Buchtipp: Die hammerharte Abrechnung mit dem Massentourismus.

Die Menschheit teilt sich in neugierige Reisende, tumbe Pauschaltouristen und nörgelnde Daheimbleiber. Ein Plädoyer eines Vielreisenden für bewusstes Reisen, Neugier und Abenteuer. Von Andreas Altmann

Zuerst etwas Grundsätzliches: Man muss nicht reisen, um ein einigermaßen geglücktes Leben zu führen. Gewiss nicht. Auch zu Hause kann man sich bewähren. Kann an Herausforderungen wachsen. Aber Reisen macht es einem möglicherweise leichter, zu dem Leben zu finden, das man will.

Ich spitze nur dann die Ohren, wenn notorisch Unbewegliche – gestärkt von volksnaher Küchenpsychologie – von „Flucht“ und „Verantwortungslosigkeit“ plappern. Wenn sie über uns reden, die Auf-und-Davons. Die wir ja lieber entschwinden, als uns den „Pflichten des Lebens“ zu stellen.

So erhaben glauben die Sitzenbleiber Recht zu sprechen. Sie fordern uns auf, es ihnen gleichzutun, sprich, ähnlich übersichtlich und zaghaft wie sie das Leben hinter uns zu bringen.

Woher nehmen sie diese Impertinenz? Vielleicht: Weil sie vor langer Zeit von einer anderen Zukunft träumten und schon bald die Träume verrieten. Um das auszuhalten – den Verrat, das Ducken, das Sicheinrichten in der Normalität –, holen sie mit der Moralkeule aus. Statt ihren Neid zuzugeben, statt den Schmerz einzugestehen, statt zu beichten: Ja, ich habe verschlafen!

Man zeige mir einen auf Erden, die letzten sechs Millionen Jahre Menschheitsgeschichte rauf und runter, der auf seinem Totenbett bereute, nicht mehr Zeit in seinem Büro-Kabuff verhockt zu haben. Einen, bitte, und ich widerrufe alles.

Wir Flüchtigen sind keine besseren Menschen, diese Behauptung wäre zu komisch. Auch nicht die Begabteren. Wir sind nur die Frustrierteren, die irgendwann den Frust nicht mehr aushielten – und die Konsequenzen zogen. Und abhauten.

Zurück zum Hauptthema. Ob es ein Wort gibt, das mehr Klischeebilder auslöst als der Begriff „Tourist“? Bibliotheken voller Bildbände könnte man mit ihm füllen: dem Zeitgenossen mit dem Frotteehut auf dem Kopf, dem beschrifteten T-Shirt (I love NY), der Bauchtasche vor dem Bauch, der baumelnden Kamera, den Shorts, den schwer behaarten Waden, den Füßen, die – an halsbrecherischer Uneleganz nicht mehr zu toppen – weißbesockt in Sandalen stecken.

Massentourismus ruiniert Mutter Erde

Das Gemeine an Klischees ist die Tatsache, dass sie oft unverschämt wahr sind. Wer hat noch nie die Hunderttausende gesehen, die ihre „schönsten Wochen des Jahres“ in türkischen oder dominikanischen Hotelbunkern verbringen? Wo auch immer.

Ich würde an die Herrschaften beim Einchecken gern Luftaufnahmen verteilen, sagen wir, von der Costa Blanca und von Kreta, je zwei Fotos, einmal vor 30 Jahren aufgenommen, einmal brandneu. Damit sie den Ruin sehen, den die Massen und der Massentourismus an Mutter Erde zu verantworten haben.

Der Beton als Markenzeichen, der Protz als Richtschnur, der gräulichste Geschmack gerade gräulich genug. Hier, so scheint es, wollen sie in Schafsherdengröße durchgeschleust, abgefüttert und gegrillt werden. Als Fleischberg. Ihre am Strand in den Himmel ragenden Plauzen sind – wie die Betonklötze hinter ihnen – gewiss Zeichen mustergültigen Wachstums.

Was bedeutet „Reisen“ rein sprachlich?

Ich habe mir erlaubt, die letzten zwei Absätze mit der Axt zu schreiben. Damit dem magischen Wort „Reisen” seine Magie nicht abhanden kommt. Und nicht im Getriebe der Unmasse versandet, das mit Reisen so viel zu tun hat wie eine Bahnhofs-Bockwurst mit den Zaubereien der Haute Cuisine.

Ein Blick auf die Geburtsstunde des Begriffs soll die Zustände ins rechte Licht rücken: Das germanische Wort „reisa“ bedeutete „sich erheben“. Daraus wurde im Althochdeutschen „risen“, mit zwei scheinbar widersprüchlichen Bedeutungen: steigen und fallen, sprich, jeder Aufbruch war von zwei Grundgefühlen besetzt, dem Aufsteigen zu „höheren Sphären“, physisch und geistig. Und seinem Gegenteil: dem Fallen, den Ängsten, den herausfordernden Schwierigkeiten.

Es geht noch weiter. Das französische Wort „travail“ (Arbeit) hat denselben Ursprung wie das englische „travel“, Reise. Reisen soll also mit Anstrengung zu tun haben. Soll dem Reisenden bewusst machen, dass er seine Kraft investieren muss, um dem Fremden, der Fremde, nahezukommen.

Nicht jeder ist ein Reisender oder ein Tourist

Jeder hat das Recht, seinen Suchtquotienten bei „all-inclusive“ einzuschläfern, sich zu rösten, bis aus seinem Bauchnabel ein Geysir zischt und das Hirn als Trockenfleisch im Liegestuhl zurückbleibt. Nur „Reisender“ darf er sich nicht nennen. Selbstverständlich auch nicht „Tourist“, denn die Urbedeutung dieses Wortes kommt von „Drehung“, „drehen“. Nicht den Bauch, sondern die Füße: um an „Ereignissen und Vorgängen“ teilzunehmen. Auch das klingt passabel.

Gehen wir noch zwei weiteren Missverständnissen aus dem Weg, denn wir reden hier vom Reisen als größerem Vorhaben. Von Herrn Hagenkeck sprechen wir nicht, der sich seinen besten Business-Anzug übergezogen hat, um von Memmingen nach Bremen zu fliegen. Weil dort Herr Li wartet, um mit Herrn H. die Lieferung von fünfzig Memminger Kanalrohren nach Singapur zu besprechen.

Wir reden auch nicht von der hübschen Nathalie, die von Endersbach per S-Bahn nach Bad Cannstatt fährt, um dort ihre schwerhörige Großmutter zu besuchen. Nein, wir reden von einer Tat, die ins Unbekannte führen soll, dahin, wo weder der manierliche Herr Li noch eine taube Omi auf uns warten. Ja, wir reden hier vom Reisen in seiner nobelsten Bedeutung. Das klingt ein bisschen pathetisch. Mit Absicht, denn so behält das Wort seine Muskeln.

Und hier der zweite Irrtum, dem keiner erliegen soll: Es ist eher belanglos, wie jemand unterwegs ist.

Andreas auf Reisen.

Neugier, Wissensdurst, Freude am Entdecken

Ob allein, ob zu zweit, ob in einer Gruppe, ob im knall-fluoreszierenden Outfit oder mit der (kurzen) Lederhose, ob gründlich vorbereitet oder spontan entschlossen, ob als Zwölfjähriger oder 112-Jähriger, ob Mann oder Frau, ob mit löchrigen Flip-Flops oder den neuesten Tod’s, ob als abgebrochener Volksschüler oder zweifacher Doktor, ob mit dem Ranzen oder sieben Louis-Vuitton-Hutschachteln, ob per Fahrrad oder im Rollstuhl, ob mit drei Sous in der Tasche oder als Latifundienbesitzer, ob auf dem Dach oder in der Luxury Class der Indian Railways, ob als „Touri“ oder „Traveller“, ob heimatverliebt oder Kosmopolit, alles Schall und Rauch, alles ohne Bedeutung. Alles.

Denn nur ein Einziges entscheidet über den Wert einer Reise und den Sinn des Fortgehens: die mitgenommene Neugier, der Wissensdurst, die Freude am Entdecken, der Hunger nach allem.

Beweise: Ich habe schon frühgreise Halbwüchsige beobachtet, die zehntausend Kilometer geflogen sind, um sich Nachmittage lang vor der Hotelglotze zu räkeln und abends im Internet-Café stundenweise den Daheimgebliebenen von ihrem fetzigen Leben zu berichten. („Oh, Mann, ich sag’s dir, ein geiler Flecken ist das hier, total abgefahren, megakrasses Wetter, :-), der Florian.“)

Fragen, fragen, fragen

Und umgekehrt stimmt es nicht weniger: Junge, die vor Wissbegierde strotzen. Die etwas sehen und nicht weiterleben wollen, ohne zu verstehen, was sie gesehen haben. Ich erinnere mich an ein Liebespaar, Amerikaner, die nach Afghanistan (!) gekommen waren, weil sie wissen wollten, wie das Land aussieht, in dem ihre Regierung Krieg führt. Er war Schauspieler, sie Studentin. Auch sie fragten, fragten, fragten.

Dann wieder: Wer kennt sie nicht, die 50-plus-Säcke, die sich zum Kübelweise-Heineken-Saufen in Fernost niederlassen. Links und rechts eskortiert von zwei Kindfrauen, von denen sie nichts anderes erfahren wollen als die Preise. Ein kostspieliges Leben.

Denn inzwischen sind die Herren bei einer Hirnlosigkeit und einem Lebendgewicht angekommen, die zu keiner Gratisgabe mehr einladen. Anfassen kostet, Anfassen „unten“ kostet mehr und „fuggi-fuggi“ (auf Phuket-Englisch) kostet am meisten.

Gut, auch sie reisen: von einem Freilichtpuff ins nächste, als Schnäppchenjäger auf der Suche nach den billigsten Huren und dem billigsten Bier.

Ein Dutzend neugierige Greise

Und noch ein Beispiel, noch ein Beweis dafür, dass Altsein oder Jungsein nichts bedeuten muss. In China bin ich einem Dutzend Greisen begegnet, alle aus Hamburg. Sie hatten sich einen Kleinbus gemietet, um durch die hintersten Dörfer zu kurven. Und wo immer sie ausstiegen, bedrängten sie ihren Übersetzer mit Fragen. Zwölf neugierige Achtzigjährige, die erfahren wollten, wie es in der Welt zugeht.

In Afrika fragte mich einmal ein Zugschaffner: „Sind Sie Tourist?“ Beleidigt antwortete ich: „Nein, ich bin Reisender.“ Seine so überraschende Reaktion: „Ah, nur ein Reisender.“ Er war enttäuscht, ein voyageur war für ihn ein Nichtsnutz, der sich mit seinem dreckigen Rucksack durch die Welt schnorrt.

Aber ein Tourist, der hatte etwas erreicht, der hatte Geld, der ging shoppen und ließ die anderen wissen, dass er es geschafft hatte.

Matador der Fremde

Heute kann ich über meine eitle Reaktion nur lachen. Tourist oder Reisender? Nichts als Namen, nichts als Schubladen. Denn ich habe längst Abbitte geleistet. Nachdem ich früher auf den Neckermann-Vollpensionisten gespuckt und den Backpacker, also mich auch, als den wahren Matador der Fremde ausgerufen hatte.

Ich knie jetzt nochmals nieder und bitte ein weiteres Mal um Nachsicht. Denn inzwischen bin ich so vielen Rucksack-Rowdies begegnet, die um ein Uhr nachts die Türen knallen, um drei Uhr nachts besoffen durch das Hotel torkeln und morgens vollgekotzte Toiletten zurücklassen. Und habe, andererseits, so manchen Dicken mit Baseballkappe über dem rosa Gesicht beobachtet, der rücksichtsvoll anderer Leute Bedürfnis nach Schlaf achtete, der höflich „Guten Morgen“ sagte, der tatsächlich den Raum verließ, wenn sein Handy klingelte.

Unterwegs mit Respekt

Tourist oder Reisender, der Unterschied kümmert mich nicht, nicht mehr. Ich halte nur nach jenen Ausschau, die mit Respekt unterwegs sind und bei denen ich Kerosin durch ihr Blut rauschen höre. Als Kennzeichen ihres nie zu stillenden Drangs nach – so nannte es Alexander von Humboldt – „Weltbewusstsein“.

Weil sie suchen, was ihnen fremd ist, wildfremd. Weil sie in den Schatten dessen treten wollen, was sie nicht wissen, womöglich nie wissen und verstehen werden.

Das soll keinen von uns stören. Wie die Reise auch immer endet, sie ist ein Versprechen, die fabulöse Möglichkeit, sich bewusst zu werden, was der Globus alles zu bieten hat: an Horizonten, an Wahnsinn, an Mirakeln, an Wohltaten und Schandtaten, an weitschweifigsten Ideen und engstirnigsten Verirrungen.

Abgeworfen, als Stückgut überm Traumstrand

PS: Mag sein, dass ich beim Schreiben dieses Textes zu wüst die Axt geschwungen habe. Über den Köpfen derer, die sich als Stückgut über „Traumstränden“ abwerfen lassen. Damit aus dem Traum ein Albtraum wird.

Aber ich fühle, als wäre ich die Erde selbst. Jede Warze Hässlichkeit, jeder Betonklotz, jede Schneise Raffgier in einen Wald, jeder Ruf nach noch mehr Luxus, nach noch mehr Fressen, nach noch mehr Ansprüchen, nach noch mehr „Nie-den-Hals-Vollkriegen“ ist ein Schwinger auf mein Herz.

Ich verkrafte sie einfach nicht mehr, die Profitganoven, deren Maß aller Dinge einzig ihre Maßlosigkeit ist. Wie sagte es Karl Lagerfeld kürzlich: „Zu viel darf nicht genug sein.“ Aus dem Satz würde ich gern eine knochenharte Papyrusrolle drehen und sie ihm um die Ohren hauen. Alter muss für manche tatsächlich grausam sein. Jeden Tag landet ein neuer Nagel im Hirn. Um es abzudichten.

Mein zahnloses Gewimmer

Gut auch, dass ich als Schreiber noch nie von dem Wahn heimgesucht wurde, dass je eine Zeile von mir einem Geistlosen beim Wiederfinden seines Geists, wenn je vorhanden, helfen könnte. Der Schafsgeist – das ist ein Widerspruch in sich – gehört zum Zeitgeist.

Was ich hier als Postskriptum gerade notierte, ist natürlich nichts als zahnloses Gewimmer. Meines. Denn der Lust, die Erde totzuschlagen, um sich an ihr zu mästen, ist nicht beizukommen.

„Macht euch die Erde untertan!”, der kriminelle Schlachtruf stand schon in der Bibel. Nein, uns ist nicht zu helfen. Nicht mit Sprache, nicht mit Untergangsszenarien, nicht mit der Einführung des Dosenpfands, mit nichts. Wie ein unbesiegbarer Virus verseucht uns die Gier. Die uns kommandiert. Und von der wir uns kommandieren lassen.

Der Text stammt aus der „Gebrauchsanweisung für die Welt“, Piper Verlag, 224 Seiten, 14,99 Euro. Details zur aktuellen Lesetour unter www.andreas-altmann.com.

Tourismus auf Kreta: Das grosse Fressen oder wie alles begann.

2 Kommentare

  1. Beim Lesen dieses Textes ist mir kein einziges Mal der Gedanke gekommen, dass ich das Buch spannend finden könnte. Die komplette Buchvorstellung macht auf mich den Eindruck einer endlosen Belehrung, die nur ab und an von einer Entschuligung durchbrochen ist. Das macht richtig müde… Kalinxta! 😉

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