Rauchverbot – Über die Auslöschung der bürgerlichen Welt

Ausgerechnet die von Helmut Schmidt geliebte Mentholzigarette soll verboten werden. Die EU-Kommission setzt ihren Feldzug gegen Raucher fort. Dahinter verbirgt sich ein epochaler kultureller Umsturz. Von Richard Herzinger

Wie es aussieht, wird Helmut Schmidt wohl bald den europäischen Kontinent verlassen und – eventuell irgendwo in Asien – um Exil bitten müssen. Denn auf seine geliebten Mentholzigaretten, die er Kette raucht, wird der 93-Jährige auf seine alten Tage wohl kaum verzichten wollen und können.

Ausgerechnet die Mentholzigarette will die EU-Kommission jetzt verbieten. Denn nach ihrem Willen soll die Beimengung von Aromastoffen in Zigaretten reduziert werden, die den Tabakgeschmack überdecken und – so die Logik der Brüsseler Bürokraten – die Illusion vermitteln könnten, man rauche gar keinen Tabak und man könne daher ungefährdet zum Glimmstängel greifen.

Außerdem sollen drei Viertel der Zigarettenschachteln in Zukunft Warnaufschriften und Schockbilder enthalten, um den Konsumenten drastischer vom Rauchen abzuschrecken.

Kreuzzug erreicht neue Eskalationsstufe
Der Kreuzzug gegen immer noch uneinsichtige Raucher erreicht damit eine neue Eskalationsstufe. Es ist allerdings ein Feldzug, der sich als Wohltat für diejenigen tarnt, die durch ihn vor sich selbst gerettet werden sollen. Raucher, die sich hartnäckig weigern einzusehen oder die schlicht ignorieren, dass Qualmen schädlich bis tödlich ist, sollen durch immer weiter verschärften staatlichen und sozialen Druck zum Aufgeben und damit zu ihrem Glück gezwungen werden.

Immer energischer, und dabei mit immer hochtrabenderer moralischer Drapierung, mischt sich der Staat in die Konsumgewohnheiten seiner Bürger ein. Die selbstverantwortliche Entscheidung darüber, welche Lebensmittel sie mit welchem Risiko zu sich nehmen wollen, trauen ihnen die staatlichen und gesellschaftlichen Oberaufseher schon längst nicht mehr zu.

Als Teufelszeug Nummer eins haben diese fürsorglichen Belagerer und Observierer der Bürgergewohnheiten dabei den Tabak ausgemacht. Es lässt sich absehen, dass der Tabakgenuss über kurz oder lang zumindest in der westlichen Welt gänzlich und überall verboten werden wird. Denn in der Abschaffung des Rauchens kulminiert einer gewaltige gesellschaftliche und kulturelle Umcodierung, die in der westlichen (und perspektivisch der gesamten modernen, globalisierten) Welt in vollem Gange ist.

Auslöschung der bürgerlichen Welt
Die Ausrottung des Rauchens und die Ausgrenzung der Raucher aus der Gemeinschaft der Kultivierten ist die Manifestation einer epochalen soziologischen Umwälzung, die seit Jahrzehnten im Gange ist und die nun in wachsender Beschleunigung ihrer Vollendung zustrebt: die Auslöschung der bürgerlichen Welt, ihrer Wertmaßstäbe und ihres sozialen Habitus.

In der Epoche des aufstrebenden Bürgertums gehörte das Tabakqualmen zu den vornehmsten Insignien bürgerlichen Emanzipationsstrebens. Ursprünglich nur der Aristokratie vorbehalten, griff das Rauchen von Zigarren Anfang des 19. Jahrhunderts auf das Bürgertum über, welches dieses – zum Schrecken der reaktionären Verteidiger der alten Ordnung – sogar öffentlich betrieb.

Das öffentliche Rauchen galt den Hütern des Ancien Régime als gleichbedeutend mit einer politischen Demonstration bürgerlichen Selbstbewusstseins und der Forderung nach gesellschaftlicher Gleichheit.

Mit Erschrecken notierte ein Zeitgenosse im Berlin des frühen 19. Jahrhunderts, dass das Rauchen in der Öffentlichkeit zur Bildung von spontanen Debattiergruppen führt. Wobei die öffentlichen Raucher so weit gingen, sich ungeachtet ihrer jeweiligen Standeszugehörigkeit gegenseitig Feuer zu geben – womit sie die hierarchischen Strukturen der Ständegesellschaft untergruben.

Kernelement des bürgerlichen Selbstverständnisses
In Preußen galt deshalb bis zur Revolution von 1848 ein strenges öffentliches Rauchverbot. Weil dieses Verbot fortgesetzte feudale Willkür repräsentierte, war seine Aufhebung eine der zentralen Forderungen der bürgerlichen Revolutionäre, denen der preußische König angesichts der Unruhen in Berlin im März 1848 nachgeben musste.

Es ist eine Episode überliefert, nach der die rebellierenden Bürger, als ihnen die Nachricht überbracht wurde, der König habe allen ihren Anliegen stattgegeben, nachgefragt hätten, ob denn tatsächlich alles bewilligt worden sei. „Ja, alles meine Herren.“ – „Ooch det roochen?“ – „Ja, auch das Rauchen.“ – „Ooch im Tiergarten?“ – „Ja, auch im Tiergarten darf geraucht werden, meine Herren.“

Das Bild vom – erst Zigarre, später Zigarette – rauchenden Bürger wurde im Laufe des 19. Jahrhundert zur ikonischen Illustration bürgerlicher Souveränität und zum symbolischen Ausdruck der ausgeprägten bürgerlichen Mußekultur. (In der Verzerrung durch die antibürgerliche Agitation wurde der Zigarre rauchende Fettwanst in Frack und Zylinder zur karikaturhaften Inkarnation ausbeuterischer Bourgeoisherrschaft.)

Zeit zu nicht unmittelbar zweckgebundener Bildung und zur zivilisatorischen Selbsterziehung im entspannten Salongespräch mit seinesgleichen zu haben war ein Kernelement des bürgerlichen Selbstverständnisses in der Hochzeit des Bürgertums.

Die neue herrschende „Managerklasse“
Inzwischen aber ist die bürgerliche Herrschaft längst durch eine neue Ordnung abgelöst worden. Im Jahre 1941 veröffentlichte der amerikanische politische Philosoph (und vormalige Trotzkist) James Burnham ein Buch mit dem Titel: „Die Revolution der Manager“ (The Managerial Revolution).

Darin prophezeite er die Ablösung der bürgerlichen Demokratie durch die totalitäre Herrschaft einer Managerkaste, die alle Bereiche von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft erobert habe und nur noch nach den Kriterien von Zweckrationalität und maximaler produktiver Effektivierung denke und handele. Wenn auch nicht unter den von Burnham prognostizierten autokratischen Vorzeichen, so scheint sich seine Vision heute zu bewahrheiten.

Die neue herrschende „Managerklasse“, eigentlich ein Heer von „kreativen“ Verwaltern privater und staatlicher Macht, kennt keine Muße als das andere einer unablässigen Geschäftigkeit mehr.

Heute nur noch ein Schwerverbrechen
Im Zeichen der „Flexibilität“ als dem neuem gesellschaftlichen Ideal befindet sie sich grundsätzlich rund um die Uhr im Dienst, zu welchem auch der an der eigenen Gesundheit gehört. Diese muss ständig optimiert werden, um einer möglichen Einschränkung eigenen physischen und psychischen Leistungskraft rechtzeitig vorzubeugen.

Die Freizeit, die dieser neuen Klasse (durch die Omnipräsenz neuer digitaler Medien noch verstärkte) bei jederzeitiger Einsatzbereitschaft noch übrig bleibt, wird von ihr mit Sport oder anderen Arten der Steigerung ihrer physischen Lebenskräfte genutzt.

Tabakrauchen passt in dieses Konzept nicht mehr hinein, konterkariert es sogar in doppelter Hinsicht: Es schadet der Gesundheit und setzt den Willen zur Muße voraus. War Rauchen einst Zeichen für Weltläufigkeit, Selbstbewusstsein und Lebensart, gilt es heute nur noch als Schwerverbrechen gegen die eigene und die körperliche Konstitution anderer.

Rauchen als Akt der Individualisation
Doch gibt es Weltregionen, in denen das Rauchen seine einstige emanzipatorische Symbolfunktion auch heute noch besitzt. Wie im Jahrhundert zuvor das männliche Bürgertum, griffen im 20. Jahrhundert die Frauen zum Glimmstängel, um ihren Anspruch auf Gleichberechtigung kulturell zu untermauern und zu codieren. Heute ist ebendies in der muslimischen Welt der Fall.

Wenn Frauen etwa in arabischen Ländern in der Öffentlichkeit rauchen, drücken sie damit ihren Willen aus, sich patriarchalischer Bevormundung zu widersetzen. Das Rauchen kommt dort einem Akt der Individuation gleich. Es ist von paradoxer Verrücktheit, dass in der westlichen Welt, nach deren Freiheiten sich diese rauchenden arabischen Frauen sehnen, eben dieses Rauchen derzeit gerade aus dem Kodex erlaubten sozialen Verhaltens getilgt wird.

Soziologisch gesehen handelt es sich bei der Durchsetzung des Rauchverbots aber nicht nur um einen Feldzug gegen den Fortbestand produktivitätshemmender bürgerlicher Konventionen, sondern auch um einem Kampf der neuen Managerklasse gegen die Unterschichten. Ist doch das Rauchen längst zu einem Erkennungszeichen der tatsächlich oder potenziell sozial Schwachen geworden – derer, die in dieser Gesellschaft nichts mehr werden wollen oder können und daher den Kult der leistungssteigernden Gesundheitsoptimierung nicht mitmachen.

Wer am Qualmen festhält, wer sich nicht zumindest bemüht, es aufzugeben oder es wenigstens nur schamhaft und mit schlechtem Gewissen betreibt, gilt als charakterschwach und potenziell untauglich, einen konstruktiven Beitrag zur menschlichen Gemeinschaft zu leisten.

Alltagsfluchten aus der Diktatur des Unmittelbarkeit
Angehörige der „prekären“ Schichten sind es demzufolge, die am wenigsten bereit sind, auf das Qualmen zu verzichten. Denn es ist eines der kleinen Fluchten aus einer absoluten Gegenwart, die keinen Zweifel mehr daran aufkommen lassen will, dass sie die beste und einzig denkbare aller Gegenwarten ist.

Rauchen, fettes Essen und übermäßiges Trinken aber sind solche kleine Alltagsfluchten aus der Diktatur des Unmittelbarkeit, aus dem Kuratel der jederzeit Fitten und Verwendbaren. Deshalb wird das unerwünschte Laster des Rauchens von einer Allianz aus durchkommerzialisierten Aufstiegsmenschen und grünen Öko-Naturreinheitsaposteln unbarmherzig geächtet. Wobei beide Gruppen mittlerweile bereits weitgehend miteinander verschmolzen sind.

Dieser „fortschrittlichen“ Allianz der stets positiv gestimmten Gesundheitsmenschen kommt das gesundheitszerstörende Laster wie ein ultimativer Frevel vor – nicht so sehr der manifesten Schadstoffe wegen, die mit dem Rauch ausgestoßen werden, sondern weil damit ihre eigene, ganz auf die positive Einstellung zum real existierenden Dasein gerichtete, Wirklichkeit, wie sie nun einmal ist und nicht anders sein darf, in Frage gestellt wird.

Wer sich dieser Wirklichkeit per Raubbau an seiner Gesundheit verweigert, gilt als haltlos und somit als öffentliche Gefahr, könnte er andere doch mit sich in den Sumpf der Haltlosigkeit hinabziehen.

Keine Gettos, keine Schandflecke der Irrationalität
Die dergestalt stigmatisierten Unterklassen passen nicht mehr in die schöne neue Welt der stets Aufgeweckten, stets Einsatz- und Aufstiegsbereiten, und sollen daher aus der Öffentlichkeit verschwinden.

Man wird über kurz oder lang nicht einmal mehr dulden, dass sich die rauchende Unterklasse in eine Art Eckkneipen-Getto zurückzieht, wo niemand anders mehr als sie verkehrt. Denn in der schönen neuen Welt darf es auch keine Gettos, keine Schandflecke der Irrationalität und Versumpfung geben, die den Erfolgreichen in Erinnerung rufen, dass auch ihnen einmal der Absturz ins Haltlose drohen könnte.

So könnte es sein, dass selbst das lebende Denkmal Helmut Schmidt, für den in Sachen Raucherlaubnis bislang noch eine Sonderregelung galt, bald seine letzte Mentholzigarette ausdrücken muss.

Quelle: Welt.de


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