„Anekdotisches“, von Paul Gourgai.

PLATEIA

Anekdotisches zum Verhalten im öffentlichen Raum, von Paul Gourgai.

Gerade als sie die schmale Straße zur Plateia hin überqueren wollten, brauste ein ungeschlachtes Monstrum heran, das täglich um diese Stunde auf einem kleinen Motorrad zum Marktplatz unterwegs war, um dort dicke Stöße von Zeitungen, auf sein Gefährt zu laden, das, wie durch ein Wunder, den fetten Koloss samt Ladung ohne aufzumucken und geradezu rasant den Hügel hinter dem Platz hinauf transportierte. Nach getaner Tat – der Koloss hatte einige Zeitungskioske zu betreuen – schoss er wie eine Bombe ans Ende der Paralia, der Hafenstraße, murmelte Unverständliches vor sich hin und presste unverstehbare Sprachbrocken aus seinen fetten Fleischbergen, nahm ein gar lieblich kleines Päckchen Milch in seine Pranken und schüttete sich den Inhalt in einem einzigen Zug in die wüst verfetteten Höhlensysteme seines gewaltigen Wanstes.


Plateia

Damals

Plateia (griechisch πλατεῖα, pl. Plateiai) war die Bezeichnung für eine Hauptstraße in einer antiken griechischen Stadt, insbesondere einer repräsentativ ausgebauten Straße, die etwa von Säulenhallen gesäumt war. Die Bezeichnung findet sich in den Inschriften zahlreicher Städte, vor allem in Kleinasien, aber auch bei Lexikographen oder Artemidor von Daldis.

Heute

Im modernen Griechenland bezeichnet der als Platía ausgesprochene Begriff den Hauptplatz eines Ortes, der mit Cafés, Tavernen, Spielplätzen besonders zur Abendzeit die gesellschaftliche Mitte eines Ortes ausmacht. Um den Platz sind häufig gastronomische Betriebe angesiedelt, die Sitzgelegenheiten auf den meist rechteckigen Platz stellen. An den Ecken der Platia befinden sich meist die als Periptero bezeichneten Kioske. Quelle: Wikipedia.


Auf dem fettig spiegelnden Marmor des Platzes rannten ein paar Kinder hinter einigen Tauben her, die zwei Meter aufflatterten, schmucklos, grau und gefräßig. Die Kinder stoben gleich wider hinter drein, und wieder gab es zwei Meter weit ein ledriges Klatschen fahlgrauer Flügel.

Fotos von Sven Bremecker.

Die Bäume trugen schwer an den Orangen, die, längst überreif, hinab auf die Erde gefallen waren und bis zu den Datteln unter den Palmen am Rande des Platzes rollten. Ein Bub von drei oder vier Jahren rannte zu einem der orangenen Bälle, nahm ihn in die Hände, trug ihn ein paar Meter, blieb auf dem spiegelglatten Marmor stehen, ließ die Orange auf den Stein fallen, trat mit dem rechten Fuß ein paar Mal und so fest, wie er konnte, auf die Frucht, bis sie platzte. Der Knabe, in ein adrettes Höslein und ein blitzsauberes Jäcklein gekleidet, trat noch einmal kräftig in die saftigen Spalten, glitt auf diesen aus und landete hart auf dem Stein. Plärrend rappelte er sich wieder auf, griff mit den Händen in die matschige Frucht und wischte sich die Finger an den Kleidern trocken.

Als die Mutter scheltend herbeieilte und die ,begann der Bub, dem die Tränen herunterrannen, laut und anfallartig zu schreien. Da aber schlug die Mutter mit mehr Kraft als noch zuvor auf den Knaben ein. Manche der Umstehenden sahen dies mit Missmut und gingen sehr rasch vorbei, ein paar andere Mütter und auch einige Großmütter aber bekundeten der Züchtigung ihren Beifall. Als schließlich ein Mädchen von etwa fünf Jahren, gewiss die Schwester des Buben, der immer noch schluchzte, diesen von der Seite anstieß, entlud sich der Hass und die Wut und der Zorn des malträtierten Geschöpfs in einen kraftvollen Biss, einen scharfen, schrecklichen Biss in die Hand des Mädchens. Ein durchdringender Schrei. Schläge setzte es nun nach allen Seiten, hinein in das Gebrüll und Gezeter. Unter Plärren und Hieben wurden die Kinder zu häuslichen Torturen weggeschleppt.


Kleanthis Triposkiadis, der Versicherungsagent, und Dr. Voudaris, der Rechtsanwalt, die dies alles mit unterschiedlicher Wahrnehmung verfolgt hatten, schlenderten indes weiter über den spiegelglatten Marmorboden des Platzes.

Wissen Sie, lieber Triposkiadis, sagte der Rechtsanwalt mit seiner schnarrenden Stimme zu Kleanthis, manchmal denke ich, dass die Sitten, wie sie vor über hundert Jahren hier herrschten, heute bedauerlicherweise nicht mehr in Geltung sind. Wie belieben zu meinen?, antwortete Kleanthis mit leichtem Ingrimm etwas gespreizt, weil ihm solche Attitüden, in der Vergangenheit stets das Bewahrenswerte zu sehen, schlicht auf den Hammer gingen.

Na wissen Sie, damals war die Plateia in mehrere parallel zueinander verlaufende Flanierbahnen aufgeteilt, eine für die Nobilität, die vornehmsten Reeder und Unternehmer und den Metropoliten, eine für die Großbürger und die Geistlichkeit, eine für den Mittelstand und eine für das gewöhnliche Volk. Diese Bahnen sind durch die Pflasterung mit Marmorsteinen unterschiedlicher Qualität leicht erkennbar gewesen. Selbstredend war die Bahn, die mit dem feinsten und edelsten Marmor ausgelegt war, jene für die nobelste Herrschaft gewesen. Es hat eine spezielle Stadtpolizei gegeben, die darüber wachte, dass jeder Stand auf seiner ihm zugewiesenen Bahn blieb und keine Übertritte von einer Bahn auf eine andere stattfanden. Damals wären wir freilich von solchen Vorfälle wie eben verschont geblieben.


Kleanthis aber merkte flapsig an: Na, da wären wir zwei aber auch nicht zusammengekommen, denn Sie, verehrter Herr Doktor, hätten sich doch der Gunsterweise der versammelten Zelebritäten kaum erwehren können, während man einen kleinen Versicherungsagenten wie mich im Zweifelsfall auf die äußerste Außenbahn verbannt hätte.

Voudaris verfiel, als er dies hörte, in ein abgehacktes, trockenes Lachen. Er schien sich köstlich zu amüsieren.

Jedenfalls war die Verwaltung der Stadt damals vorbildlich, da man mit insgesamt dreißig Mann Gendarmen für die ganze Insel ausgekommen ist. Der größte Teil war naturgemäß in Chania stationiert und hielt mit so wenig ausübender Gewalt die als unruhig bekannten Einwohner, insbesondere das viele wilde Seevolk aus so vielen verschiedenen Ländern in guter Ordnung zusammen!«, konnte es sich der Rechtsanwalt nicht verkneifen, noch eine weitere Belehrung anzufügen.

Man hat damals insgesamt, mit der ganzen Architektur, die wohl gefügte Ordnung der Gesellschaft trefflich zum Ausdruck gebracht. Sie können das ja noch heute sehen. Die Bauten der Behörden hat man, vom Markt getrennt, in den Bereich darüber konzentriert. Dort saßen sie die guten alten verlässlichen Beamten nach dem Motto, der Bürokrat tut seine Pflicht von neun bis eins, mehr tut er nicht! Die Wohnhäuser der Beamten und einfachen Bürger waren da oben in Vron… konzentriert, und von den Villen der Reichen im Stadtteil Vap…separiert, und schließlich hat man die Kirchen der Reichen weitab von jenen der Armen errichtet, die weit drüben in Nea…. hausten. Und noch ein Stückchen weiter,« setzte Voudaris seine Erläuterungen mit immer leiser werdender Stimme und dem dringlicher werdenden Ton von Vertraulichkeit fort, »dort wo sich jetzt das breite ausgetrocknete Flussbett zwischen Ermo.. und Ano… erstreckt, befanden sich türkische Bäder und eine große Zahl von Bordellen. Es gab ja auch genug Bedarf, wenn Sie an die Massen von Seeleuten aus aller Herren Länder denken!


Kleanthis gab zu verstehen, dass er ungern der Kumpan zotiger Rede werden wollte. Voudaris scherte das nicht im Geringsten, denn er hatte längst wieder sein wohlgefügtes, überkommenes, um nicht zu sagen verkommenes Gesellschaftsbild vor Augen.

All diese räumlichen Segregationen, fuhr er, nachdem er einen kräftigen Zug aus seiner Virginiazigarre genommen hatte, vor sich hindampfend fort zu dozieren, korrespondierten vorzüglich mit den gesellschaftlichen Separierungen. Nur die allabendliche ´Volta`, das Schlendern auf der Plateia und an der Hafenstraße mischte auf übersichtliche Art für die Zeit eines Spazierganges durch die Stadt die gesellschaftlichen Schichten, die sich nach Vollzug des Flanierens wieder in die ihnen gehörigen Viertel zerteilten, wie es eben der natürlichen Ordnung entspricht. Kleanthis gab angesichts dieser geballten Ladung an Borniertheit, seine Absicht auf, sich dazu überhaupt noch zu äußern, und nahm sich nur umso fester vor, den Rechtsanwalt bei nächster Gelegenheit in dessen Kanzlei gehörig ins Schwitzen zu bringen.

Dieser aber ließ sich gar nicht beirren, seine Weisheiten gänzlich ungefragt weiter zu verzapfen.

Auf jeden Fall aber wird durch die Wiederholung der Rangabstufung in den durch sie getrennten Systemen die rangmäßige Platzierung zu einer Alltagserfahrung, und in allen Lebensfragen ist man gut beraten, wenn man weiß und beachtet, ob ein Kontakt nach oben oder nach unten gerichtet ist oder von gleich zu gleich läuft.

Jetzt aber konnte Kleanthis doch nicht an sich halten und erwiderte dem Rechtsanwalt, die sogenannte natürliche, ja genetische Determination des Lebens ist ja unbestritten, aber daraus folgt doch gerade nicht, dass auch Sozialordnungen von da aus determiniert wären!

Voudaris blieb kurz stehen, sah Kleanthis mit provokant fragendem Gesichtsausdruck an, worauf dieser mit nicht geringem Vergnügen in die Richtung der ihm gegenüber befindlichen Physiognomie sagte, ich will Ihnen aber konzedieren, dass keine Sozialordnung Bestand haben kann, die verlangen würde, dass die Menschen ständig auf den Händen statt auf den Füßen laufen.

Voudaris machte einen deutlich irritierten Eindruck und wartete auf eine Art von conclusio, die ihm Aufschluss über den Sinn dieser Einwendungen geben würde. Genau darauf aber wollte Kleanthis ja hinaus. Und es kann, wie man sieht, offenbar auch keine Sozialordnung Bestand haben, die verlangt, dass sich die Menschen entlang von Flanierbahnen bewegen!

Voudaris wandte sich daraufhin abrupt zur Seite. Wenn er etwas ganz und gar nicht goutierte, dann war es jene verschlagene Art des Argumentierens, die ihm erst im letzten Moment und für einen wohl berechneten Einwand viel zu spät erkennen ließ, dass er praktisch schon Matt gesetzt war.

Diesen seinen Ärger musste der Rechtsanwalt in einer ihm intellektuell ansprechend erscheinenden Form bewältigen und formulierte deshalb mit leicht trotzigem Unterton: Würden zwei Männer der Gesellschaft als einzige Überlebende auf einer öden Insel übrigbleiben, auf der sie niemandem gegenüber durch gute Manieren sich auszuweisen hätten, würden sie einander doch an solchen Spuren guter Erziehung erkennen, ebenso wie zwei Latinisten am korrekten Zitieren Vergils.

Schweigend setzten die beiden Herren ihren Weg fort. Als sie das großzügig bemessene Freigelände des Platzes hinter sich gelassen hatten, tat sich ein Durcheinander an uralten Läden, an absurd unmodisch anmutenden Textilgeschäften auf, in die Boutiquen modernsten Zuschnitts wie in surrealer Verbindung divergierender Zeitläufe hinein platziert waren.

Als sie an einer Fleischerei vorbei gingen, machte Voudaris auf die kleinen Schilder zwischen den Haken aufmerksam, die hier seit Jahrzehnten angebracht waren. Auf einem konnte man lesen „Rinderfleisch aus Mykonos“.


Wissen Sie«, ergriff Voudaris in einem Ton, der erkennen ließ, dass er eine neue Partie begonnen hatte, wieder belehrend das Wort, der gleiche Händler brachte jede Weihnachten Armeen von lebenden Truthähnen, die er da unten in der Seitengasse, zusammenpferchte. Daneben war gleich die Geflügelhandlung mit den gemauerten Käfigen und einem ganz einzigartigen Perlhuhn, das dort mindestens ein Jahrzehnt lebte, Tausenden anderen Geflügels, das dort nur kurze Zeit verbrachte, gleichsam zum Trotz. Daraufhin brach der Rechtsanwalt wieder in ein abgehacktes Lachgegacker aus.

Als sie ein paar Meter weitergegangen waren, hielten sie vor einem der alten Fleischergeschäfte, das im Laufe der letzten Jahre zu einem modernen Imbiss umgebaut worden war. In einer Auslage konnte man das stark vergrößerte Foto einer Szene von ehedem sehen: Zentnerschwere, abgehäutete Kadaver hingen an Metallhaken. Der Fleischermeister kam eben mit einem Handbesen heraus, um die Hunderte von Fliegen vom Fleisch abzukehren. Dann watschelte er wieder hinter seine Budel, um sich dem Aufschneiden seiner Köstlichkeiten zu widmen. Diesmal war Wurst gefragt. Es war, das Scheit eines Fleischstrunks, was hier als Mortadella verabreicht worden war.

Wenig später betraten Voudaris und Kleanthis ein Haus, das hinter dem Palladium, einem dem Rathaus seitlich zum Markt hin appendizierten Gebäude, an einer der vielen, den Stadtberg hinaufgestuften Treppen lag.

Sie stiegen in den zweiten Stock des Hauses, von dem aus das gesamte Panorama der Bucht von Chan… zu sehen war; von der griechisch-orthodoxen Kirche der Reichen zur Linken, über die südlichen Inselberge bis zu den in scharfen Windungen bezwungenen Bergen von Tala…zur Rechten.

Voudaris bat Kleanthis, in einem Fauteuil Platz zu nehmen; er möge ihn für ein paar Augenblicke entschuldigen, er müsse dringend noch ein paar Schreiben in der Kanzlei unten im ersten Stock signieren.

Machen Sie es sich bequem, bedienen Sie sich, fühlen Sie sich wie zu Hause!, forderte ihn der Rechtsanwalt auf. Kleanthis nahm einen Ouzo, schenkte ein Glas Eiswasser zu, nahm ein silbernes Tablett voll Pistazien und sank seufzend in den Fauteuil. Wohlig ließ er die Wärme des Schnapses sich im Magen ausbreiten.

Paul Gourgai, September 2023

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