Häuser mit Seeblick werden in dem Maße begehrter, wie das Bewusstsein für Überschwemmungen abnimmt. Dabei sind Hochwasserkatastrophen keineswegs gebannt, wie die Geschichte der „Hafenwelle“ zeigt. Von Berthold Seewald, Welt.de
Die Einwohner des Dresdner Stadtteils Laubegast haben es geschafft. Zum zweiten Mal innerhalb von elf Jahren melden sie „Land unter“. Denn den Bau der zwei Meter hohen Mauer, die nach den Erfahrungen der Flut von 2002 das jetzt hätte verhindern können, haben sie mit Erfolg blockiert. „Wenn wir uns hier einmauern, dann bin ich zwar in einem Sicherheitsgefängnis, aber in einem Gefängnis. Der wunderbare Wohnwert dieses Viertels – das ist nun mal ein Fischerdorf – der ist dann einfach hin“, sagt einer der Betroffenen..
Auf die Idee, einem Wohnsitz am Wasser einen „wunderbaren Wohnwert“ beizumessen, ist Homo sapiens recht spät gekommen. Bis ins 20. Jahrhundert waren ihm Flüsse und Meere als Handelswege und Arbeitsplätze zwar genehm, aber wenn er an ihren Ufern wohnen musste, baute er die Fenster zur meerabgewandten Seite ein. Ein freier Blick aufs Wasser war nichts Erstrebenswertes; im Landesinneren galt es als sicherer.
Heute sind Häuser mit Seeblick begehrte Immobilien. „Dass dies alles an vielen Küsten innerhalb weniger Minuten zerstört werden kann, wird ausgeblendet“, konstatiert die Kulturhistorikerin Linda Maria Koldau. Die Professorin der Universität Utrecht hat soeben ein Buch über „Tsunamis“ vorgelegt. Wenn man „Meere“ gegen „Flüsse“ vertauscht, provoziert es zu den aktuellen Flutbildern zahlreiche Déjà-vus.
„Die moderne Gesellschaft zeichnet sich gegenüber alten Kulturen dadurch aus, dass sie die natürlichen Risiken der Küstenbesiedlung grundsätzlich ignoriert. Aus geografischer Sicht besitzen Küstenregionen generell eine besonders hohe Vulnerabilität. In vielen Ländern sind sie trotzdem dicht besiedelt und umfassend erschlossen … an ihnen liegen die größten Städte der Welt: Tokio, New York, Mumbai, Manila, Jakarta, Shanghai, Los Angeles.“
Schlimme Erfahrungen werden verdrängt
Die abendländische Kulturgeschichte der „Hafenwelle“, wie das japanische Wort Tsunami übersetzt heißt, ist ein schönes Beispiel für die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, schlimme Erfahrungen zu verdrängen. Wie die Bewohner von Laubegast die Flutwelle von 2002 offenbar in der Geschichte entsorgt haben, sublimierten die Europäer ihre Erinnerungen an große Überflutungen in Legenden oder Science-Fiction-Romanen, die allenfalls zur gruseligen Erbauung in küstennahen Orten dienten, aber nicht mehr als Mahnung.
Erst die Tsunami-Katastrophe, die Weihnachten 2004 in den Anrainerstaaten des Indischen Ozeans rund 230.000 Todesopfer forderte, hat das Naturphänomen der Großen Welle wieder ins Bewusstsein befördert. Und es bedurfte des Tsunamis, der im März 2011 Japan verwüstete und zur Atomhavarie von Fukushima führte, um zu erkennen, dass derartige Katastrophen sich keineswegs an einen Hundertjährigen Kalender halten, sondern jederzeit wiederkehren können. Was im Übrigen auch für starke Regenfälle im Erzgebirge gilt.
Um unserem historischen Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, hat Linda Maria Koldau eine Liste von großen Tsunamis und ihren Folgen zusammengestellt. Für die letzten 4000 Jahre verzeichnet das National Geophysical Data Center der USA mehrere Tausend Tsunamis. Die früheste genauer rekonstruierbare Erdbebenwelle war die Storegga-Rutschung vor rund 8000 Jahren. Frank Schätzing hat ihre Genese in seinem Roman „Der Schwarm“ ausführlich beschrieben.
Demnach gerieten Gashydrate im Boden des norwegischen Kontinentalabhangs möglicherweise durch ein Erdbeben auf einer Länge von fast 300 Kilometern ins Rutschen. Rund 5600 Kubikkilometer Material bewegten sich über 800 Kilometer Richtung Nordwesten. Die Küsten Englands, Schottlands, der Faröerinseln und Dänemarks wurden von den dabei entstehenden Riesenwellen verwüstet.
„Das Meer, rückwärts getrieben“
Mit dem Santorin-Ausbruch um 1620 v. Chr. bewegen wir uns bereits auf historischem Boden. Auch wenn Archäologen immer noch darüber streiten, welche Funde sie der Katastrophe zuordnen sollen, müssen die Folgen dramatisch gewesen sein. Die Explosion des Vulkans Santorin in den Kykladen trieb eine Wasserwand durch das östliche Mittelmeer, deren Auflaufhöhe an der Küste Palästinas noch sieben Meter betrug.
Der römische Historiker Ammianus Marcelinus hat die Folgen eines Bebens beschrieben, das 365 n. Chr. Kreta erschütterte: „Das Meer, rückwärts getrieben, verzog sich mit hinwälzenden Wogen, sodass im eröffneten Abgrund die vielgestaltigen Arten derer wahrgenommen werden konnten, die in der Meerestiefe schwimmen … Da erhebt sich, wie durch die Zurücksetzung gekränkt, ein Getöse des Meeres in entgegengesetzter Richtung, das über brodelnde Untiefen hinweg heftig auf Inseln und weite Gebiete des Festlands vorstieß und zahllose Gebäude in Städten … einebnete … und viele Tausend Menschen tötete.“