Alexis Sorbas – „Irgendwie ist er schon ein Vorbild“.

Reihe „Europäischer Kanon“: Die Autorin Zoe Jenny über „Alexis Sorbas“ von Nikos Kazantzakis

Zoe Jenny im Gespräch mit Dieter Kassel, DRADIO.de.

„Ich identifiziere mich mit diesem Charakter sehr stark. Ich finde, die Leidenschaft, mit der er lebt, ist unbedingt ein Vorbild“, sagt die Schriftstellerin Zoe Jenny über Alexis Sorbas, Protagonist des gleichnamigen Romans von Nikos Kazantzakis. Mit 16 Jahren habe sie das Buch zum ersten Mal gelesen – und seither immer wieder.

Zoe Jenny: Also ganz ehrlich, ich bin auch über den Film zum Buch gekommen, aber das Buch ist mir jetzt schon ein langer Begleiter. Ich habe es mit 16 zum ersten Mal gelesen, und seither ist es überall mitgekommen, und ich lese es immer wieder. Ich schaue mir auch den Film immer wieder an, weil es so eine … ich liebe dieses Buch, ich liebe die Geschichte, aber der Film ist ganz toll. Es ist ja relativ selten, dass man von einem Film auf das Buch kommt.

Dieter Kassel: Das heißt aber auch, wenn Sie das Buch lesen, Sie stellen sich schon immer Alexis Sorbas so vor wie Anthony Quinn?

Jenny: Ja, ja, das ist unvermeidlich. Auf jeden Fall.

Kassel: Damit wir jetzt die Filmbilder gar nicht weiter reinkriegen in den Kopf – im Radio kann man das ja gut vermeiden -, schlage ich vor, bevor wir über den Inhalt des Buches reden, hören wir einen Ausschnitt. Wie immer in dieser Serie ist das nicht von irgendwo, sondern es ist schlicht und ergreifend jetzt der Anfang des Romans „Alexis Sorbas“.

„Ich begegnete ihm zuerst in Piräus. Ich war zum Hafen hinabgegangen, um den Dampfer nach Kreta zu nehmen. Der Morgen dämmerte. Es regnete, ein heftiger Schirokko wehte, und die Salzwasserspritzer flogen bis zum kleinen Kaffeehaus. Die Glastüren waren geschlossen. Der Raum roch nach Menschen und Salbeitee. Draußen war es kalt, und die Scheiben waren vom Atem der Gäste beschlagen. Fünf, sechs übernächtige Seeleute in ihren dicken, braunen Ziegenhaarjacken tranken Kaffee und Salbeitee und blickten durch die trüben Scheiben auf das Meer.

Die Fische, betäubt vom Peitschen des Sturmes, hatten sich auf den stillen Grund geflüchtet und warteten, dass sich das Meer oben wieder glätte. Und auch die Fischer, die in den Kaffeehäusern eng beieinander hockten, warteten auf das Ende des Unwetters, damit sich die Fische beruhigten, an die Oberfläche kämen und wieder anbissen. Die Seezungen, Wasserskorpione und Rochen kehrten von ihren nächtlichen Raubzügen zurück, um sich schlafen zu legen. Der Tag brach an. Die Glastür öffnete sich, ein kleiner, sonnengebräunter Hafenarbeiter trat ein, ohne Mütze, barfuss, voller Lehmspritzer.“

Kassel: Das war der Anfang von „Alexis Sorbas“ von Nikos Kazantzakis. Dieses Buch hat die Schweizer Schriftstellerin Zoe Jenny ausgewählt für unseren europäischen Sommerkanon. Frau Jenny, das waren ja jetzt nur die ersten Zeilen, wie geht der Roman denn weiter?

Jenny: Also in der Eröffnungsszene sehen wir, wie der Schriftsteller, der englische Schriftsteller Basil nach Kreta fährt und zum ersten Mal auf Alexis Sorbas trifft. Der Schriftsteller hat ein Bergwerk geerbt, und deshalb geht er nach Kreta und möchte – es ist stillgelegt – und er möchte es wieder aufbauen und funktionstüchtig machen. Und Alexis Sorbas ist ein Minenarbeiter, und der fragt ihn, heuert ihn dann an, also gibt ihm die Stelle, dieses Bergwerk wieder instandzustellen. Und so beginnt diese lange Freundschaft zwischen Basil und Alexis Sorbas – zwei sehr verschiedene Charaktere tatsächlich, sie könnten nicht unterschiedlicher sein, also der intellektuelle Schriftsteller, der Bücherwurm, und der Lebemann und Lebenskünstler Alexis. Im Zentrum steht diese Freundschaft zwischen diesen beiden Männern.

Kassel: Nun ist es so, dass man, wenn man ein Buch liest, gerade auch als junger Mensch – Sie haben ja gesagt, Sie haben mit 16 „Alexis Sorbas“ das erste Mal gelesen -, man identifiziert sich doch oft ganz stark mit einer der beiden Figuren. War es denn in dem Fall eher bei Ihnen Basil oder Alexis Sorbas selber?

Jenny: Alexis Sorbas. Also der Basil, der Schriftsteller, bleibt immer, also er lernt eigentlich von Alexis, wie man leben soll, weil er selber sich eigentlich im Weg steht – durch sein Analysieren, durch sein Lesen, er ist der typische europäische Intellektuelle, der irgendwie in sich geschlossen ist und der irgendwie nicht leben kann, nicht weiß, wie man leben soll. Und Alexis wirft ihm alles ins Gesicht, also wie die Leidenschaft oder die Passion, er wirft sich in alles hinein, also in seine Arbeit, er liebt die Frauen, er liebt das Essen, er tanzt, er spielt Musik – all das fehlt dem Basil, der das alles nur zuschauen kann, aber eigentlich nicht wirklich leben kann.

Kassel: Das Lebensmotto von Alexis Sorbas, das wird immer wieder zitiert, wenn man über den Film oder das Buch redet, lautet: Das Leben lieben und den Tod nicht fürchten. Ist das auch Ihr Motto?

Jenny: Ja, unbedingt. Also ich versuche eigentlich auch, das Leben als ein Adventure zu sehen, als ein Abenteuer, und mich nicht einzuschränken und zu limitieren, obwohl es ist ja unmöglich, es nicht zu tun bis zu einem gewissen Maße, aber irgendwie ist er schon ein Vorbild. Also ich identifiziere mich mit diesem Charakter sehr stark. Ich finde, die Leidenschaft, mit der er lebt, ist unbedingt ein Vorbild.

Kassel: Wenn man in Literaturlexika guckt, dann wird dieser Roman immer wieder als Schelmenroman bezeichnet. Ich muss zugeben, dass ich nicht völlig verstanden habe, was ist ein Schelmenroman ist, können Sie mir das erklären?

Jenny: Ja, ich finde das auch nicht so passend, also ich sehe ihn nicht als ein Schelm. Ja, er ist schelmisch, Alexis, er ist frech, er muss in die Stadt fahren, um Material zu kaufen für das Bergwerk, und er bleibt dann viel länger und verprasst das ganze Geld und kommt zurück mit nichts. Also er ist ein frecher Charakter, der sich nicht unbedingt an die Regeln hält. Aber Basil vergibt ihm das, er wird dennoch beschenkt. Obwohl er ihn eigentlich ruiniert, beschenkt er ihn, weil er für ihn lebt, weil er ihm zeigt, wie Leben geht und die Leidenschaft geht.

Kassel: Wie sehr haben Sie sich, als Sie den Film gesehen haben oder eher natürlich auch, als Sie dann das Buch gelesen haben, auch mit Nikos Kazantzakis beschäftigt, mit seinem Leben, weil ja natürlich ein Teil des Buches und damit auch des Filmes durchaus autobiografisch ist.

Jenny: Ja, es ist es insofern, dass er selber Bergwerke nicht besaß, aber gepachtet hatte, und die sind auch zusammengebrochen, also wie es auch in dem Roman ja nicht funktioniert, also das Bergwerk wird nie instandgestellt. Am Ende bricht alles zusammen, die Drahtseilbahn, die sie bauen, bricht zusammen, so endet eigentlich dann auch das Buch mehr oder weniger. Basil verliert alles, also … und wird dennoch beschenkt. Und ich glaube, Kazantzakis hat auch sein Leben so wahrscheinlich gelebt oder versuchte womöglich auch so zu leben wie Alexis Sorbas, kann ich mir vorstellen.

Kassel: Wie wichtig war es denn überhaupt für Sie, weil das klang jetzt so, als würden Sie am liebsten auch über Nikos Kazantzakis gar nicht so viel wissen. Ist das so eine Sache, dass Sie sagen, das entzaubert den Roman auch, wenn man zu viel über den Autor weiß?

Jenny: Nicht unbedingt. Also man kann den Roman natürlich lesen, ohne irgendetwas zu wissen, es ist gar nicht notwendig, aber ich fand es dennoch interessant zu lesen, dass er selber diese Bergwerke besaß und dass er auch einen Mann kennengelernt hat, der also 13 Jahre älter als er war und das Vorbild für Alexis Sorbas wurde mit dem gleichen Namen, also Georgios Sorbas hieß, das auf einer lebenden Figur basiert. Ist eigentlich auch sehr schön zu wissen, dass es solche Menschen tatsächlich in echt gibt – oder gab zumindest.

Kassel: Ich würde sagen gegeben hat, das ist ja schon eine Weile her, Kazantzakis ist ja noch im 19. Jahrhundert geboren und ich glaube 57 dann sogar in Deutschland gestorben. Sie haben einen Teil Ihrer Jugend selber auch in Griechenland verbracht, natürlich Jahrzehnte später als zu der Zeit, zu der der Roman spielt, aber für viele Menschen, auch für mich, hat vor allen Dingen auch der Film natürlich ewig das Griechenlandbild wirklich geprägt.

Jenny: Ja, das hat es bestimmt getan. Die griechische Seele, also die Leidenschaft, aber auch die Brutalität gleichzeitig. Also im Roman wird ja auch eine Lynchjustiz beschrieben. Da ist eine Witwe im Dorf, die eine sehr schöne Frau, eine junge Witwe, und alle Männer haben ein sexuelles Interesse an ihr. Aber sie ist nicht interessiert, sie zeigt die kalte Schulter, sie ist ganz cool. Und ein junger Mann bringt sich um wegen ihr, weil seine Leidenschaft oder sein Wunsch nicht in Erfüllung geht. Er bringt sich um und alle geben dann ihr die Schuld für diesen Selbstmord. Und sie wird dann tatsächlich umgebracht, mitten im Dorf, während alle rundherum stehen und Trauerweiber schreien: Bringt sie um, bringt sie um! Sie wird dann dort geköpft. Das ist im Roman viel brutaler geschrieben, also im Film ist die Szene auch sehr stark, aber im Roman ist es tatsächlich noch viel brutaler dargestellt, wie sie umgebracht wird.

Also das ist auch etwas sehr Griechisches, also diese, es ist nicht nur die Idylle in dem Dorf und in Kreta, das schöne Kreta, es ist tatsächlich auch sehr brutal. Die Dynamik der Menschen untereinander und wie diese Frau dann wirklich ausgesegnet wird, also ein Outsider wird und umgebracht wird und das auch als etwas ganz Normales angesehen wird – also sie muss umgebracht werden. Das ist auch wirklich sehr heftig. Und der einzige Mensch, der sich da für sie einsetzt und versucht das zu verhindern, ist Alexis Sorbas. Und da wird einem der Schriftsteller auch sehr unsympathisch, weil er ist immer der, der zuschaut. Auch in diesem Moment, wo er eigentlich eingreifen sollte, steht er dabei und schaut zu. Während der Einzige, der sich einsetzt für sie, ist Alexis. Also er ist eigentlich der, der tatsächlich lebt und der auch leidenschaftlich ist und auch moralisch richtig reagiert, also weiß, das Richtige vom Falschen zu trennen.

Kassel: Warum haben Sie gerade dieses Buch für den Europäischen Kanon ausgewählt, warum sollte das, wenn ich das jetzt mal so interpretieren darf, am liebsten wirklich jeder Europäer kennen?

Jenny: Nicht nur, weil es unglaublich schön geschrieben ist, weil die Charakterstudien sehr, sehr gut sind, weil die Geschichte spannend ist, sondern weil die Figur des Alexis Sorbas sollte eigentlich für jeden bis zu einem gewissen Fall ein Vorbild zeigen, also wie man eben lebt, also dass man sich nicht im Weg steht, alles analysiert und voraussehen möchte, sondern dass man eine Leidenschaft hat im Leben, dass man sich wirklich hingibt im Leben, weil es sonst verschwendet ist, wie er sagen würde: Wer nicht im Moment lebt, verschwendet seine Zeit.

Kassel: Sagt die Schweizer Schriftstellerin Zoe Jenny über „Alexis Sorbas“ von Nikos Kazantzakis. Das Buch ist Moment in Deutschland, übersetzt natürlich, als Taschenbuch im Piper-Verlag erhältlich, anders als der aktuelle Roman von Zoe Jenny, der nämlich ist in England gerade erst rausgekommen, „The Sky is Changing“ heißt er. Wer ihn jetzt schon haben will, kann ihn auf Englisch in der Legend Press bekommen, irgendwann wird es dann auch eine deutsche Variante geben. Frau Jenny, ich rufe Ihnen jetzt am Schluss zu: Lieben Sie das Leben und fürchten Sie nicht den Tod und haben Sie viel Spaß mit Ihren und allen anderen Büchern!

Jenny: Vielen Dank! Danke schön!

Ein Kommentar

  1. Der Roman ALEXIS SORBAS von Nikos Kazantzakis und natürlich der gleichnamige Film sind für mich die besten Beschreibungen über das Leben auf dem Lande und die Griechen selbst im 20. Jahrhundert vor und nach den Weltkriegen. Nikos Kazantzakis hatte in GR seinerzeit auch als Kultus- und Erziehungsminister gedient. Er war mehrmals zum Nobelpreis für Literatur vorgeschlagen, was allerdings die griech.- orthodoxe Amtskirche vereitelte. Sie hatte seine Nominierung nicht absegnen wollen, da er es in seinen Romanen wagte, sie zu kritisieren. So waren seine Werke im Nachkriegsgriechenland der 50./60.-ger Jahre in den Schulen auch verboten. Als Grieche dieser Generation konnte ich sie z.B. erst im Ausland lesen und darüber Auskunft erhalten. Wer seine Werke kennt, weiss, dass Kazantzakis ein tief religiöser Humanist war, der mit den Amtskirchen „nichts am Hut hatte“; denn er kannte ihre sture Blindheit und teilweise Unmenschlichkeit. Er war ein intellektueller mutiger Grieche aus Kreta, der sein Land und seine Mitmenschen geliebt hat. Eigentlich sollten seine Werke in den Schulen GR als Pflichtlektüre eingeführt werden.

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