„Jorgos, der Schäfer.“ Von Gastautor Paul Gourgai.
Als wir dem Athanasios, dem Wirt der Taverne „Zum guten Herzen“ bei einem Begrüßungs-Tsipoura zu erklären versuchten, dass wir, in einem der Apartments einer Anlage am äußersten Ende des Ortes wohnten, wollte ihm partout nicht einfallen, wo sich denn diese Häuser befänden.
Und immer noch war angestrengtes Nachdenken zu vermerken, als wir erläuterten, dass diese doch ganz nahe bei jenem wunderschönen Steinhaus an der Stelle stünden, wo die Straße einen scharfen Knick nach rechts macht, um von dort schnurgerade hinauf zum Dorf am Fuße des Berges zu führen. Jorgos hieße der Besitzer, setzten wir hinzu. Immer noch keine Reaktion. “Der Jorgos mit den Lämmchen“ versuchte es Maex noch einmal – und tatsächlich, endlich war der Groschen (Drachme, Cent) gefallen. Ja, den kenne er natürlich, sagte Athanasios, das sei ja der Schäfer am anderen Ende vom Dorf. Bei dem also wohnten wir.
Öfter mal, wenn wir Schäfchen irgendwo an ausgedörrtem Gestrüpp herumzupfen und knabbern sahen, fragten wir sie, „seid ihr die Schäfchen vom Jorgos?“ Sie sahen uns immer irgendwie ratlos an, aber, wie mir erst klar wurde, hätten wir sie natürlich auf Griechisch fragen sollen. So aber, in einer ihnen gänzlich unvertrauten Sprache gefragt, blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als uns eher verständnislos, um nicht zu sagen, geradezu teilnahmslos anzuglotzen.
Eigentlich waren wir vor Jorgos ein wenig gewarnt worden. Er sei ein bisschen seltsam, hatte man uns erzählt; einmal sei es doch tatsächlich passiert, dass zwei Familien nach der eineinhalbstündigen Fahrt vom Flughafen Chania recht erschöpft mit Sack und Pack bei Jorgos angekommen seien, um zu ihrem Schrecken feststellen zu müssen, dass alle Apartments schon belegt waren. In der Tat, Jorgos hatte sich da irgendwie vertan und die Apartments doppelt vergeben…
Uns jedenfalls hatte er, ein etwa dreißigjähriger kräftiger dunkler Kerl, nett begrüßt, recht knapp und kurz gewiss, und war bald wieder verschwunden. Es klopfte in den nächsten zwei Wochen auch niemand mit dem Wunsch an, bei uns einzuziehen.
In der zweiten Nacht war an Schlaf nicht zu denken, denn in unregelmäßigen aber doch häufig wiederkehrenden Abständen klopfte irgendetwas an die Wand, die nichts Besseres zu tun hatte, als den Schall durch das ganze Apartment zu tragen. Ein hölzern klingendes „Tock Tock Tock“ war es, dessen Herkunft nächtens einfach nicht auszumachen war. Der Sturm brauste so heftig, dass wir den Eindruck hatten, dass irgendwo oben am flachen Dach irgendein Kabel oder ein loses Eisenstück immer wieder an den Beton geschlagen wurde.
Am Morgen stöberte ich Jorgos in der Kammer, in der er bisweilen nächtigte, auf und erklärte ihm den Sachverhalt. Selbstredend in Griechisch, denn er verstand kein Deutsch, wohl auch kein Französisch oder Italienisch, und Englisch nur etwa zwölf Wörter, ein bisschen zu wenig, um die Komplexität der Situation adäquat zu verbalisieren. Daher also alles in Griechisch, mit Händen und Füßen. Jorgos bedauerte, dass wir uns so gestört gefühlt hätten, er versicherte mir, dass er wisse, dass es von großem Übel sei, wenn man schlecht schlafe. Und das war es dann auch.
Ich zog wieder ab, und wir hofften im Stillen, dass Jorgos vielleicht der Sache auf dem Dach nachgehen würde. Doch weit gefehlt. Er tat nichts. Es tat sich nichts. Bloß das „Tock Tock Tock“ war immer wieder zu hören, denn der Sturm brauste unaufhörlich weiter. Das sollte er noch insgesamt drei Tage tun.
Am Nachmittag hörten wir, wie Jorgos mit seinem großen schwarzen Pick-Up, auf dem er ein riesiges Weinfass festgeschnallt hatte, über die knirschenden Steine in die Anlage hereinfuhr. Ich, bloß mit luftigem Leiberl, leichter Hose und ausgelatschten Schlapfen adjustiert, startete sogleich, freilich ziemlich müden und schleppenden Schrittes, in die Richtung, in die Jorgos schon wieder verschwunden war. Urplötzlich aber tauchte er vor mir auf und fragte mich doch tatsächlich unverzüglich, ob das Geräusch immer noch zu hören sei. Ich bejahte resigniert und schlug ihm vor, dass wir doch gemeinsam auf das Dach steigen könnten, um der Sache nachzugehen.
Ohne einen Moment zu zögern, fischte Jorgos unter einem Wust von Brettern eine Leiter hervor, die mir indes für unsere Zecke doch recht kurz geraten schien. Er ließ mir den Vortritt. Als ich auf der vorletzten Sprosse stand, konnte ich gerade mit Not über die Dachkante sehen. Die letzte Sprosse war aber derart windschief, dass ich es nicht wagte, ihr meinen nicht extrem untergewichtigen Corpus so ohne Weiteres anzuvertrauen. Jorgos schien dies sofort einzusehen, bedeutete mir, wieder herunterzusteigen, nahm die Leiter in seine überaus kräftigen Hände, bog die letzte Sprosse zu einer Art von Podest, stellte das Ding wieder an die Hauswand und bat zum erneuten Aufstieg.
Diesmal fasste ich Mut, stieg auch auf das oberste Blechpodest und hatte nur mehr einen knappen Meter zu überwinden. Es würde sich um einen Klimmzug mit rechtzeitig angesetztem Schwung handeln, überlegte ich, um das rechte Knie über die Kante zu hieven, wobei darauf zu achten wäre, dass mir die Pantoffeln nicht von den Füßen rutschten. Möge die Übung gelingen, so mein Wunsch. Es gelang. Jorgos war sofort hinter mir und gleich schon auf dem Dach. So konnten wir mit der Suche beginnen.
Erstaunlicherweise machte das Dach einen durchaus wohlgeordneten Eindruck. Solaranlagen, Wassertanks, Fernsehantennen, diverse Kabel und Eisenstücke schienen gut fixiert; und doch meinte Jorgos, dass dieses Kabel, jenes Stützholz, und dieses Stück da und jenes Stück dort vielleicht etwas zu viel Spiel in dem heftigen Sturm, der über uns hinweg brauste, haben könnten. Er würde dies alles fixieren.
Zuvor aber sollte ich den Abstieg noch hinter mich bringen. Diesmal war Jorgos wieselflink vor mir an der Hauswand hinuntergeglitten, um mir die Leiter zu halten. Ich ließ mich, ohne irgendetwas zu sehen, bloß dem Gefühl folgend mit einem vorsichtig nachlassenden Klimmzug bis auf die oberste Sprosse hinunter, setzte mein Pantöffelchen auf und erledigte auch den Rest mit Anstand.
Es dauerte nicht lange, bis wir Jorgos geschäftig auf dem Dach herumhantieren hörten. Nach ein paar Minuten war die Arbeit da oben getan. Von Jorgos hörte man nichts mehr, dafür wieder, sobald der Sturm an Stärke zulegte, das sattsam bekannte „Tock Tock Tock“. Es war zum Verzweifeln. Während wir noch ratlos berieten, was man denn tun könne – wir überlegten schon, die Betten aus den Schlafzimmern in das Wohnzimmer zu transportieren, da dort dieses Geräusch nicht so penetrant laut zu vernehmen war -, näherte sich Jorgos, scheinbar darin vertieft, die Blumen vor unserem Apartment zu gießen, und als er nahe genug war, fragte er, wie beiläufig, ob denn jetzt alles in Ordnung sei. Wir mussten leider verneinen.
Da aber war er mit einem Satz bei uns heroben und nahm sich nun jeden einzelnen Stamm der enormen, prachtvollen Bougainvillea vor, die sich dicht verwachsen über die ganze Breite der Terrasse zum Dach hinaufrankte. Jeden einzelnen Stamm bog er und schwenkte er hin und her, bis er doch in der Tat endlich einen gefunden hatte, der, wenn er an die Dachkante schlug, das enervierende „Tock Tock Tock“ erzeugte.
Maex mit ihrem feinen Gehör, hatte sofort den Übeltäter identifiziert und umgehend wurde er von Jorgos zwangsbehandelt, beschnippelt, gebogen, zusammengebunden, auf dass er keinen Schaden nie und nimmer und auf gar keinen Fall mehr anrichten sollte.
Von da an hatten wir Jorgos fest ins Herz geschlossen – und er wohl auch uns.
Als wir am Ende unseres Aufenthaltes Abschied nahmen, brachte uns Jorgos ganz unvermutet ein Geschenk: eine prall gefüllte Eineinhalbliterplastikflasche, die er Maex mit den, immer noch scheu vorgetragenen, aber sichtlich stolzen Worten übergab: „Είναι το δικό μου κρασί!“ Wir bedankten uns und versicherten ihm, dass wir uns schon darauf freuten, den Wein zu Hause zu verkosten.
Eine Rarität fürwahr, die Geschichte mit Jorgos, aber auch sein Wein. Ein Probeglas zu Hause in Wien überzeugte uns, dass dieser dunkelrosé gefärbte Rebensaft irgendwie den Charakter seines Erzeugers widerspiegelt: erdig und einfach, voll herber Herzlichkeit.
In den Jahren darauf besuchten wir immer wieder unseren Jorgos, den Schäfer. Nie aber konnten wir klären, welche denn nun eigentlich seine Schafe waren…
Paul Gourgai (Mehr Geschichten von Paul)