„Ouzo Extrem“, von Paul Gourgai.

 OUZO EXTREM

Es war eine bemerkenswerte Runde von Leuten, die da im Extrazimmer der Taverne „Zum krummen Hündlein“ („το παγαποντικό σκυλάκι“) in Ch….. zusammensaßen. Auf der einen Seite die „Bösen“: die Leiterin der örtlichen Bankzweigstelle Maria Tsiaka, der Chef der Polizeidienststelle Oberst Kostas Koutras, und der Winkeladvokat Rechtsanwalt Philidoros Voudaris. Auf der anderen Seite die „Guten“: der pensionierte Kapitän der Handelsmarine Giorgos Nikolakopoulos, der Vorsitzende der örtlichen Hoteliervereinigung Panagiotis Orfanidis und der ebenfalls schon pensionierte Versicherungsagent Kleanthis Triposkiadis. 

Nachdem das Trio der Hinterhältigen die anderen drei harmlos Naiven bei einem überaus dubiosen Grundstücksdeal gehörig über den Tisch gezogen hatte und nachdem alle dazugehörigen Formalitäten erledigt waren, bestellte die Bankdirektorin eine Runde Ouzo, um den Abschluss gebührend zu feiern. 

Dieser eine Ouzo sollte bei Weitem nicht der einzige bleiben, der in der Folge von den Anwesenden eingenommen wurde.

Aus einem Frau Tsiaka selbst absolut unerklärlichen Grund, aber von einem Zwang so beherrscht, als ob ein Schalter umgelegt worden wäre und ein Strom von Energie sie dazu gnadenlos vorwärts drängte, befand sie, dass, kaum dass das erste Glas geleert worden war, bereits ein zweites, hernach ein drittes und dann gar noch ein viertes eingeschenkt werden musste, um mehr oder weniger in einem Zug hinuntergekippt zu werden.

Nun war allerdings zu beachten, dass Frau Tsiaka selbst so gut wie nie Ouzo trank, eigentlich auch sonst kein alkoholisches Getränk, außer allenfalls ein Gläschen des superben Roten, den ihre Familie in Zypern herstellte. Man kann sich vorstellen, dass dies nicht ohne Wirkung auf die Dame blieb.

Durchaus ähnlich – um nicht zu sagen, um noch einiges schlimmer – erging es dem schon etwas devirilisiert anmutenden Polizeichef Koutras, der zwar des Öfteren mal einen Ouzo runtergluckerte, heute aber einen geradezu unbändigen Durst danach verspürte, deshalb auch als Erster mit seinem vierten Glas fertig war, und ohne lange zu fragen, sich selbst gleich ein weiteres einschenkte.

Voudaris, der Rechtsverdreher, war mittlerweile sichtlich groggy. Er war zwar ein passionierter Weintrinker, der auf sein tägliches Glas bei Rigoutsos in dessen Weinstube großen Wert legte, wobei es fallweise auch zwei oder drei werden konnten, der sich aber strikt daran hielt, keinen Ouzo zu sich zu nehmen, da ihn dieser innerhalb kürzester Zeit außer Gefecht setzte. Aber auch er konnte sich gegen das geradezu gierige Begehren nach einem weiteren Glas nicht wehren.

Hingegen war in Orfanidis, dem Hotelchef,  in den letzten Wochen ein ganz enormer Trinker herangereift. Die vielen Sorgen und die ständige Angst, die ihn jäh heimsuchten, hatten ihn mehr und mehr zur Flasche greifen lassen. Er war mittlerweile einer jener Ouzotrinker, die sich gar nicht erst die Mühe gaben, wenigstens einen Anstandstropfen Wasser in das reichlich mit dem Anisschnaps gefüllte Glas zu gießen, sondern diesen am liebsten als Klaren hinunterschütteten. Es bedarf also keiner gesonderten Erwähnung, dass sich Orfanidis gleich an Koutras anhängte und sein mittlerweile ebenfalls fünftes Glas zu sich nahm.

Fraglos mehr gezeichnet, weil weder diese Mengen des Alkohols noch jene der Aufregungen gewohnt, war der gute Käpt`n Nikolakopoulos.

Er stierte immer lustloser ins Glas, ja er verspürte mehr und mehr das Verlangen, endlich an die frische Luft zu gelangen. Daran hatte freilich ganz erheblich Orfanidis Schuld, denn was dieser ob seiner Verdauungsprobleme aus seinen Gedärmen herausblies, war selbst einem durch Trunkenheit in der Sensibilität der Wahrnehmung schwer beeinträchtigten Menschen eigentlich nicht zuzumuten, insbesondere wenn er noch dazu auf Tuchfühlung direkt neben den Stinker zu sitzen gekommen war. Nikolakopoulos, der vergeblich versucht hatte, dies Unvermeidliche mit Würde zu tragen, hatte nicht zuletzt aus diesem Grund mehrmals versucht, sich aus dem tiefen Fauteuil, in den er sich hineingepresst fühlte, zu erheben, allein die Trunkenheit ließ seine Knie schon nach wenigen Zentimetern einknicken. Die Gelenke gehorchten den Befehlen, den irgendeine noch halbwegs bei Sinnen befindliche Instanz in ihm zu geben versuchte, schlicht und einfach nicht mehr.

Etwas besser war da Kleanthis, der leichtgewichtige Versicherungsagent dran, der sich rechtzeitig in einen anderen Fauteuil geflüchtet hatte, sodass ausreichend Luftraum zwischen ihm und dem Stinker Orfanidis zur Verfügung stand. Ab einer gewissen Abnahme der Konzentration von Schadstoffen lässt sich ja, noch dazu, wenn der Ouzo die Empfindlichkeit der Wahrnehmungen deutlich herabsetzt, manches und vor allem solches leichter ertragen. Dazu kam, dass Kleanthis selbst ein geeichter Konsument von Ouzo in allen Variationen der Verdünnung bis hin zur garantierten Purität war, dem auch jenes sechste Glas nicht sonderlich viel auszumachen schien, das er mit dem nun schon völlig verblödet wirkenden Koutras teilte, wobei jener Geisteszustand des Polizeichefs sich doch deutlich noch von der ihm an sich schon anhaftenden Stupidität unterschied, wenngleich man nicht vergessen sollte, dass er immerhin über ein gerüttelt Maß an Bauernschläue verfügte, denn in entscheidenden Punkten seines materiellen und sonstwie derb physischen Vorteils war er gewiss nicht von der Einfalt eines Waisenknaben.

Mit einem Wort, es wurde schlicht und einfach maßlos gesoffen. Während Nikolakopoulos, Kleanthis und Orfanidis sich sozusagen auf normale und geradezu natürliche Weise betranken, nahmen Voudaris, die Tsiaka und Koutras den Stoff mit immer größer werdender Gier in sich auf. Man konnte ohne weiteres behaupten, dass sie dem Ouzo ganz und gar verfallen und ihm wehrlos ausgeliefert waren. Es galt für sie ganz eindeutig, dass man wohl zuviel, doch nie genug trinken kann.

Seltsamerweise wurden die drei aber von einer ihnen nicht erklärlichen Macht gleichzeitig daran gehindert, sich einfach volltrunken in ein Eck zu werfen, um dort zwei Tage lang den Rausch auszuröcheln, vielmehr versicherten sie sich mit bleischweren Zungen, dass man stets vom vielen Trinken rede, nie aber vom vielen Durste.

Erstaunlicherweise wurden sie, je mehr sie in sich hineinschütteten, von einer nervösen Umtriebigkeit gepackt, die sie dazu anstachelte, alle Papiere und Fotos, die auf dem großen Tisch ausgebreitet waren, einzusammeln und in Taschen zu verstauen, alle Ton- und sonstigen Bänder in Kisten zu stopfen, die verschiedenen Waffen, die nicht nur die Bösen mit sich geführt hatten, in einem Sack zu verschnüren und noch einiges mehr an Aufräumarbeiten zu erledigen.

Während Orfanidis, Nikolakopoulos und Kleanthis staunend da saßen und den drei anderen mit ungläubiger Miene zuguckten, aus reichlich verknopften Äuglein, wie sich versteht, entblödeten sich jene nicht, auch noch die Reste von verschüttetem Ouzo und Wasser aufzuwischen.

Derartiges hätte man von einem Polizeichef, einer Bankdirektorin und einem Rechtsanwalt im Normalfall keineswegs erwarten können, jetzt aber schien es allen Anwesenden seltsamerweise das Natürlichste von der Welt.

»Nun, meine Herren«, ergriff endlich Tsiaka wieder das Wort, »wir werden uns jetzt zu unseren Fahrzeugen begeben und losfahren!«

„Glücklich sind die Zikaden, denn sie haben stumme Weiber.“

Dieser Vorschlag fand sofort die allgemeine Zustimmung und unter Beteuerungen, dass dies doch eine wahrhaft exzellente Idee sei, wie sie eben nur Frau Tsiaka haben könne, brach man auf, wobei die noch standfesteren Figuren den letztlich von Erfolg gekrönten Versuch unternahmen – genau genommen, war es eine ganze Reihe von Versuchen -, dem Orfanidis und dem Nikolakopoulos mühsam aber doch auf die Beine zu helfen.

Voudaris bestand darauf, dass ihm Koutras seinen Velourslederhut von der Anrichte herunterreichte.

Es stellte sich eine allgemein geteilte, durchaus euphorische Stimmung ein.

Koutras sorgte dafür, dass die ganzen, sorgfältig verpackten Materialien aus dem Haus gebracht und in den Kofferraum des Wagens der Direktorin verfrachtet wurden.

Sodann hieß Frau Tsiaka, nachdem sie ein Bündel Geldscheine zur Begleichung der Zeche auf dem Tisch hinterlassen hatte,  die Anwesenden, das gastliche Haus zu verlassen und aufzubrechen.

Ungeordnet stolperte der Trupp aus der Taverne, die um diese spätnachmittägliche Stunde bis auf einen Gast, einen ortsbekannten Trunkenbold aus Newcastle, geleert war. Orfanidis musste von Kleanthis zweimal energisch abgestützt werden, um nicht der Länge oder auch Breite nach auf den Boden zu schlagen. Diese Anstrengung kostete den schmächtigen Versicherungsagenten gehörigen Kraftaufwand. Nikolakopoulos erfing sich in der frischen Luft wieder. Er blähte seine Lungenflügel auf, was den Alkohol zwar noch heftiger durch seine Blutbahnen zirkulieren ließ, ihm aber doch das lang ersehnte Gefühl des freien Atmens wieder schenkte. Von Orfanidis hielt er sich deutlich fern.

Voudaris war im Gegensatz dazu völlig verfallen. Er lallte sinnloses Zeug vor sich hin, strauchelte bei einer der zahlreichen Bodenunebenheiten, stürzte und zerriss sich das feine Tuch seines Anzugs im Bereich der Knie, deren knochige Scheiben unanständig weiß aus den eben entstandenen Löchern des Stoffs herauslugten. Auf dem linken Knie begann die blassrote Wunde einer stärkeren Aufschürfung sichtbar zu werden.

Koutras betrachtete den Rechtsanwalt mit einem breiten Grinsen und empfahl ihm, doch eine Schadenersatzklage gegen den Tavernenwirt wegen erwiesener Mängel in der Instandhaltung des Vorplatzes anzustrengen.

Frau Tsiaka hingegen war von derartigen Blödheiten überhaupt nicht angetan und herrschte Koutras an, dass er gefälligst das Chauffieren ihres Wagens zu übernehmen habe. Er möge umgehend Voudaris auf dem Beifahrersitz festzurren, während sie selbst im Fonds ihren Platz zu nehmen gedächte.

Koutras aber konnte es nicht lassen und versuchte sich an einer Persiflage obedienten Verhaltens, indem er übertrieben deutlich die Haken zusammenschlug. Dies hätte er besser unterlassen, denn seine schwere Alkoholisierung verwehrte es ihm, bei diesem Kunststück die Balance zu halten. Durch den übergroß angesetzten Schwung seiner Beine verlor er augenblicklich das Gleichgewicht, sodass er mit einem gewaltigen Sturz, als ob eine unsichtbare Riesenfaust auf ihn herabgehämmert hätte, auf den Beton krachte. Es war der klassische Beweis dafür, dass Kraft ohne Weisheit durch die eigene Wucht stürzt.

Schwer benommen blieb er eine Weile liegen, während derer Voudaris in ein unbändiges greisenhaftes Gelächter ausbrach, das sein Zwerchfell in immer schmerzhafter werdenden konvulsivischen Krämpfen wie in einem Schraubstock zusammenpresste.

Tsiaka wies mittlerweile Kleanthis an, den zweiten Wagen, das Auto von Orfanidis zu steuern, der auf die hintere Sitzbank verbannt wurde. Nikolakopoulos nahm seinen Platz vorne neben Kleanthis ein, um gleich als erstes das Seitenfenster mit dem elektrischen Fensterheber komplett herunterzulassen.

Während sich Koutras, immer noch schwer belämmert, damit abmühte, seine ihm zugewiesene Position hinter dem Lenkrad einzunehmen, trug Frau Tsiaka Kleanthis auf, sich zwanzig Meter hinter dem ersten Fahrzeug zu halten, in das sie sodann ihre eigene stämmige Figur fallen ließ.

Die Autos starteten. Vorne weg das Auto mit den „Bösen“, dahinter das der „Braven“. Belämmert waren sie allesamt. Der Regen des Vormittags hatte mittlerweile aufgehört, die Schlaglöcher der unbefestigten Straße waren dennoch mit Wasser gefüllt. Allem Anschein nach würden Sonnenstrahlen aber bald die dünner werdende Wolkendecke auflösen.

Koutras fuhr in gemächlichem Tempo auf die Kurve zu, hinter der die Klippen senkrecht zweihundert Meter zur Küste der Insel abbrachen. Kleanthis folgte im angegebenen Abstand. Niemand wusste zu sagen, was kommen sollte.

Als der Wagen mit Koutras, Tsiaka und Voudaris im Scheitelpunkt der Kurve angelangt war, wurde das Fahrzeug nicht nach rechts gelenkt, sondern fuhr kerzengerade weiter.

Kleanthis, Nikolakopoulos und Orfanidis verfielen in ungläubiges Staunen, als sie sahen, wie der Wagen vor ihnen von der Straße abhob und, nein, nicht stürzte, sondern auf einer imaginären Route einfach weiter fuhr; immer sehr gemächlich weiter fuhr.

Er musste auf eine von irgendwoher den irdischen Raum schneidende Ebene geraten sein. Aus der Sicht der Insassen des dahinter befindlichen Fahrzeugs stellte sich der Sachverhalt optisch zunächst so dar, als würde der Wagen mit Koutras, Tsiaka und Voudaris sich im gleichen Luftraum befinden, den das täglich hier verkehrende Kleinflugzeug der Küstenwache auf dem Weg von F… nach P… nahm. Dies aber war real gar nicht möglich, da ja das Automobil, hätte es sich denn in der Tat in einem Luftraum befunden, nicht fliegen hätte können, sondern wie ein Stein über die Klippen hinab ins Meer gestürzt wäre; denn die Bewegungsfähigkeit irdischer Lebewesen samt ihrer Fortbewegungsmittel harmoniert mit der auf der Erde gegebenen Schwerkraft, im Normalfall jedenfalls.

Es war also klar, dass hier ganz andere Kräfte und Dimensionen zur Wirkung gekommen waren, an denen die Erkenntnisfähigkeit irdischer Wissenschaft schlicht scheitert, die zwar manches Unsichtbare, wie Strahlungen, Viren, genetische Codierungen, riesige zeitliche und räumliche Dimensionen und ihre Relativitäten, als existentielle Unbestreitbarkeiten etabliert, aber anderen Unsichtbarkeiten, wie Engeln, Teufeln, geheimnisvollen Kräften und Intelligenzen diese Qualität entzieht.

Die Herren im zweiten Auto indes, deren Fahrzeug genau in jener ominösen Kurve zum Stillstand gekommen war, ohne dass Kleanthis sich entsinnen konnte – wie denn auch in seinem Zustand! -, je gebremst zu haben, verfolgten mit offenen Mündern und den faszinierten Augen von Kindern, die zum ersten Mal im Kino sitzen, wie der Wagen vor ihnen weiterfuhr und weiterfuhr, immer kleiner wurde und schließlich ihren Blicken entschwand. Koutras, Tsiaka und Voudaris waren in einen Raum geraten, aus dem sie nicht wieder auftauchten. Sie waren einen Weg gefahren, den man nicht wiederkommt. Von ihnen und ihrem Fahrzeug, von den darin verstauten Dokumenten, Filmen, Tonbändern und Waffen fand man nie wieder eine Spur. Selbst der Velourslederhut von Voudaris war endgültig verschwunden.

Paul Gourgai

Ein Kommentar

  1. Lieber Herr Gougai,
    ich habe mit großem Interesse und mit Tränen benetzten Augen, Ihren Artikel gelesen. Weiter so??.
    LG
    Frau Marina apo to Βερολινο.

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