Thorsten Jungholt aus Athen
Der FDP-Politiker Jorgo Chatzimarkakis gründet eine neue Partei – in Athen. Mithilfe der alten Philosophen will er nun Griechenland retten
Auf der Fahrt vom Flughafen zum Obersten Gerichtshof in Athen hat Jorgo Chatzimarkakis wieder so einen deutsch-griechischen Moment. Das Mobiltelefon auf dem Schoß, in der einen Hand einen Stapel Papiere, in der anderen einen Becher Frappé, hält er einen Vortrag über den eiskalt aufgeschäumten Kaffee: „Typisch griechisch, 1957 in Thessaloniki erfunden“. Dann will er seine Frau anrufen, dabei hilft deutsche Ingenieurskunst: „Schon nicht schlecht, diese Volkswagen. Gibt sogar auf den Rücksitzen einen Becherhalter.“
Griechisch, deutsch, das geht bei Chatzimarkakis seit 47 Jahren munter durcheinander; 1966 wurde er als Sohn eines Kreters und einer Deutschen in Duisburg geboren. Nach der Scheidung der Eltern zog Vater Nikolaos zurück in die Heimat; der Sohn musste sich mit 14 zum ersten Mal entscheiden: mitgehen oder bleiben? „Mein Herz“, sagt er, „war schon damals für Griechenland. Aber mein Verstand hat mir gesagt: Bleib in Deutschland.“ Chatzimarkakis studierte und machte Karriere als Politiker. Er hat für den Außenminister Klaus Kinkel gearbeitet, war FDP-Generalsekretär im Saarland, seit 2004 sitzt er für die Liberalen im Europaparlament.
Heute aber ist der Tag, an dem aus dem deutschen ein griechischer Politiker werden soll. Und zwar nicht irgendeiner. Sondern, wie es sich für einen Liberalen gehört, ein Gründer. Der Chef einer neuen Partei, der das moderne Griechenland mit den Ideen der alten Philosophen retten will. Der mit Sokrates glaubt, dass politische Dynastien der Demokratie schaden. Der den politischen Ideologien Platons eine „Herrschaft der Sachverständigen“ entgegensetzen will. Und der im Ruhrgebiet gelernt hat, das volkstümlich zu übersetzen: „Die Griechen haben keinen Respekt vor ihrem Staat. Sie sind sogar stolz darauf, wenn sie ihn bescheißen können.“
Chatzimarkakis hat die Vision, aus einem durch Klientelismus und Korruption heruntergewirtschafteten Pleitestaat ein europäisches Musterland zu formen. Doch ganz so weit ist es noch nicht. Auf der Fahrt zum Geburtsakt der „Hellenischen Europabürger“, so soll die neue Partei heißen, gibt es Probleme. Ein Vorstandsmitglied hat abgesagt, der Generalsekretär wurde von Chatzimarkakis kurzfristig noch ausgetauscht. Befreit vom Kaffeebecher, beruhigt er die besorgte Ehefrau in Brüssel: „Hallo, Schatz, alles in Ordnung.“ Er erzählt von seinem Besuch auf Zypern, wo er tags zuvor sein Buch vorgestellt hat, „Der Hellas-Faktor“, eine Art Grundsatzprogramm der neuen Partei. Sein Fazit für die Gattin: „Die Frisur saß schlecht, aber die Botschaften haben gerockt. Die haben mich aufgepumpt, die Zyprer.“
Am Obersten Gerichtshof muss er wieder Luft ablassen. Oben im vierten Stock, vor Zimmer 414, heißt es warten. Chatzimarkakis hat alles dabei, was man für eine Parteigründung braucht: 206 Unterschriften von Unterstützern, sechs mehr als nötig. Drei Seiten politisches Manifest, eine Essenz seines Buches. Eine Satzung, die demokratischen Grundwerten entspricht. Und das Parteilogo, ein in Violett und Orange gehaltenes Epsilon.
Nach zehn Minuten wird der Parteigründer vorgelassen, allerdings nicht wie gedacht zum Generalstaatsanwalt, sondern in ein Nebenzimmer. Dort wartet ein Sachbearbeiter in Kapuzenpulli und Turnschuhen. Pass vorlegen, den griechischen natürlich, ein paar Unterschriften, dann gibt es eine Protokollnummer – von Pathos keine Spur beim Auftakt der Rettung Griechenlands.
Das liefert Chatzimarkakis bei der Pressekonferenz in der Repräsentanz des Europäischen Parlaments. „Odysseus ist zurück in Ithaka“, eröffnet er seine erste Rede als Parteichef. Das war es dann allerdings mit der Antike, er legt jetzt los. Durch das Spardiktat aus Brüssel sei das griechische Volk „demoliert“ worden, der einzige Ausweg aus der Finanzkrise sei mehr Europa. Allerdings, sagt Chatzimarkakis: „Wir wollen nicht das Europa von Barroso und Merkel.“ Immer feste drauf auf die Kanzlerin – das ist der übliche Wahlkampfsound in Griechenland.
Eine Frage bleibt offen: Warten die Hellenen wirklich auf einen deutschen Griechen, der sie rettet? Der noch immer für die FDP in Brüssel sitzt, also jene Partei, die an Merkels Seite das strikte Sparprogramm für Athen durchgefochten hat? Chatzimarkakis kann darauf verweisen, dass er seit Ausbruch der Finanzkrise gegen die strengen Auflagen gekämpft hat. Dass er einen „Herkules-Plan“ zur Wiederbelebung der rezessionsgeplagten Wirtschaft gefordert hat. Und dass er dafür sogar mit seiner FDP gebrochen hat.
Als EU-Abgeordneter hatte er 2010 eine Euro-Strategie für die Partei geschrieben. Sie war von Nachsicht gegenüber Athen geprägt. Dann sei ihm aus dem Kabinett zugetragen worden, wie der liberale Wirtschaftsminister das Papier kommentiert hatte: „Wir müssen uns doch nicht von jedem kretischen Schafshirten vorschreiben lassen, was wir zu tun haben.“ Er sei erschüttert gewesen, sagt Chatzimarkakis, „damit hatte mein innerer Abschied aus dieser Partei begonnen“.
Am 18. April wird er vollzogen sein. Dann endet sein Mandat im EU-Parlament, „und ich werde in der FDP nur noch Fördermitglied sein“. Am 25. Mai will er als Vorsitzender der Hellenischen Bürger ins Straßburger Europaparlament einziehen. Im Moment freilich hat Jorgo Chatzimarkakis nur dieses Amt, 206 Mitglieder, keine Spenden und ein halb fertig gestrichenes Büro in Athen. In vier Monaten muss er mindestens 170.000 Wähler für seine Bewegung gewinnen. Das ist die Anzahl der Stimmen, die beim letzten Mal für einen der 22 griechischen Sitze im EU-Parlament reichten.
Dafür muss er bekannter werden. Auf dem Höhepunkt der Euro-Krise 2011 gab er an einem Tag 23 Interviews. Doch damals war er ein Exot, ein Deutscher, der die Deutschen kritisierte. Jetzt ist er ein griechischer Vorsitzender unter anderen. Es gründen sich in diesen Tagen viele neue Parteien. Die Wirtschaftslage bleibt verheerend, der Unmut über die etablierten Kräfte groß.
Anders als die euroskeptischen Populisten hat Chatzimarkakis keine radikale Botschaft. Er hat nur seine Philosophen. Direkt im Anschluss an die Parteigründung stürzt er sich in den Wahlkampf: Am Donnerstag schafft er es in die Abendnachrichten, er besucht ein studentisches Internetradio, dann die Vereinigung der Chefköche, eine Nachbarschaftsparty. Am Freitag geht es nach Lamia und Larissa, Samstag nach Thessaloniki.
Chatzimarkakis will jetzt ein „ganz normaler Bürger Griechenlands“ sein. Aber die Leute erwarten anderes von ihm, nämlich deutsche Solidität. Tassos Zissopoulos, einer von den Chefköchen, sagt: „Wir haben die Schnauze voll von der alten Politikerkaste. Keiner sagt die Wahrheit. Wir wollen saubere Politiker, keine Blender. Wir wollen so einen wie Jorgo.“
Für seine Arbeit in Griechenland mag das stimmen. In der deutschen Politik aber hat Jorgo Chatzimakarkis den hehren Werten seiner Philosophen nicht immer genügt. Für ein bisschen Publicity hat er schon mal die Fusion von FDP und Grünen vorgeschlagen. Oder seine Homepage „chatzi.de“ getauft. Und er hat bei seiner Doktorarbeit „gehudelt“, wie er sagt. Man könnte auch sagen: plagiiert. Jedenfalls hat er so unsauber zitiert, dass die Universität Bonn ihm 2011 den Doktortitel aberkannt hat.
Per Kurznachrichtendienst Twitter hat das Thema auch Griechenland erreicht. Der politische Gegner könnte schnell die Frage aufwerfen: Will Chatzimarkakis nicht nur Hellas retten, sondern auch eine Karriere, die in Deutschland vor dem Aus stand? „Ha“, sagt Chatzimarkakis, „das können die gern versuchen. Dann halte ich meinen Ausweis in die Kamera.“ Da steht das „Dr.“ noch drauf.
Er führt den Titel nicht mehr, aber aus dem Dokument soll er nur getilgt werden, wenn die Sache auch juristisch verloren ist. Seine Klage vor dem Verwaltungsgericht wurde abgewiesen, er ist in die nächste Instanz gezogen. Wenn er dort verliert, will er vor das Landesverfassungsgericht.
Unwägbarkeiten also, ob vor den deutschen Richtern oder vor den griechischen Wählern. Und wenn es nichts wird mit dem Sitz für die Hellenischen Bürger in Brüssel? „Dann mach ich das, was ich mit 14 schon wollte, nämlich Landwirtschaft wie mein Opa.“ Die Pläne für eine Sektkellerei sind längst fertig. Gehen oder bleiben? Diese Frage hat Jorge Chatzimarkakis mit 47 Jahren entschieden. Im April wird er nach Kreta ziehen.
Quelle: Welt.de