Heller Wahnsinn oder Hellas Wahnsinn? Ein kleines Bild von Griechenland.

Heller Wahnsinn oder Hellas Wahnsinn? Ein kleines Bild von Griechenland.

Seit mehr als drei Jahren hält die Schuldenkrise Griechenlands Europa in Atem. Inzwischen hat jeder Bürger – ob groß oder klein, alt oder jung – eine Meinung zu dem Thema. Die Alternative in Deutschland verdankt der Griechenland-Krise ihre Existenz. Und auch wenn die AfD augenblicklich dank Selbstdemontage bereits wieder in der Versenkung verschwindet, weigert sich die Griechenland-Krise es dieser gleichzutun sondern hält sich weiter hartnäckig im Bewusstsein Europas.

Jeder weiß etwas über Griechenland, doch in Wirklichkeit wissen nur die wenigsten genug über Griechenland, um mehr als eine Twitter-Nachricht mit 140 Zeichen darüber zu schreiben. Was man weiß sind meist Gerüchte, “News” und lose Informationen aus Berichten, die in wenigen Minuten Sendezeit oder wenigen Zeilen Text einfache Antworten auf komplexe Fragen liefern.

Will man Griechenlands Probleme verstehen, kommt man nicht darum herum, sich mit der Geschichte und Entstehung der internen Struktur des griechischen Staatswesens zu beschäftigen, wofür leider weder 140 Twitterzeichen noch drei Minuten Sendezeit in der Tagesschau ausreichen…

Seit 1981 gehört Griechenland der Europäischen Union an. Dessen Aufnahme leitete die sogenannte „Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft“ ein, in deren Rahmen 1986 noch Portugal und Spanien folgten. Alle drei Länder waren junge Demokratien, die wenige Jahre zuvor noch von Militärdiktaturen beherrscht wurden. In Griechenland war es das Obristenregime (1967-1974), in  Portugal Antonio Salazars “Estado Novo” (1933-1974) und in Spanien das Franco-Regime (1936-1977). Deren Aufnahme war damals höchst umstritten. Alle drei Staaten waren wirtschaftlich weit hinter den restlichen EG-Länder, „weil korporativistische Wirtschaftssysteme als Teil der langjährigen autoritären Herrschaft in [den Ländern] die Wirtschaft verkrustet hatten“ (vgl. ausführlich Schrader und Laaser (1994: 142-144) und Laaser (1997: 2-4). Allerdings wollte man deren Demokratisierung unterstützen und neue Absatz- bzw. Werkbankmärkte erschließen, um einfache Tätigkeiten und Montagearbeiten aus den EG-Hochlohnländern auszulagern. Desweiteren war Kalter Krieg und man wollte deren Abdriften zu Sozialismus und Kommunismus verhindern.

Seit dem 1. Januar 2001 ist Griechenland ebenfalls Mitglied der Eurozone und seit 2004 war bekannt, dass die griechische Regierung seinerzeit ihre Zahlen geschönt hatte, um die EU-Konvergenzkriterien (auch Stabilitätskriterien oder Maastricht-Kriterien genannt) zu erfüllen. „We did send a mission to Greece, but they had a lot of problems of getting their numbers right. We had to establish a small [working] group which reviewed all of their statistics. All the figures contradicted“ (zit. in Savage 2008: 137). EU-Währungskommissar Joaquín Almunia übte damals Nachsicht mit Griechenland und verzichtete auf Sanktionen, da erst die damals neugewählte griechische Regierung unter Konstantinos Karamanlis die Fehlberechnungen der vergangenen Jahre aufgedeckt habe und dafür nicht bestraft werden dürfe. Allerdings hatten zwei Drittel aller Teilnehmer der Eurozone ebenfalls an der Statistik geschraubt, um die Maastricht-Kriterien zu erfüllen, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland: „By 1997, still only four nations met the target: Finland, France, Luxembourg, and the United Kingdom. Simply put, if the 60 percent debt barrier had been strictly observed, as had the deficit target, the EMU most likely would never have come into being” (ebd.: 2006: 136). So gesehen hätte die EU-Währungskommission der neugewählten Regierung Karamanlis höchstens den Vorwurf machen können, die Fehlberechnungen aufgedeckt und nicht weiter verschwiegen zu haben, wenn doch fast ein jeder Eurozonen-Teilnehmer dasselbe tat.

Griechenland stand mehr als vierhundert Jahre lang unter Osmanischer Herrschaft. Die Griechische Revolution wurde hauptsächlich von der griechischen Diaspora getragen (ausgewanderte Intellektuelle, Auslandsstudenten, Schriftsteller) und fand dank der im 18. Jahrhundert in Westeuropa herrschenden Begeisterung für das antike Griechenland weitere Unterstützung von außen. Ähnlich wie in Belgien etablierten die europäischen Großmächte auch in Griechenland von außen eine Monarchie um zu verhindern, dass sich der Republikanismus in Europa verbreitet. Im Ersten Weltkrieg blieb Griechenland aufgrund König Konstantins Sympathien für Kaiser Wilhelm bis 1917 neutral, trat aber nach des Königs (auf Druck der Aliierten erfolgten) Zwangsabdankung auf Seiten der Entente in den Krieg gegen die Mittelmächte (Deutschland, Österreich, Osmanisches Reich) ein. (Klemm/Schultheiss, 2015: 15). Im Zweiten Weltkrieg wurde das Land von einem deutsch-italienisch-bulgarischen Besatzungsregime beherrscht, und nach dem Zweiten Weltkrieg ging Griechenland direkt in den Griechischen Bürgerkrieg über, wobei die Kommunisten der EAM und ELAS von Jugoslawien und Albanien, die griechische Rechte von Großbritannien und den USA unterstützt wurden. „Einfluss von außen“ ist demnach schon lange eine Konstante des griechischen Staats, was deren Legitimation vor dem eigenen Volk erschwert. Da auch die wichtigsten Institutionen eines Staates nicht vom Bürgertum (welches sich auch nicht gegen Adel, deren Geburtsprivilegien und Willkür emanzipieren musste) erkämpft sondern importiert wurden, leitet sich bis heute die geringe Gestaltungskompetenz des Staates ab, z.B. eine moderne Infrastruktur- und Wirtschaftspolitik zu implementieren (Meynaud, 1969: 9).

Hinzu kommt, dass ein bewährtes (korruptes) Verwaltungssystem von Gefälligkeiten, Patronage und Klientelismus besteht, welches seinen Ursprung im Ämterkaufsbrauch des Osmanischen Reich hat. Die im Zuge des Befreiungskampfes importierten französischen und bayerischen Rechts- und Verwaltungsprinzipien fungieren als eine Art zweiter Ebene über der informellen Praxis des Klientelismus. Erschwerend kommt für das Verwaltungssystem hinzu, dass es in Griechenland kein Berufsbeamtentum gibt. Darüber hinaus spielen politische Parteien nur eine geringe Rolle und Wählertreue wird von allen Parteien hinweg durch Wahlgeschenke in Form von lässiger Steuerpolitik oder Jobbeschaffung im Öffentlichen Dienst gefördert. Bei Regierungswechsel können Parteien daher Staatsbedienstete beliebig ersetzen, eigene Anhänger auf begehrte Posten schieben oder einfach neue Posten schaffen. “Die Staatsunternehmen verwandelten sich im Lauf der Zeit zu Selbstversorgungsapparaten der in ihren organisierten Gruppen und der Parteinomenklatura, die sie leitete. Die Staatsunternehmen überlebten mithilfe von staatlichen Garantien, die, wenn fällig, die Staatsschulden vermehren. (Kazákos, 2015: 38). Eine Logik der Sachrationalität in Form ordnungsgemäßer Aufgabenerfüllung im Staatsinteresse muss deshalb schon rein aus Eigenschutz dem Parteienopportunismus unterlegen sein.

Das griechische Steuersystem ist hinsichtlich der Verwaltungskosten und des erzielten Aufkommens das ineffizienteste aller OECD-Länder. Denn „das fiskalische Hauptproblem, nämlich die Ausgaben zu verringern und die Einnahmen zu steigern, wird von der Regierung üblicherweise mit neuen Gesetzen und ostentativen Durchsetzungswillen zu lösen versucht.“ Dies hängt mit dem alle Gesellschaftsschichten durchdringenden Konsens beim Thema Steuervermeidung zusammen. Es gibt hierbei einen informellen Klassenkompromiss auf Kosten des Staates zwischen den gesellschaftlich relevanten Gruppen und politischen Parteien. „Die faktisch weitgehende Steuerbefreiung der Oberschicht wird hingenommen und durch das Verlangen nach umfangreichen staatlichen Transfers an vertretungsstarke Gruppen von Lohnabhängigen und durch ertrotzte Zugeständnisse an die Gewerkschaften kompensiert – mit dem Effekt, dass der Klientelismus und die Perspektive der Gruppeninteressen die Klassengegensätze überlagern und diese zur bloß rhetorischen Chiffre verblassen lassen. Daher bleiben die beiden dezidiert linken Parteien in ihrer Schuldzuweisung meist abstrakt und benennen als Krisenverursacher gern ‚das Kapital’ oder ‚die Plutokratie’“. Hauptnutznießer des „asymmetrischen und ineffektiven Steuerstaates“ sind die von den beiden großen Parteiblöcken PASOK und ND umworbene Mittelschicht aus Freiberufler, Selbständigen und gewerblichem Mittelstand, doch auch linke Parteien wie die SYRIZA haben wenig Interesse an einem effizienten Steuerstaat. Es liegt einerseits an deren zum Teil noch anarchistischen Traditionen, andererseits an der Tatsache, dass der Anteil an Freiberufler unter SYRIZA-Parlamentariern signifikant hoch ist  (Müller/Schmidt, 2010: 277-298). Dazu kommt das bei allen Gesellschaftsschichten aufgrund jahrzehntelanger Erfahrungen mit der strukturellen Schwäche des Staates ausgeprägte Denken, dass man dem Staat nichts geben will, weil er ineffizient ist und dieser ineffizient bleibt, weil zu viele ihm nichts geben wollen. Die Orthodoxe Kirche ist hierbei auch keine Hilfe, die als größter Grundbesitzer und reichste Institution des Landes weitgehend Steuerfreiheit genießt, sich obendrein ihre Priester und weitere Privilegien vom Staat bezahlen lässt (Salles, 2011).

Als letztes kommen wir auf die Wirtschaft zu sprechen. Laut OECD-Report 2013 entsteht 80,2% des Bruttoinlandsprodukts (155,2 Mrd. Euro) durch den Service- und Dienstleistungssektor, wozu Öffentlicher Dienst, Handel, Verkehr und Gastgewerbe zählen (OECD-Durchschnitt 69,8%). Industrie trägt 16,4% bei (OECD 27,7%), der Rest von 3,4% entfällt auf Landwirtschaft und Bodenschätze (OECD 2,5).

Die griechische Landwirtschaft ist ökonomisch gesehen nicht sonderlich effektiv. Die Betriebsgröße ist zu klein (0,7 ha vs. 15 ha im EU-Durchschnitt) und mangels strukturpolitischer Aktivitäten sind Modernisierungen in Anbaumethoden und Vermarktung ausgeblieben. Der Beitrag der Landwirtschaft zum Bruttoinlandsprodukts ist daher auch von 1995 (8,9%) bis 2013 (3,4%) überproportional gesunken und Griechenland ist zum Nettoimporteur von Lebensmittel geworden, was für das Handelsbilanzdefizit – welches übrigens das letzte Mal im Jahr 1913 einen Überschuss aufwies – nicht unbedingt förderlich ist. International wettbewerbsfähige Industrie ist in Griechenland kaum vorhanden. Einzig die petrochemische Industrie mit ihren nachgelagerten Produktionsstufen (Düngemittelindustrie, Pharmazeutik, etc.) ist hierbei eine nennenswerte Ausnahme. „Das Strukturproblem Griechenlands besteht darin, dass zu wenige Wirtschaftsbereiche Überschüsse erwirtschaften und die Leistungsbilanz insgesamt chronisch defizitär ist“ (Pagoulatos/Triantopoulos 2009: 36).

Das alles ist Griechenland und deshalb müssen meines Erachtens alle Sparmaßnahmen, Reformen und Auflagen scheitern. Denn hier kommt das griechische Dilemma ins Spiel: Das Land wird nicht nur von einem infrastrukturellen Problem in der Wirtschaft sondern gleichzeitig auch im Staatswesen bestimmt. Alle politischen Versprechen gegenüber Europas Gläubiger müssen daran scheitern, dass sie nur demonstrativ ostentativer Natur sein können und in ihrer Umsetzung scheitern müssen, solange der griechische Staat ein Akzeptanz- und Legitimationsproblem innerhalb der eigenen Gesellschaft besitzt.

Und so gesehen stellt die aktuelle SYRIZA-Regierung wiederum die beste Chance für eine Gesundung Griechenlands dar. Die SYRIZA gehört zwar, ebenso wie die rechtsradikale Chrysi Avgi, zur Gruppe der “glücklichen Zyniker”, die von der Welle der Enttäuschung und Wut der Menschen (finanziell oder) politisch profitieren konnten (Kýrtsis, 2015: 63), allerdings wird die Verfilzung aus Klientelismus und Patronage zwischen Staat, Volk und Wirtschaft, der die Volksparteien PASOK und ND auszeichnet, nicht traditionell mit den Linken des Landes verbunden, die aufgrund ihrer anarchistischer Ursprünge immer ein wenig abseits des politischen Spielfelds zu verorten waren. Sollte Alexis Tsipras jetzt tatsächlich Zugeständnisse gegenüber der EU und seinen Gläubigern machen, beweist er damit nur, dass SYRIZA kein Stück anders als die Großparteien und genauso dem fatalen Staatssystem verhaftet ist. In diesem Fall wird auch SYRIZA nichts am Parteienopportunismus des Öffentlichen Dienst ändern und Griechenland wird weiter im Hamsterrad gefangen sein, der das Land daran hindert, die verkrusteten Strukturen in Verwaltung und Gesellschaft aufzubrechen. In diesem Fall wird die Grexit-Debatte nur aufgeschoben, nicht aufgehoben.

Tsipras sollte nicht Europa sondern der eigenen Bevölkerung beweisen, dass seine Partei (und er selbst) anders als die anderen Parteien (und deren bisherigen Regierungschefs) ist. So gesehen führt kein Weg am Scheitern der Verhandlungen mit Griechenland vorbei, um einen Wechsel der Staatswahrnehmung im griechischen Volk zu erzwingen und danach den ersten wirklich vielversprechenden Neuanfang Griechenlands zu wagen, der diesen Namen verdient. Und vermutlich ist auch hier die wahre Ursache zu finden, warum Finanzminister Yanis Varoufakis einen Tag nach der in seinem Interesse ausgegangenen Volksabstimmung zu Reformen in Griechenland überraschend zurückgetreten ist: Weil auch die Regierung Tsipras nicht bereit sein dürfte die harten Konsequenzen mitzutragen, die einzig zu den notwendigen Änderungen in Griechenland führen können – das Risiko des Staatsbankrott im Vertrauen darauf einzugehen, dass die EU-Chefs in allerletzter Sekunde einknicken werden! Denn erst dann wird Tsipras die Legitimation seines Volkes besitzen, die seiner Partei erlauben könnte, Wählertreue nicht durch Wahlgeschenke kaufen zu müssen und den Öffentlichen Sektor so umzubauen, dass für deren Bediensteten Staatsinteresse gegenüber Parteienopportunismus die Oberhand gewinnt.

So oder so wird aber kein Weg von und für Griechenland – egal ob Grexit, Reformversprechen oder wirklicher Neuanfang – daran vorbeiführen, dass das Land einen weitreichenden Schuldenschnitt – ob weich oder hart – und umfangreiche Neukredite erhält. Denn ein Schuldenerlass macht nur dann Sinn, wenn er die Kreditwürdigkeit des Schuldners wiederherstellt. Jeder Schuldenerlass sorgt für einen höheren Marktwert der Restschulden und ruft Trittbrettfahrer (neue Gläubiger) auf den Plan (Reisen, 2007: 99).


Der Autor gilt als Kenner asiatischer Kriegsphilosophie und studiert Politik- und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Greifswald. Ihm ist bewusst, dass letztendlich auch er auf komplexe Fragen nur einfache Antworten gab. Allerdings benötigte er hierfür erstens deutlich mehr als nur 140 Zeichen einer Twitter-Nachricht und zweitens eignen sich manchmal einfache Antworten für komplexe Fragen, wenn sie das Ziel haben, einen gordischen Knoten zu lösen.

www.walterleonhardt


Quellen:

Kazákos, Pános: Griechische Politik 2009-2014: Der Kampf um Kredite und der mühsame Weg zu Refomen, hrsg. v. Klemm, Ulf-Dieter; Schultheiß, Wolfgang (Hg.): Die Krise in Griechenland – Ursprünge, Verlauf, Folgen, 2015: 35-39

Kýrtsis, Aléxandros-Andréas: Die griechische Gesellschaft unter dem Druck der Krise, hrsg. v. Klemm, Ulf-Dieter; Schultheiß, Wolfgang (Hg.): Die Krise in Griechenland – Ursprünge, Verlauf, Folgen, 2015: 63

Müller, Klaus; Schmidt, Rudi, 2010: Von der griechischen zur europäischen Krise: 277-298

OECD Economic Surveys: Greece 2013: 9-21

Reisen, Helmut, 2007: Wer hat Angst vor China? Aus IP 05/2007: 99

Salles, Allain; Ziegert, Martina; 2011: Griechenland – Das unberührbare Geld der Kirche. Abgerufen am 10.07.2015 unter http://www.voxeurop.eu/de/content/article/992661-das-unberuehrbare-geld-der-kirche

Schrader, Klaus; Laaser, Claus-Friedrich, 2012: Die Krise in Südeuropa oder die Angst vor dem Dominoeffekt: Griechenland, Portugal und Spanien im Krisentest, Kieler Diskussionsbeiträge, No. 500/501