Von Dr. Holger Czitrich-Stahl
Der Inbegriff des kretischen Freiheitswillens. Über den Aufstand des Daskalojiannis und seine grausame Niederschlagung 1770/71. Historische Notiz 65 vom 1. Januar 2010.
Von 1204 bis 1669 herrschten auf Kreta die Venezianer. Sie verleibten es sich nach dem für die Christenheit katastrophalen Kreuzzug desselben Jahres ein, als katholische Kreuzfahrer, anstatt ins Heilige Land zu reisen und „für die Befreiung des Grabes Christi“ aus den Händen der Muslime zu streiten, lieber Konstantinopel plünderten und brandschatzten und so dem Byzantinischen Reich beinahe 250 Jahre vor den Türken den Garaus machten.
Die Folge nämlich bestand in der Destabilisierung des östlichen Mittelmeerraumes, was letztlich zur Einnahme Thessalonikis durch die Türken 1430 und Athens 1458 führte. Zwischenzeitlich, am 29. Mai 1453, gelang den türkischen Armeen unter Sultan Mehmet II. (der Eroberer) nach zweimonatiger Belagerung die Einnahme Konstantinopels. Das „zweite Rom“, zu griechischen Zeiten Byzantion heißend, durch Kaiser Konstantin dem Großen (272-337 n. Chr.) zur Hauptstadt des östlichen Reichsteiles des Imperium Romanum erhoben, nach der Reichsteilung von 395 Hauptstadt des Oströmischen Reiches und nach dem Fall Westroms 476 Alleinerbin des Römerreichs, wurde zur Hauptstadt des Osmanischen Reiches, das von nun an eine Expansionspolitik nach Norden und Westen verfolgte.
Auf Kreta versuchte Venedig, seine politischen, religiösen und kulturellen Vorstellungen durchzusetzen. Nach der Landung von 31 Schiffen im Jahre 1206 begann der Versuch Venedigs zu einer Neuordnung Kretas. „Die langandauernde Periode der Venezianerherrschaft war für die kretische Kirche besonders hart. Die Venezianer, die es von Beginn an auf die Stabilisierung ihres Besitztums und auf die wirtschaftliche Ausnützung Kretas abgesehen hatten, sahen in der orthodoxen Kirche der Insel ihren stärksten und gefährlichsten Gegner“, wie Theocharis Detorakis in seiner „Geschichte von Kreta“ hervorhob. (1)
Doch alle Versuche des Vatikans, die Orthodoxie zu entmächtigen, scheiterten am Widerstand der orthodoxen Kirche und an der Renitenz der Kreter selbst. Schon wenige Jahrzehnte nach dem Beginn der venezianischen Herrschaft auf Kreta begannen die ersten Aufstände, die sich seither wie ein roter, blutgetränkter Faden durch die Zeit der Fremdherrschaft zogen. Nicht wenige kirchliche Würdenträger unterstützten die Aufständischen, es gab sogar „fränkische“, also katholische Überläufer zum Widerstand, der sich gegen die ungerechte Besteuerung und gegen willkürliche Enteignungen und die kulturelle Bevormundung wandte.
Heute sind die venezianischen Festungsbauten eine der großen Touristenattraktionen vor allem an der Nordküste. Zu nennen wären hier insbesondere die Hafenanlagen von Heraklion, dort auch die „Arsenali“, den Morosinibrunnen, den Bembobrunnen und die Venezianische Loggia. Auch Rethymnon hat dergleichen zu bieten, besonders den Arimondibrunnen und die Porta Guora. Am venezianischsten kommt Chania daher, ihre Altstadt mit den vielen kleinen und pittoresken Gassen ist ein städtebauliches Relikt der venezianischen Zeit; überdies verfügt Chania ebenfalls über eine Festung und Hafenanlagen nebst Leuchtturm aus dieser Epoche. Selbst die Südküste, wenngleich Venedig abgewandt, steht mit Frangokastello und dem Hafenkastell von Ierapetra nicht zurück.
Doch schon zur Zeit der venezianischen Besetzung tat sich eine kretische Region besonders hervor, wenn es um Widerborstigkeit und um Aufstände ging: Die Sfakia im Südwesten der Insel. Sie erstreckt sich von den Lefka Ori, den Weißen Bergen aus nach Süden in felsiges, unwegsames Gelände. Die Südküste bildet hier eine nur von wenigen Schluchten durchtrennte steile Felskulisse aus, manche Siedlungen sind fast ausschließlich auf dem Seewege erreichbar. Am bekanntesten ist die Samaria-Schlucht, die sich von Omalos aus rund 18 Km in Richtung Südküste zieht, an der schmalsten Stelle, den „Eisernen Pforten“, nur wenige Meter breit.
In dieses Gebiet der Sfakia zogen sich regelmäßig die Aufständischen zurück, aber auch die Verfolgten der Blutrache zwischen den sfakiotischen Familien, denn hier war man praktisch unangreifbar. Oft reichte schon ein politisch eher geringfügiger Anlass, um die Sfakioten zu mobilisieren. Detorakis berichtet, dass 1319 ein venezianischer Stadtkommandant einem Mädchen aus der adeligen Familie Skordilidis zu nahe trat. Ihre Verwandten töteten den Stadtkommandanten und seine Männer und griffen zu den Waffen. Viele Kreter aus dem Westen der Insel eilten hinzu, in der Samaria-Schlucht sollte die Entscheidungsschlacht stattfinden. Der mächtige adelige Kreter Alexios Kallergis sorgte dafür, dass seine Landsleute die Waffen niederlegten. (Detorakis, S. 174)
Die andauernden Spannungen zwischen Besatzern und Kretern ließen das Osmanische Reich, das seine lange innere Krise nach der Niederlage vor Wien 1529-1532 und der Seeschlacht von Lepanto 1571 überwunden hatte, wieder Machtprojektionen nach Westen entwickeln, nachdem es seit 1571 eine Periode angespannten Waffenstillstands gegeben hatte. Während die „Hohe Pforte“ in Istanbul wieder Kraft sammelte, ging es Venedig wirtschaftlich immer schlechter. Gleichzeitig wagte es nicht, die Kreter selbst in die Verteidigung der Insel gegen Aggressoren einzubeziehen, da man einen Volkskrieg fürchtete. Und so resümiert Detorakis: „So war das kretische Volk nicht nur unvorbereitet, sondern befand sich auch in einem großen historischen Dilemma, wie es der zeitgenössische Dichter Marinos Tzane Bounialis treffend ausdrückte: „Vom Regen in die Traufe fielen die Beschatteten und wußten nicht, wen sie mehr fürchten sollten, die Türken oder die Franken!““ (ebd., S. 244)
Im Jahr 1644 schließlich begann der Weg Kretas in eine Fremdherrschaft, als die Johanniter ein türkisches Pilgerschiff, das nach Mekka reisen wollte, kaperten und nach Chania entführten. Dieser Piratenakt löste den Angriff der Ottomanen auf Kreta aus. Nach zwei Monaten Belagerung wurde Chania am 22. August 1645 an die türkischen Truppen übergeben. Am 16. November 1646 folgte die Übergabe Rethymnons. Nach einer Belagerung von 21 Jahren (!) fiel auch Chandax (Candia), das heutige Heraklion, in die Hände der Türken, die 118.000 Tote während dieser Zeit zu beklagen hatten. Die Venezianer und Kreter büßten 31.000 Menschenleben ein! Die Eroberung des gesamten Kreta wurde 1715 abgeschlossen, als Spinalonga im Nordosten und Souda im Westen eingenommen wurden.
Die osmanischen Statthalter in den sechs neu geschaffenen Provinzen enteigneten zunächst die Besitztümer der Venezianer, dann die ihrer kretischen Parteigänger, dann die des Militärs usw. und übertrugen sie ihren türkischen Landsleuten. Damit war die Axt an die Wurzel eines möglichen Friedens oder einer Koexistenz gelegt: „Es ist offenkundig, daß…die Bewirtschaftung der Ländereien von christlichen Leibeigenen ausgeführt wurde, den ehemaligen Besitzern, die auf diese Weise ihren Tribut bezahlten.“
Alle Christen, die … noch Grundbesitz hatten, konnten diesen behalten und mussten Grundsteuer abführen (Toprak vergisi). Diese Grundsteuer wurde einmal jährlich erhoben und betraf alle Produktionsgüter und Erzeugnisse jeglicher Art…Die Grundsteuer wurde auf 20% festgesetzt, d. h. 1/5 der Einkünfte, das Doppelte als die Zehentsteuer, die im übrigen Griechenland erhoben wurde.“ (ebd., S. 268f) Weitere willkürliche Abgaben, die wohl jedweder rechtlichen Grundlage entbehrten, trieben die Lasten der Bauern Kretas weiter in die Höhe: „Sie unterdrückten die unglücklichen Landwirte, indem sie sie zwangen, an die türkischen Amtspersonen diverse Produkte wie Öl, Honig, Käse, Rosinen, Trauben, Schafe, Lämmer, Wolle, Stroh, Brennholz, Hühner, Tauben usw. abzugeben.
In den Sommermonaten wurden sie dazu gezwungen, vom Psiloritis und den Madaren 6300 Ladungen mit Schnee, der zur Herstellung erfrischender Getränke für die Paschas und Agas bestimmt war, herbeizuschaffen“: (ebd., S. 269) Aller Protest, jede Verweigerung, verpuffte an der Rigorosität der Besatzungsmacht: „Die verzweifelten Landwirte unterließen es oftmals, ihre Äcker anzubauen, aber dieser Widerstand hatte die entgegengesetzten Auswirkungen zur Folge. Mit der Verordnung vom 19. März 1685 wurden selbst brachliegende Äcker mit einer Steuer versehen, die man aus der Produktion der vergangenen Jahre errechnete“, wie Detorakis (S. 269) darlegt.
All dies führte in einer Zeit, in der in Frankreich der Merkantilismus entstand in Preußen die religiöse Toleranz dokumentiert wurde, selbst Russland sich mit Peter I. anschickte, den Weg der Moderne zu beschreiten, auf Kreta ins Elend. Der in Gang kommende Handel mit den Staaten Europas bevorzugte vorwiegend die türkischen Kaufleute. Die christlichen Unternehmer spielten eine weniger bedeutende Rolle, die Masse des Volkes darbte von den Früchten, die die Landwirtschaft ihnen noch ließ.
Der traditionelle Seehandel Kretas kam zum Erliegen. Neben den wirtschaftlichen Bedrückungen waren es vor allem die willkürlichen Gewalttaten der „Yenitsari“, der Janitscharen, auf Kreta, die den Hass auf die Fremdherrschaft schürten. Sie als Besatzungstruppen führten sich auf wie ein „Staat im Staate“, 1690 zögerten sie nicht, den Pascha von Chania, Soulfikar, der ihre Gesetzlosigkeit unterbinden wollte, den Hunden zum Fraß vorzuwerfen.
Jeder Widerstand kretischer Saboteure, die oft aus dem Hinterhalt der Berge agierten und von den Türken „Hainides“ (Verräter) genannt wurden, wurde im Blut erstickt. So pflegte man die Hainides auf dem „Tsengeli“, einem Galgengebilde, zu richten. Entweder spießte man Köpfe der Enthaupteten auf eiserne Nägel, oder man zog die Todgeweihten an einem Seil in die Höhe und ließ sie dann jäh von oben auf ein gebogenes Eisen herabfallen, von dem sie aufgespießt wurden.
Nach einer Phase der Friedhofsruhe nach 1715, als die kretischen Kämpfer wegen der vollständigen Eroberung der Insel keinen Unterschlupf mehr finden konnten, brach unvermittelt im Frühjahr 1770 ein Aufstand in der Sfakia aus, der in der kretischen Geschichte mit dem Namen des Daskalojiannis verbunden ist.
Daskalojiannis hieß eigentlich Ioannis Vlachos und war ein reicher und gebildeter Schiffsbesitzer, der über gute Kontakte zu Festlandsgriechen verfügte. Da er mehrere Sprachen beherrschte, nannte man ihn einen „Daskalos“, Lehrer, und so wurde daraus der Name Daskalojiannis. Ihm kamen die seit dem Fall Konstantinopels 1453 Moskau zugefallene Rolle eines „dritten Roms“ als Zentrum der Orthodoxie und die strategischen Ambitionen der russischen Zarin Katharina der Großen entgegen.
Russland strebte nach einem günstigen Zugang zum Mittelmeer, da der Bosporus durch das Osmanische Reich kontrolliert wurde und so das Schwarze Meer für russischen Handel etc. von der Außenwelt abgeriegelt war, So blieb Katharina die Option des Balkan, dessen Völker als Slawen quasi-natürliche Verbündete Russland sein konnten. Dieser Balkan aber befand sich teilweise in osmanischer Hand, so dass Moskau stets versuchte, Unruhen gegen die Ottomanen zu schüren oder zu unterstützen.
Über seine Gewährsleute, Detorakis nennt den Südpeloponnesier Emmanouil Benakis aus der Mani, könnte Daskalojiannis 1769/70 in Kontakt zum russischen Politiker und Diplomaten Grigori Orloff gekommen sein, der im Auftrag Katharinas Aufstandsbewegungen der Griechen instruieren sollte. In der Mani jedenfalls brach die Revolte 1769 los, unterstützt von zahlreichen Sfakioten. Während dieser Aufstandsphase bereitete Daskalojiannis das Losschlagen auf Kreta vor und sammelte eifrig Waffen, Verbündete und kriegswichtiges Gerät. Sein Vertrauen in die Hilfe Russlands schien sehr groß gewesen zu sein, zitiert doch das bekannte, ihm gewidmete Heldenlied die Worte „Ja, den Moskauer werde ich holen!“ (Detorakis, S. 295)
Vlachos alias Daskalojiannis plante einen lokalen Aufstand in der Sfakia. Den sollten Truppen unter russischer Führung unterstützen und zum Sieg führen. Zu diesem Zwecke sammelten sich in Gibraltar 28 Schiffe, 22 Fregatten und vier weitere Schiffe, die gen Chania auslaufen sollten. Dieses Manöver bekamen die Türken mit und die geplante Unterstützung von der See her musste entfallen, wollte man einen internationalen Krieg vermeiden. Die Kreter waren nun, wie so oft, auf sich allein gestellt.
Kurz vor dem Osterfest am 4. April 1770 schlug Daskalojiannis mit 2000 Kämpfern los. Die Sfakioten hatten vorher sehr einmütig die Zahlung der Kopfsteuer verweigert und die Steuereintreiber verjagt. Zunächst trieben die Palikaren die türkischen Truppen bis fast nach Chania zurück. Jedoch schon im Mai 1770 griffen 15000 Mann die Sfakia an. Die Kreter konnten ihre Stellungen nicht behaupten und zogen sich in die Lefka Ori zurück, wohin ihnen die türkischen Truppen folgten und auf dem Weg viele Dörfer nieder brannten und die Bewohner zum Teil als Sklaven nach Chandax(Heraklion) verschleppten. Vielen Sfakioten gelang die Flucht nach Kythira oder auf die Mani. Die Palikaren konnten sich in den Bergen mehrere Monate lang verteidigen.
Nachdem offenkundig die russische Hilfe nicht mehr kommen würde, entschlossen sich die Aufständischen am 18. März 1771 zur Kapitulation. Die ihnen auferlegten Bedingungen waren überhart, neben der Entwaffnung und der Nachzahlung der Kopfsteuer wurde ihnen der Bau neuer Kirchen verboten, die Seefahrt, von der viele lebten, untersagt, das zeigen christlicher Symbole, das Läuten von Glocken usw. unter Strafe gestellt, jede Form der Selbstverwaltung wurde abgeschafft. Jedoch die Aussichtslosigkeit ihrer Lage ließ die Palikaren einwilligen.
Daskalojiannis entschloss sich dazu, sich in Frangokastello zu ergeben. Sein Schicksal ist typisch für die Brutalität, mit der gerade die Osmanen gegen Unruhestifter vorgingen. Am 17. Juni 1771 wurde Daskalojiannis in Chandax bei lebendigem Leibe vor einem Spiegel die Haut abgezogen. Sein Bruder Nikolo Skouromalis, ebenfalls Palikare, wurde zum Zusehen gezwungen und verfiel dem Wahn. Die Haut des Daskalojiannis, so sagt es die Überlieferung, wurde zu einem Tabaksbeutel für den Pascha in Chandax gegerbt.
Nach diesem schrecklichen Ende des Aufstands verfiel Kreta ein letztes Mal für 50 Jahre in Agonie, bis die griechische Revolution von 1821 auch hier erneut eine revolutionäre Bewegung entfachte. 1898 schließlich mussten die Osmanen Kreta endlich freigeben.
Der Daskalojiannis gilt heute noch auf Kreta als Volksheld. Schon bald widmete man ihm ein Heldenlied, das als Rizitiko noch heute gesungen wird. Der 17 trägt seinen Namen, in seinem Geburtsort Anopolis steht ein Denkmal zu seinen Ehren.
Wenn ich heute an diese Heldentat denke, fällt mir als Parallele der Gegenwart der Aufstand im Iran ein, bei dem die Herrschenden mit einer für die heutige Zeit unglaublichen Brutalität gegen die Demonstranten vorgehen. Mögen ihnen die Racheakte der Mächtigen erspart bleiben, indem die Aufständischen siegen!
Anmerkungen
1) Theocharis Detorakis, Geschichte von Kreta, Heraklion 1997, S. 188