensive Beräucherungsrituale vollzog. Mit einem kleinen Räucherfass bewehrt nebelte er den Grabstein von allen Seiten ein, lange Zeit in einfachen vor- und rückwärts gerichteten Bewegungen,  zwischendurch aber auch in abenteuerlichen Girlanden, die aus der Ferne betrachtet etwa wie kreuzförmige Verrenkungen aussahen. Diese Verräucherungszeremonie konnte bis zu zwanzig Minuten dauern, dann gönnte sich der Nebelwerfer ein kleines Zigaretterl, um hernach wieder seiner rauchigen Beschäftigung nachzugehen. Derartige Verrichtungen nahm der Betreffende auch bei verschiedenen anderen Gräbern vor. Wie ein nähere  Erkundung ergab, handelte es sich bei dem vollständig verweihräucherten Menschen um jemanden, der im Auftrag von Hinterbliebenen diese Riten vollzog, die wahrscheinlich den Sinn hatten, die Mächte, die den in andere Sphären Vorangegangenen begegnen könnten, wohlwollend zu stimmen. Aber Genaueres lässt sich dazu nicht ermitteln. 

Maex hingegen hatte einen sehr irdischen Kommentar parat, als sie diesem  Räucherspektakel zusah. „Wahrscheinlich muss da jemand erst desinfiziert  werden!“, meinte sie. Was immer damit gemeint gewesen sein mag. Aber Maex  wartete auch mit anderen kryptischen Kommentaren auf, wenn es um Vorgänge  auf dem Friedhof ging. So hatten wir eines Morgens, als wir gerade das  Frühstück auf dem Balkon in der herrlichen Novembersonne einnahmen, den  Eindruck, als ob wir eben direkt vom Friedhof her ein Geräusch gehört hätten,  das doch tatsächlich wie ein Gewehrschuss klang. Zwar war gerade Jagdzeit,  man riet uns auch zur Vorsicht, insbesondere bei Wanderungen stets mit dem  Beschuss durch Schrotkugeln zu rechnen, doch Maex äußerte eine ganz andere  Vermutung: „Vielleicht will da jemand auf Nummer Sicher gehen…“, was immer sie damit gemeint haben mochte… 

Yiamas?

Der Friedhof barg auch noch Kuriositäten ganz anderer Art, so etwa diese  bemerkenswerte Gestaltung eines Sarkophags: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte…..

In unserem Sommerdomizil in Frango frequentieren wir gerne das Kirchlein,  das dem Agíos Theódoros geweiht ist. Es ist an einem schwer zugänglichen Ort  gelegen, gerade noch in Sichtweite des Meers; am Fuße des Walls der  Riesenberge mit den steinzerfetzten Schluchten und Felsen. Dort entzünden wir regelmäßig zwei Kerzen, ein vielleicht sinnfrei sinniges  Ritual, das uns Verbundenheit empfinden läßt.  



Davon, dass wir dort immer wieder auftauchen, hat auch ein Rudel von  aufgeweckten Burschen zwischen acht und zwölf Jahren Witterung aufgenommen. Diese Racker haben ganz schnell mitbekommen, dass wir, anläßlich unserer meditativen Besuche des Kirchleins, stets eine Handvoll Schotter aus 10-, 20- und 50-Cent-Münzen in die dafür vorgesehene Box leeren. Da begab es sich doch einmal, dass wir nach der Visite in der Kapelle,  schon auf dem Weg in eine nahe gelegene Taverne, plötzlich den Rückwärtsgang einlegen mussten, da wir bemerkten, dass wir unsere  Sonnenschutzmützen beim guten alten Theódoros liegen gelassen hatten.

Also schnell zurück. Kaum dass wir das Tor geöffnet hatten, starrten uns mit entsetzensgeweiteten Augen ein paar niedliche Knaben an, die gerade dabei waren,s erbeutete Geld zu zählen. Wir schenkten ihnen einen strafenden Blick aus Maexens Blitzeschleuderfertigung und ein verständnisinniges Grinsen meinerseits. Naturgemäß kann man so diese Buben nicht auf den Pfad der Tugend locken… 

Paul Gourgai 2021