Buchtipp: „Liebe/r Kim“, von Jannis Plastargias.

Liebe/r Kim

Jannis Plastargias

Die Wucht einer Krebsdiagnose, der Kampf gegen den Tumor und das Erwachsenwerden führen zum Finden der eigenen Identität. Ein Roman in Briefform, ein junges Leben in Ausnahmesituation.

Für meine zwei Familien:
Die »echte«
Dimitrios – Gott hab ihn selig,
Eleftheria, Stavros, Sofia, Maria, Frank, Christian, Elisa und Anna
und die »gewählte«,
die es durch das Schicksal wurde
Ursula, Barbara, Karin, Benedikt, Klaus, Kathi, Thomas, Stefan
und all die vielen anderen
und
für all diejenigen, die den Krebs bekämpft haben oder gerade bekämpfen:
Viel Kraft!

Leseprobe

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Unser Buchtipp

Es kann kein Zufall sein, dass das 20 Jahre danach passiert«, sagt Helena leise. »Er ist genau so alt, wie du damals warst«, fügt sie etwas lauter, aufgeregter hinzu. Sie schaut uns allen nacheinander in die Augen, aber bei dem ›du‹ fixiert sie mich. Was ist schon Zufall, denke ich, was ist Schicksal? Ich möchte dem auf die Spur kommen, auch nach all dieser Zeit. Ja, 20 Jahre beschäftigt mich diese Frage schon. 20 Jahre! Es ist nicht ganz so lange her, dass wir das letzte Mal alle zusammensaßen, aber es ist eine Weile her, dass wir uns spontan an einem Ort trafen. Spontan. Gezwungenermaßen. Denn es ist diese Schreckensmeldung, die Thalís uns allen am Telefon mitgeteilt hat, die uns zusammenführt.

»Haben wir das vererbt bekommen?« fragt Parthena verstört. »Ist das in uns allen drin?« Sie schaut mich an, während sie redet. Ihr Blick flackert leicht. Ich finde zuerst keine Antworten, möchte nicht mit dem Schwierigsten beginnen. Erst sollten wir Fakten klären: »Wann gehen wir ihn morgen besuchen?«

Und so reden wir erst einmal über solche Dinge, bevor ich tiefer in das Thema eindringe. Damals, ja damals, sprachen wir nur zu Beginn darüber. Als alles klar war, beredeten wir kaum noch etwas miteinander. Nicht, dass ich mich verlassen gefühlt hätte, ich hatte eine neue Familie. Eine neue Familie in der Klinik. Krebs-Station. Von Pfaundler, Universitäts-Kinderklinik in Freiburg. Damals. Ich war sechzehn. So alt wie Kostas heute. Es wurde etwas in ihm entdeckt. Ganz plötzlich. Die Ärzte wissen noch nicht sicher, ob es ein Tumor, ein bösartiger Tumor gar, ist. Er war beim Badminton spielen umgeknickt. Man röntgte ihn, war verwirrt, man machte ein MRT-Bild (eine Magnetresonanztomographie) und… geht nun davon aus, dass es ein Tumor ist, dieser Flecken auf den Bildern.

Oder doch nur eine Zyste? Kostas´ Eltern haben Angst um ihn, mein Bruder und seine Frau, meine Schwägerin Birte, wir alle haben Angst um ihn. Sie haben ganz viele Fragen an mich, wie es bei mir war, wie ich mich fühlte, welche Tipps ich geben könne. Es ist merkwürdig. Mich hat meine damalige Erkrankung all die Jahre nicht ganz losgelassen, noch immer habe ich Schmerzen am Knie, noch immer träume ich davon. Lange Zeit hatte ich Angst vor einem Rückfall. Merkwürdig. Ich meine, ich bin gesund – ICH LEBE. Trotzdem, diese Zeit hat Narben hinterlassen. Sichtbare und unsichtbare. Noch immer wächst kein Haar an meinem rechten Knie. Unglaublich, aber wahr.

Was möchten sie wissen? Dass ich mitten in der Pubertät sechs Monate mit Unterbrechungen in der Klinik lag und ein ganz anderes Leben als all die anderen Jugendlichen führte? Dass mich meine Eltern eher stressten als auffingen, weil ich gerade in dieser Zeit, in der man rebelliert, gegen die Eltern kämpft gegen eine Krankheit kämpfen musste, die so viele Menschen in die Knie zwingt?

Sollen wir nun die Gespräche führen, die wir damals nicht führten, als wir es vielleicht hätten tun sollen? Nein, ich mache ihnen keine Vorwürfe, sie waren für mich da zu Beginn, sie beschäftigten sich mit dem Thema Chemotherapie. Aber als ich in der Klinik lag, das zweite, dritte Mal hinfuhr, als ich drin war, da konnte ich den Kontakt schwer aufrechterhalten. So vieles können plötzlich Außenstehende nicht begreifen, selbst wenn sie zur eigenen Geburtsfamilie gehören. Dinge, die nur jemand, der das gleiche durchlebt hat oder seit Jahren begleitet, nachvollziehen kann.

Die Klinik war meine Ersatzfamilie, die ganzen Leute da, die anderen Patienten, die Eltern, die Ärzte und Krankenpfleger – und ich hatte meine ganz eigene Art, wie ich mit der Erkrankung umging… Ich muss unbedingt schnell nach Hause und meine vollgeschriebenen Blätter suchen. Jahrelang hatte ich vor, sie in den PC einzugeben, auszudrucken und ein gebundenes Buch daraus zu machen. Doch alleine die Aussicht, das alles abtippen und noch einmal durchleben zu müssen, ließ meine Stimmung ins Traurige und Melancholische gesunken – und dann verspürte ich keinen Tatendrang mehr.