DER VAMPIR VON KALLIKRATIS.

DER VAMPIR VON KALLIKRATIS 

Nacherzählt von Paul Gourgai 2021 

Der englische Rechtsanwalt und Reiseschriftsteller Robert Pashley berichtet in seinen  Aufzeichnungen über Kreta (in „Travels in Greece“, 1837) von einer Vampirgeschichte, die sich in  Kallikratis, einem kleinen Bergdorf nahe Asi Gonia am Rande der Sfakia, im Südwesten der Insel zugetragen hätte. Ein Vampir trieb in dieser Ortschaft sein Unwesen. Er tötete Kinder und sogar  erwachsene Männer. In seinen nächtlichen Streifzügen durch das Dorf hinterließ er eine Spur der  Verwüstung. Diese sehr alte Legende erzählt von einem Priester des Dorfes, einem Popen, der von der  Griechisch Orthodoxen Kirche exkommuniziert wurde, weil er mit den Frauen verheirateter Männer geschlafen hatte. Als Folge dieser Exkommunikation verwandelte er sich nach seinem Tod in diesen  Vampir. 

Eines Nachts ereignete es sich, dass ein Schwager des Vampirs, ein Schafhirt, der seine Tiere beim  Kirchlein des Agios Giorgos weidete, im Friedhof Schutz vor einem Regenschauer suchte. Er blieb  genau bei dem Grab stehen, in dem der Vampir begraben war. Über dem Grab wölbte sich ein Mauerbogen, unter dem es trocken war. Er beschloss daher, sich dort zum Schlaf hinzulegen. Nachdem er seine Waffen abgelegt hatte, legte er sie, wie der Zufall es wollte, kreuzweise auf einen  Stein, der ihm als Polster dienen sollte. Manche meinten später, dass dies auch der Grund gewesen sei, weshalb der Vampir sein Grab nicht verlassen konnte. Das unaufhörliche Geklatsche des Regens  schläferte den Hirten so sehr ein, dass er bald schon in einen tiefen Schlaf fiel. 

Kurz nach Mitternacht wurde er aber von einem lauten dumpfen Schlag geweckt, der geradewegs von  dem Raum unter ihm herrührte. Dort lag der Unhold, der nun in der Nacht den Drang verspürte, aus  der Gruft herauszusteigen, um draussen Menschen zu zerstören. Er rief hinauf zu dem Schäfer: „He  Alter, steh auf und lass mich raus, denn ich hab da draussen was zu erledigen!“ Der Schäfer aber gab darauf keine Antwort, nicht beim ersten Mal, nicht beim zweiten Mal und auch nicht beim dritten Mal,  denn er ahnte, dass der Mann, der hier unten begraben war, jener Priester war, der nach seinem Tod in einen Vampir („Katakanas“) verwandelt worden war, den man suchte und jagte, und dass dieser es war,  der all die bösen Taten begangen hatte. 

„Steh endlich auf, du kleiner Scheisser!“, sagte der Unhold mit tiefer geisterhafter Stimme, „ich muss hier raus!“ 

Der Hirt aber antwortete nicht, denn er war aus lauter Furcht wie gelähmt. Er konnte nicht begreifen, wie der Priester, der einmal den Wein gesegnet und das heilige Brot geweiht hatte, anderen Priestern  den Amtseid abgenommen hatte und Paare verheiratet hatte, plötzlich ein Vampir geworden war. Als  der Vampir den Schäfer noch einmal ansprach, sagte dieser, „ich werde nicht aufstehen, Schwager, denn ich fürchte, dass du schlechter bist, als man sein sollte, und mir etwas Übles antun könntest. Aber wenn du mir bei deinem Grabtuch schwörst, dass du mir nichts tun wirst, dann werde ich  aufstehen.“ Der Vampir aber antwortete nur ausweichend und sagte alle möglichen Dinge nur nicht jene Worte, die ihm der Schafhirt abverlangte. 

Der Vampir forderte immer herrischer, herausgelassen zu werden, doch der Hirt wich nicht zurück, denn er war noch nicht so weit, sich dem unbekannten Grauen zu stellen. Er war gänzlich und auf´s  Äusserste erschrocken, wenn er an die Folgen dachte, wenn er denn diese Bestie herausliess. Es  brauchte eine Weile bis der Hirt sich mutig genug fühlte, auszurufen, „ich lasse dich nicht heraus,  denn ich weiß jetzt genau, was aus dir geworden ist! Wenn ich dich herauslasse, dann fällst du doch  über mich her, oder nicht?“ Seine Stimme zitterte, er klang kleinlaut und unterwürfig. Keine Antwort. 

„Aber, wenn du unbedingt heraus musst“, sagte der Schäfer gänzlich verzagt, „dann musst du bei den  Mächten, die dich unverweslich erhalten haben, schwören, dass du weder mir noch sonst jemanden, der deinen Weg kreuzt, ein Leid antun wirst. Versprichst du das?“ 

„Lass mich raus“, knurrte der Vampir. „Nur, wenn du schwörst.“ „Ich schwöre“. „Bei den Mächten, die dich binden.“ „Bei den Mächten, die mich binden“, wiederholte der Vampir. Als der Vampir merkte,  dass ihn der Hirt dennoch nicht aus der Gruft entlassen würde, versprach er dem Hirten alles, was 

dieser hören wollte. Daraufhin stand der Hirt auf und nahm seine Waffen von der Grabstätte weg, sodass der Katakanas herauskommen konnte. 

Der Schafhirt sprang vom Grab herunter. In wenigen Sekunden barst der Grabdeckel und die beiden Hälften wurden zur Seite geworfen. Eine dunkle Gestalt kam hervor und stieg aus dem Grab. Ganz im  Gegensatz zu dem, was der Hirt über Vampire gehört hatte, schien der Tote, der auftauchte, keine  Fangzähne, keine herausgewachsenen Nägel, keine Krallen oder sonst etwas in dieser Art zu haben.  Ganz im Gegenteil. Er schien jugendlich, fröhlich, flink und lebhaft.  

„Hab keine Angst“, sagte der Vampir zu ihm. „Sag mir einen guten Grund, weshalb ich keine haben  sollte“, erwiderte der Hirte. „Du bist doch tot, oder nicht ?“ 

„Ein Zustand, den wir alle irgendwann annehmen werden“, sagte der Vampir. „Hör mal, ich habe jetzt noch einiges zu tun, aber wenn du hier auf mich wartest, habe ich bei meiner Rückkehr eine  Überraschung für dich, Schwager; du darfst aber von hier nicht weggehen und musst solange hier sitzen bleiben, bis ich wiederkomme; ich habe noch etwas zu erledigen und werde in einer Stunde  zurück sein; ich habe dir dann noch einiges zu sagen.“ Der Katakanas raste zehn Meilen weit zu einem  Ort, an dem sich ein frisch angetrautes Paar aufhielt, tötete die beiden und weidete sie aus. Bei seiner Rückkehr zur Gruft sah der Hirt, dass der Vampir eine blutige Leber in seinen Händen hielt. Er blies ihn diese hinein und blähte sie auf, so wie es Metzger tun, um sie grösser zu machen.

Daraufhin lud der Vampir den Hirten ein, dieses Mahl mit ihm zu teilen, aber der Hirt tat nur so, als ob er von der Leber  essen würde. Zum Schluss sagte der Vampir zum Hirten, dass er niemandem etwas von den Ereignissen  dieser Nacht sagen dürfe, weil er sonst alle seine zwanzig Nägel in das Fleisch des Hirten und dessen  Kinder bohren würde. „Denn, wenn du das tust“, setzte er fort, „werde ich dich wie ein Tier hetzen und zur Strecke bringen und gut zwanzig Nägel in deinen Körper und auch in die Körper deiner Kinder  verkrallen.“  

Der Hirt nickte ergeben. 

Als endlich der Tag anbrach, suchte der Hirt die Hilfe des neu ernannten Dorfpriesters, der das Dorf  vom der Plage dieses dämonischen Wesens befreien sollte. Der Priester war bereit, sofort zu handeln, er trommelte die stärksten Männer, die er finden konnte, zusammen und stürmte mit ihnen zum  bewussten Grab. Als die Männer den schweren Grabdeckel anhoben sahen sie einen Körper, der weder tot noch zersetzt war; er war lebendig, nur in einem Zustand außer Kraft gesetzter Vitalität. Das Blut des mitternächtlichen Mahls war jetzt schon um die Lippen des Vampirs vertrocknet. Einiges war zwischen seinen Fingernägeln verkrustet. Die Männer verloren keine Zeit und hackten Holz zu Blöcken, schleuderten sie in eine Grube und zündeten sie an.  

Obwohl er tief und fest schlief, war dem Vampir bewusst, dass er verbrannt wurde. Bewusstlos entdeckte er die Anwesenheit des Mannes, der ihn betrogen hatte, und spuckte in seine Richtung; das  überraschte die Männer, einige von ihnen schrien auf. Die blutige Spucke traf den Schuh des Hirten und frass sich durch das Leder wie Schwefelsäure. Den Rest des Rituals beobachtete jeder aus  gehöriger Distanz. Als das Feuer schließlich verflackerte, durchsiebte der Priester den Haufen von  Asche, um sicherzustellen, dass die Überreste gänzlich zerfallen waren. Es war unmöglich, dass sich  aus dieser Asche und Staub noch einmal ein Körper bilden könnte. 

Das Dorf und seine Bewohner waren wieder in Sicherheit. 

Dieser Aberglaube an Vampire hielt sich bei einigen Leuten bis weit ins 20. Jahrhundert. Der berühmte kretische Widerstandskämpfer George Psychoundakis, der die Gegend um Asi Gonia und  Kallikratis ganz genau kannte, erzählte von einer Frau, die bis in ihre Knochen Angst vor einem Vampir  gehabt habe und die Konsequenzen ihres Aberglaubens zu erleiden hatte. Sie hatte stets einen großen Topf mit Schweinefleisch in ihrem Haus, aus dem sie sich bediente, wenn sie hungrig war. Darum neideten sie ein paar Gauner, die wussten, das die Frau wegen der Vampirgeschichte schrecklich ängstlich war und sich bei jedem Geräusch in der Nacht zu Tode erschreckte. Sie schlichen also in das  Haus herein, nahmen eine Lampe und begannen herumzutanzen und allen möglichen Firlefanz  aufzuführen. Die Frau, die vor Angst mit den Zähnen klapperte, hüllte sich in ihre schwere handgewebte Decke und schrie laut, alle Heiligen um Hilfe anflehend. Natürlich war dann das Fleisch  verschwunden, was die Frau in ihrem Aberglauben, dass der Vampir der Räuber gewesen sei, nur bestärkte.

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