Griechenland: Eine Gesellschaft im freien Fall

Von Elena Pecatoros, AFP. Aktualisiert am 06.11.2012

Täglich verlieren 1000 Menschen ihre Arbeit, Bürger streifen durch die Viertel und «räumen auf», Familien kommen kaum noch über die Runden: Die griechische Gesellschaft zeigt Auflösungserscheinungen.

Der Hinweis an der Wand eines Athener Spitals bittet um etwas Höflichkeit: «Die diensthabenden Ärzte sind seit Mai nicht mehr bezahlt worden. Bitte respektieren Sie ihre Arbeit.» Patienten und Besucher werfen einen kurzen Blick darauf und gehen ihrer Wege, sie kennen das schon.

Wenn täglich 1000 Menschen in Griechenland ihren Job verlieren und unzählige zwar Arbeit, aber seit Monaten keinen Lohn mehr gesehen haben, betrachten sich Beschäftigte mit pünktlicher Gehaltszahlung schon als Ausnahme von der Regel.

Auf den ersten Blick scheint alles in Ordnung zu sein in Athen. Der Verkehr brummt, die Restaurants sind geöffnet, man schlürft Kaffee in der Sonne. Doch wenn man an der Oberfläche kratzt, entdeckt man eine Gesellschaft im freien Fall, zerrissen von der schlimmsten Finanzkrise seit einem halben Jahrhundert.

Drei Jahre ist es her, dass Griechenland dem Rest der Eurozone beichten musste, dass sein Defizit weitaus höher war als zunächst gemeldet. Der Brand, den dieser Funken entzündete, schwelt bis heute.

Zum «Dschungel» werden
Für Rettungspakete von insgesamt 240 Milliarden Euro musste Griechenland drastische Sparmassnahmen ergreifen, Löhne und Renten kürzen und Steuern erhöhen. Diese Woche stehen weitere harte Entscheidungen an, begleitet von einem Generalstreik.

Demonstrationen sind in der Hauptstadt an der Tagesordnung. Geschäfte sind reihenweise geschlossen. Bürgerwehren streifen durch die Viertel, um «aufzuräumen», was die Polizei ihrer Ansicht nach nicht mehr fertigbringt.

Rechtsextremisten schlagen Ausländer zusammen, Anarchisten verprügeln die rechten Schläger. «Unsere Gesellschaft steht auf Messers Schneide», mahnte der Minister für öffentliche Ordnung, Nikos Dendias, kürzlich, als streikende Werftarbeiter das Verteidigungsministerium stürmten.

«Wenn wir uns nicht zusammenreissen können, wenn wir unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht erhalten können, wenn wir uns nicht mehr an die Regeln halten können… ich fürchte, dann werden wir am Ende zum Dschungel.»

Lebensstandard sackt ab
Tausende Unternehmen haben dicht gemacht, die Arbeitslosigkeit liegt bei 25 Prozent, bei jungen Leuten über 50 Prozent. Familien kommen kaum noch über die Runden. Heizöl ist so teuer geworden, dass viele für diesen Winter keines gekauft haben und hoffen, mit Decken, Gasöfchen und Feuerholz durchzukommen. Die Schlangen vor den Suppenküchen sind länger geworden.

Im überfüllten Zivilgericht in Saloniki wächst der Frust. Kläger, Angeklagte und Anwälte warten auf das Unabänderliche: Noch eine Vertagung, wieder ein neuer Termin. Ein Streik der Richter und Staatsanwälte als Protest gegen Gehaltskürzungen hat das verknöcherte Justizsystem fast vollkommen lahmgelegt, verhandelt wird nur eine Stunde am Tag.

Erhitzte Gemüter auch auf einer Demonstration von Behinderten in Athen. Die Gesundheitsausgaben wurden zusammengestrichen. In Spitälern ist alles von Verbandmull bis Operationsbesteck knapp, Das Personal bekommt oft monatelang kein Gehalt. Apotheken streiken regelmässig oder weigern sich, ermässigte Rezepte einzulösen, weil sie die staatlichen Zuschläge nicht bekommen haben.

Quelle: Basler Zeitung

Ein Kommentar

  1. Ein Volk wird systematisch kaputt gemacht … und das mitten in Europa!! Ich schäme mich für das umliegende Europa – erhebt Euch, Ihr stolzen Griechen – das habt Ihr nicht verdient!!!

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