Von Dr Holger Czitrich-Stahl
Kreta und der Stier. Unkonventionelle Gedanken über einen Mythos und einige mögliche offene Deutungsfragen. Beitrag für den Schwerpunkt „Bildung und Wissenschaft“ auf www.kwerdenker-online.de vom 11. April 2010.
Ohne die Existenz des Stieres sind das vorzeitliche und das historische Kreta nicht denkbar. Überall finden sich mythologische oder archäologische Spuren des Stieres als Verkörperung von Kraft, Virilität und Macht.
Denken wir an die klassische Sage vom Minotauros. Alle neun Jahre, so hatte es das Orakel von Delphi verhießen, musste die Stadt Athen sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen als Tribut nach Knossos entsenden, um so für den Mord an Minos´ Sohn Androgeos zu sühnen. Theseus, der Sohn des Athener Königs Ägeus, stellte sich freiwillig als zu opfernder Jüngling zur Verfügung, um dieser Schmach für Athen endlich ein Ende zu bereiten. Mit Hilfe der Tochter des Minos, der schönen Ariadne, die ihm den Faden gab, mit dessen Hilfe Theseus sich im gefürchteten Labyrinth zurechtfand, in dem der Menschen fressende Minotauros gefangen gehalten wurde, erschlug der Athener Königsohn das Ungetüm und fand aus dem Labyrinth heraus.
Den Kopf des Minotauros entführte Theseus auf seinem Schiff nach Athen und ließ Ariadne dabei auf Naxos zurück. Doch dieser Akt des Hochmuts verfiel dem Fluche Ariadnes: Theseus vergaß, dass er Ägeus versprochen hatte, ein weißes Segel zum Zeichen des Sieges zu hissen. Doch in jenes weiße Segel hatte er den Kopf des besiegten Minotauros gehüllt; Ägeus, das schwarze Segel erblickend, stürzte sich aus Gram ins Meer, das seither das „Ägäische Meer“ heißt.
Oder denken wir an die Sage von Zeus und Europa: Europa war die Tochter des phönizischen Königs Agenor und der Telephassa. Zeus verliebte sich in sie. Er verwandelte sich wegen seiner argwöhnischen Gattin Hera in einen Stier. Sein Bote Hermes trieb eine Kuhherde in die Nähe der am Strand von Sidon spielenden Europa, die der Zeus-Stier auf seinem Rücken entführte. Er schwamm mit ihr nach Matala auf der Insel Kreta, wo er sich zurückverwandelte. Der Verbindung mit dem Gott entsprangen drei Kinder: Minos, Radamanthys und Sarpedon. Auf Grund einer Verheißung der Aphrodite wurde der fremde Erdteil nach Europa benannt.
Stellen wir uns vor, wir befänden uns in Knossos, dem Zentrum der minoischen Kultur. Unübersehbar stoßen wir an der Südseite der minoischen Palastanlage auf die „Heiligen Hörner“, oder besser: auf deren Nachbildung. Auch hier also der Verweis auf den Stier.
Weltberühmt ist das Fresko der „Stierspiele“ aus dem Ostflügel des Palastes. Es zeigt in detailreicher Anmut, wie mutige Jünglinge auf einen anrennenden Stier springen, ihn bei seinen Hörnern greifen und sich über seinen Rücken hinweg katapultieren.
Und begeben wir uns abschließend an den Strand von Kommos, dem alten Hafen von Phaistos im Süden Kretas. Dort wenden wir uns nach Norden und schauen in Richtung des Psiloritis, der bei uns als der Berg Ida bekannt ist, mit seinen imposanten 2456 Metern Höhe, zum greifen nahe. Seine charakteristische Doppelspitze besitzt ohne viel Phantasie die Form von Stierhörnern. Und genau diese Ansicht, die ich seit 1987 mehrfach genießen durfte, rief in mir die Überlegungen wach, die ich nun als „unkonventionelle Gedanken“ zu Papier bringen möchte.
Meine Grundthese lautet nämlich, dass der Stier niemand Anderes ist als der Psiloritis und damit identisch mit dem kretischen Zeus. Dabei wird sich in der Entwicklung der Gedankenführung erweisen, dass diese These eigentlich wenig aufregend ist. Doch wenn man die Mythologie archäologisch und historisch auf die Füße stellen will, stößt man bei der Periodisierung der minoischen Palastkultur auf einen Widerspruch: Man nahm an, dass der Höhepunkt der Palastkultur auf Kreta etwa um 1700 vor Christus begann und durch schwere Erdbeben um 1450 vor Christus endete. Aus dieser Zeit stammen die meisten weltkulturell bedeutenden Funde der Insel.
Doch seit der Datierung des verheerenden Vulkanausbruchs von Santorin auf etwa 1645 vor Christus gewinnt die Periodisierung der minoischen Palastkultur einen neuen Ansatzpunkt. Und der rührt von einer ähnlichen Entwicklung im gegenüberliegenden Ägypten her. Dort begann etwa um 1640 vor Christus eine Phase der Fremdherrschaft, die „Zweite Zwischenzeit“, zumindest in Unter-Ägypten, die etwa bis 1540 vor Christus andauerte. Dieses Volk, das temporär die ägyptischen Dynastien verdrängte, nannten die Ägypter die „Hyksos“.
Ist es nun purer Zufall, dass in der gleichen Zeitspanne auf Kreta eine Kultur aufblühte, die in vielen Bereichen von Ägypten sichtbar künstlerisch beeinflusst wurde? Übrigens verwendeten die Ägypter für die Kreter die Bezeichnung „Keftiu“ oder „Keft“, was eine Übereinstimmung mit den Hyksos ausschließt. Die Hyksos könnten somit eine Art „missing link“ in der Kette eines hochambitionierten Kulturtransfers von den Stromkulturen des Nils, Mesopotamiens und des Jordans nach Südosteuropa bilden. War da nicht etwas mit „Europa“? Beginnen wir also auf Kreta.
1. Frage: Wer war „Zeus“?
In dem uns überlieferten mythologischen Kontext nahm Zeus die Rolle des obersten Gottes der zwölf „Olympier“ ein, der Hauptgottheiten der griechischen Welt. Er war der „Blitzeschleuderer“, aber auch ein „Amoroso“, ein Liebhaber göttlicher und menschlicher Schönheiten. Als sein Geburtsort gelten sowohl die Idäische Höhle am Psiloritis als auch die Diktäische Höhle im weiter östlich gelegenen Dikti-Gebirge. Seine Mutter Rhea musste den jungen Zeus vor seinem Vater Kronos verstecken, der seine Kinder, darunter auch Poseidon und Demeter, aus Angst um seine Entthronung aufgefressen hatte. Rhea überlistete Kronos und gab ihm statt dem Sohn einen Felsstein zu essen. Zeus und Rhea befreiten die Verschluckten, er und seine Brüder Hades und Poseidon töteten Kronos und errichteten die Götterherrschaft der Olympier.
Doch auch die Zeusverehrung durchlief mehrere Metamorphosen, die auf Herrschaftswechsel oder ethnographischen Wandel verweisen. Jüngere Erkenntnisse der Archäologie deuten darauf hin, dass der kretische Zeus vor allem als Vegetationsgott verehrt wurde, wie der ägyptische Osiris als eine Gottheit, die den Wechsel der Jahreszeiten verkörpert und in jedem Frühjahr neu geboren wird. Dieser Vegetationskult ließe auf eine Affinität zu den Gottheiten der Hochkulturen Ägyptens und des „fruchtbaren Halbmondes“ im Nahen und Mittleren Osten schließen, findet sich aber genau so in der indoeuropäischen Vorstellungswelt wieder.
Der griechische Zeuskultus als oberster Herrscher über Sterbliche und Unsterbliche bildet eher schon die mykenische Periode ab, nachdem zwischen 1450 und 1340 vor Christus etwa die Hegemonie der Minoer im griechischen Kulturraum endgültig zerborsten war, wovon auch die Heldentaten des Theseus und des Herakles ein mythologisches „Zeugnis“ ablegen.
Zwischen diesen Kultuswechseln erstreckt sich die Verehrung des Stiers als einer Form des Zeus, so wie sie auf Kreta häufig zu besichtigen ist. Der Stierkult war sowohl im „fruchtbaren Halbmond“ als auch im indoeuropäischen Siedlungsraum gleichermaßen verbreitet, neben Macht, Fruchtbarkeit und Zeugungskraft versinnbildlichte er wohl auch das kosmische Bewegungselement. So gesehen besaß er ausschließlich positive und verehrungswürdige Bedeutungen für die damaligen bronzezeitlichen Menschen.
Warum also die plötzliche Verwerfung des Stieres in Gestalt des furchtbaren Minotauros oder des verwüstenden kretischen Stieres bei Herakles? Die Antwort liegt auch hier womöglich in der mythologischen Überformung kriegerischer und machtpolitischer Umwälzungen. Die Theseus-Sage wie der Sagenkreis um Herakles entstammen dem Mykenischen. Die Mykener verdrängten die Minoer bekanntlich ab dem mittleren 15. Jahrhundert als herrschende Schicht auf Kreta. Es handelt sich also um die Erzählweise der Sieger in einem großen Konflikt.
Doch welche Bedeutung besaß Zeus womöglich in der Zeit zwischen seiner Verehrung als Vegetationsgott und später als oberster Olympier? Auf die Spur bringt uns die Sage von der Entführung Europas aus Phönizien und der Blick vom Süden bei Matala, Pitsidia und Kommos auf den Psiloritis: Zeus war in dieser Epoche der Stier selbst, sowohl Fruchtbarkeitssymbol als auch Erderschütterer. Die wahrscheinlich pelasgischen (vorgriechischen) Kreter verehrten den Stier nicht als Gott, sondern als dessen Opfertier.
Begeben wir uns also erneut an den riesigen Strand von Kommos, von wo aus man Zeus quasi direkt ins Antlitz schauen kann. Hier vermag man zu glauben, dass in der Mitte Kretas ein Stier liegt. Aus östlicher Richtung erstreckt sich der Körper liegend hin zur Inselmitte, wo das Ida-Massiv wie ein Stierkopf daliegt, die Hörner (der Psiloritis) dem Betrachter zugewandt. Man erkennt unschwer die Idäische Höhle, umso mehr, wenn man sich auf dem Hügel von Phaistos befindet. ein Dieser Eindruck verstärkt sich offenbar, wenn man vom Lybischen Meer kommend auf die Südküste zwischen Lentas und Agia Galini zusteuert.
Die Doppelspitze des Psiloritis dominiert die Perspektive. Was aber passiert, wenn ein Stier, also eine Verkörperung Zeus´, in Aufruhr gerät? Sir Arthur Evans, der Ausgräber von Knossos, erfuhr es am eigenen Leibe. Um 12.15 Uhr, am 20. April 1922, „erfolgte ein kurzer, heftiger Stoß, stark genug, um einen meiner Leute umzuwerfen, und von einem tiefen, grollenden Ton begleitet. Der Erdstoß wurde auf unserem Gelände und in dem ganzen Gebiet wahrgenommen.“ Leonard Cottrell erinnert sich in seiner Biographie über Evans weiter: „Und er erinnerte sich daran, daß Homer im XX. Gesang der Ilias schrieb: „…es freut sich ihrer (der Stiere) der Erderschütterer““. (1)
Hier also wurde der Stier, mithin Zeus, mit den auf Kreta nicht seltenen Erdbeben assoziiert, deren Geräusche oft mit dem Brüllen eines Stieres verglichen wurden. Auch der kretische Volksmusiker Psarantonis vertonte einmal einen Pentozalis, einen der ältesten Tänze Kretas, auf seiner Lyra mit Lauten, die an Stierbrüllen erinnern.
Erdbeben auf Kreta ließen sich immer wieder nachweisen, manche mit schwersten Folgen, so dem Kippen der Insel von Ost nach West, so dass der ehemalige Hafen von Falasarna im Westen heute einige Meter unter Wasser liegt. Umso mehr werden die Bewohner ihr Auftreten mit göttlichem Wirken verknüpft haben. Und was lag da näher, als die Ursache im Psiloritis zu suchen, dort, wo der Stier sichtbar lag?
Doch galt dieser Blick nur aus der Südrichtung. Aber auch im Norden gab es beeindruckende Zeusheiligtümer, so der Berg Jouchtas, der auch „der liegende Zeus“ oder „der schlafende Zeus“ genant wurde. Er ist besonders gut von Heraklion und Knossos aus zu sehen, ein weiterer Beweis, dass Zeus und die Gebirgsstruktur verwoben waren. Besonders manifest wird die Verehrung von Zeus als Erderschütterer in der nahe gelegenen Höhle von Anemospilia, wo das Archäologeneheepaar Efi und Iannis Sekellarakis Knochenfunde entdeckten, die eindeutige Hinweise auf ein Menschenopfer um ca. 1700 angesichts eines Erdbebens darstellten.
Fassen wir zusammen:
In dem von uns ins Visier genommenen Zeitraum von etwa 1700 bis 1400 vor Christus wurde Zeus als Vegetationsgott und als Erderschütterer verehrt und im Stier verkörpert und durch Zeremonien wie den Stiersprüngen geehrt. Erst nach dem Sieg der Mykener entstand ein Bild des Stierkults, das jenen mit Menschentötung und Gewaltherrschaft gleichsetzte. Am Beginn dieser Epoche aber stand der Mythos eines Zeus, der in Stiergestalt die Prinzessin Europa nach Kreta entführte und mit ihr drei Königssöhne zeugte, die in Kreta die Herrschaft übernahmen: Minos, Radamanthys und Sarpedon. Dieses Bild verweist eindeutig auf eine Änderung der Machtverhältnisse auf Kreta. Nehmen wir also an, es war das Jahr 1645 vor Christus.
2. Frage: Welche Rolle besaß die Vulkankatastrophe von Santorin?
Hier ereignete sich einst vor rund 4000 Jahren eine der schlimmsten Vulkankatastrophen, die die Menschheitsgeschichte je erlebt hat. Etwa um das Jahr 1645 v. Chr. erwachte der Vulkan, wahrscheinlich nach einer jahrhundertelangen Ruhepause, und kam in einem verheerenden Ausbruch wieder ins Leben.
Die sogenannte Minoische Eruption zerstörte eine reich besiedelte blühende Insel und verwüstete ihre Umgebung. Noch heute kann man mit bloßem Auge eine der Auswirkungen dieses Ausbruchs nachvollziehen. Denn auch die Gestalt der Insel wurde durch den Ausbruch verändert. Einst hatte diese die Gestalt eines fast geschlossenen Rings, heute sind davon nur noch 3 Bruchstücken übrig geblieben.
Doch der Ausbruch zerstörte nicht nur eine kleine Insel. Er hatte wahrscheinlich noch viel schwerwiegendere Folgen für den gesamten östlichen Mittelmeerraum: Flutwellen, Erdbeben, Ascheregen, möglicherweise sogar globale Klimaschwankungen. Die Ereignisse führten zu Missernten, unterbrachen wichtige Handelsbeziehungen, es kam in der Folgezeit zu politischen und sozialen Umwälzungen. Man nimmt heute an, dass diese etwa 150 Jahre nach dem Ausbruch darin gipfelten, dass das Volk der Minoer auf Kreta von fremden Einwanderern vertrieben wurde und ihre hochstehende Kultur auf einen Schlag fast spurlos verschwand. Der Minoische Ausbruch machte Geschichte und grub sich tief in das Gedächtnis des Abendlandes ein.“(2)
Nehmen wir also an, die Folgen dieser verheerenden Katastrophe waren so, wie geschildert, dann müssten sie das politische und soziale Gefüge auf Kreta enorm beschädigt, wenn nicht gar zerstört haben. Hungersnöte, Ernteverluste, Unruhen, Bürgerkriege inmitten des 17. vorchristlichen Jahrhunderts. Es wäre nichts Ungewöhnliches, würde dabei nicht zuletzt auch die Herrschaft der „Älteren Palastzeit“ ins Wanken geraten sein. Theocharis Detorakis schrieb dazu: „Um 1700 v. Chr. wurde eine plötzliche Katastrophe bei den minoischen Palästen festgestellt.“
Die Experten sind sich über die Ursache der Katastrophe nicht einig und die gegensätzlichen Theorien darüber prallen gegeneinander. Einige führen die Katastrophe auf die Invasion indoeuropäischer Stämme zurück, insbesondere auf das erste indoeuropäische Volk der „Luwier“, das vom Osten kam, andere auf die Invasion der Hyksos von Ägypten, wieder andere auf inländische Krisen und den Ausbruch eines Bürgerkrieges und schließlich noch andere auf natürliche Ursachen (Erdbeben). Die alten Theorien von Palmer und Huxley, welche die Ursache in einer gewaltsamen Invasion der Luwier oder der Hyksos auf Kreta sahen, finden keine Zustimmung mehr. Die Zusammensetzung der Bevölkerung auf Kreta veränderte sich bis 1450, als sich die Achaier auf der Insel ansiedelten, nicht.
Wir haben keinerlei Hinweise für Invasionen aus dem Ausland und für Ansiedlungen anderer Völker auf Kreta. Am wahrscheinlichsten ist, daß die Katastrophe von 1700, welche die erste Palast Periode abschloß, auf einen schrecklichen Vulkanausbruch von Thera (Santorin) und einem darauffolgenden Erdbeben zurückzuführen ist.“(3)
Daran ist vieles zutreffend, aber eben nicht alles ist logisch. Wir wissen also heute aus dendrochronologischen Analysen, der C-14- Methode und vergleichen mit dem arktischen Eisarchiv genauer, dass die Vulkankatastrophe von Thera um 1645 stattfand, so dass folglich die ungefähre Periodisierung der „Mittleren Palastzeit“ angepasst werden muss. Zieht man Flutwellen, Hungersnöte, Ascheregen, Unruhen, Erdbeben usw. als Folgen zu Rate, so dämmert es einem schon, dass mit einer Katastrophe solchen Ausmaßes auch Herrschaftsstrukturen schwanken konnten.
Allein die Unfähigkeit der Priesterkaste, den zürnenden Gott durch Menschenopfer wie in Anemospilia zu besänftigen, vermochte Unhinterfragtes bis auf die Fundamente zu erschüttern: Auf ein geologisches folgte mithin ein politisches Erdbeben! Innere Eruptionen und Auflösungserscheinungen der klassischen Herrschaftsstrukturen der „Älteren Palastzeit“ im Gefolge einer fundamentalen Katastrophe sind eben doch denkbar, um Detorakis entschieden zu widersprechen!
Und seine Aussage, dass es keine Hinweise auf Ansiedlungen anderer Völker auf Kreta gab, ist ebenso in Zweifel zu ziehen, da er erstens den Beleg schuldig blieb, zweitens die Neigung vieler nationaler Griechen zum Panhellenismus bekannt ist, der die Einflüsse fremder Völker wider besseres Wissen sogar aus der griechischen Kochkunst herausleugnen möchte, und drittens allein die typischen durchschnittlichen Unterschiede der Kreter zwischen Heraklion und Ierapetra nahe legen, dass Kreta eben doch ein Schmelztiegel bildete zwischen den Völkern des westlichen Mittelmeeres, des Balkan, Kleinasiens, der Levante und Ägyptens:
Im Süden findet man deutlich arabischere Einschläge wieder. Nun mag das alles auch durch die Geschichte Kretas unter vielen Fremdherrschaften herrühren, indes widerspricht allein die Geschichte der Annahme einer ethnisch homogenen Bevölkerung. Das aber betont auch Detorakis an anderer Stelle: „Wir wissen nicht, ob sie als Siedler von den Kykladen, den Dodekaniso-Inseln oder aus dem benachbarten Kleinasien kamen, und wir haben keinerlei Gewissheit darüber, von welchem Volk sie abstammen. Viele glauben, daß sich die kretische Bevölkerung im 4. Jahrtausend v. Christus aus verschiedenen Volksstämmen zusammensetzte.“(4) Mit anderen Worten: 1645 trafen nahezu alle der erörterten Katastrophenkomponenten zusammen und stürzten die herrschende Klasse Kretas in eine solche Krise, dass sie sich nur mit Hilfe einer befreundeten Macht zu halten wussten: der Phönizier, oder auf ägyptisch, der Hyksos. Ob es dafür Zeugen gab? Zeus selbst.
3. Frage: Zeus und Europa – Gedanken über Kulturtransfer
Wenn Zeus die phönizische Prinzessin Europa nach Kreta entführte, und das in Gestalt eines Stieres, so mag das in Anbetracht der Katastrophe von 1645 mehrererlei bedeutet haben. Einerseits waren Entführungen von Frauen Gang und Gebe im politischen Geschäft der Bronzezeit, woran uns Troja erinnern sollte. Andererseits aber überlieferte uns die Mythologie keine kriegerische Reaktion auf diesen Frauenraub, so dass man annehmen kann, dass hier eine friedliche Übereinkunft zugrunde lag. Haben die bedrohten Herrscher von Knossos in Phönizien um Hilfe nachgesucht, um ihre Herrschaft zu stabilisieren?
Haben sie den Helfern fruchtbare Ländereien und politische Macht versprochen, um sie anzulocken? Boten sie ihnen ein heiliges Tier als Gastgeschenk? Zeus wurde schließlich vor allem auch als Vegetationsgott verehrt. Was geschah also um 1645 diplomatisch im bronzezeitlichen östlichen Mittelmeerraum?
Sollte die Katastrophe von Santorin ähnlich verlaufen sein wie angenommen, dann haben Tsunamis sowohl die Küsten der Levante als auch Ägyptens heimgesucht. Vielleicht drangen die Fluten weit bis ins Nildelta vor und überfluteten die Landwirtschaften des Pharaonenreiches. Ebenso könnten sie weiter Bereiche der Küsten Phöniziens betroffen und zerstört haben. Die Hauptzerstörungen indes dürften die Nordküste Kretas betroffen haben, wo viele Zentren der minoischen Kultur lagen.
Allen Szenarien ist es gemein, dass ihnen ungeheure Zerstörungen innewohnen, die erhebliche Folgen für das soziale und politische Gefüge der bronzezeitlichen Herrschaftswelt, die nicht zuletzt auf dem Näheversprechen der Herrschenden zu den Göttern beruhten, besitzen mussten. Womöglich kam es zu Migrationswellen aus den Kernbereichen der zerstörten Gebiete hinaus, vielleicht als Folge verminderter Anbaugebiete. Insbesondere die „Hyksos“ geraten hier ins Visier. Letztlich müssen sie identisch sein mit den Phöniziern, denn die Luwier, ein hethitisches Volk auf dem Gebiet der heutigen Türkei, waren eher eine Landmacht ohne maritime Projektionen, so dass sich der Blick auf die „Hyksos“ zu richten hat.
Der große britische Ägyptologe Sir Alan Gardiner beschrieb ihre Herkunft als aus dem asiatisch-palästinensischen Raum stammend, wobei „Hyksos“ eher die Bezeichnung der fremden Herrscher in Ägypten als die eines Volksstammes meint. (5) Nach den verlässlichsten Datierungen der ägyptischen Dynastien beginnt ihre Herrschaft in Unterägypten um 1640 vor Christus.
Vielleicht überstanden die Phönizier die große Katastrophe am wenigsten geschädigt und boten sich als Stabilitätsanker an. Zeus jedenfalls brachte Europa nach Matala, das man am besten vom Süden her erreicht, und setzte mit Hilfe ihrer drei mythologischen Söhne Minos, Radamanthys und Sarpedon eine Neustrukturierung der Herrschaft auf Kreta durch. Man darf also mutmaßen, dass der Beginn der klassischen minoischen Periode, also der Mittleren Palastzeit, nicht um 1700 vor Christus, sondern um 1645-1640 vor Christus begann, was sich im Übrigen mit der Fremdherrschaft der Hyksos in Ägypten deckt.
Und da es unübersehbare stilistische Ähnlichkeiten zwischen der ägyptischen und der kretischen Kunst dieser Epoche gibt, sollte man hypostasieren, dass der Kulturtransfer nicht allein über die Handelsbeziehungen hergestellt worden ist, sondern vor allem über verwandte Herrschaftsbeziehungen. Es sei überdies nur daran erinnert, dass das griechische Alphabet wesentliche Elemente der phönizischen Schrift übernahm und umformte, so dass auch hier ein bedeutender Kulturtransfer vonstatten ging.
Sollte Kreta eine wichtige Zwischenstation auf diesem Weg gewesen sein? Seine Linear-A- Schrift, ersichtlich auf dem berühmten Diskos von Phaistos, ist bis heute noch nicht entziffert. Auch sie entstammt dem betrachteten Zeitraum und nimmt eine Zwischenstellung zwischen den ursprünglichen kretischen Hieroglyphen und der mykenischen Linear-B- Schrift ein, die durch den Briten Michael Ventris 1952 entziffert wurde.
War also die Mittlere Palastzeit, die Hochkultur des minoischen Zeitalters, eine phönizische Epoche auf Kreta?
4. Was wirklich nach 1645 vor Christus geschehen sein könnte
Nehmen wir erneut die Mythologie beim Wort. Wenn Zeus´ Entführung der phönizischen Prinzessin Europa nichts Anderes darstellte als eine symbolische Darstellung einer dynastischen Hochzeit, so lag es nahe, die Begründung einer neuen Doppeldynastie aus kretischem Priesterkönigtum und phönizischem Königshaus religiös zu erhöhen in Form einer Vergöttlichung der Ereignisse, einer Apotheose. Die Thronerben sollten ihre Legitimität durch die göttlichen Weihen erlangen: Minos, Radamanthys und Sarpedon wurden also durch den Willen der Götter, vor allem des Zeus, in ihre Herrschaften eingesetzt. Dadurch sollten vor allem die konkurrierenden vornehmen kretischen Familien von der Beanspruchung eigener Herrschaftsrechte abgehalten werden.
In der späteren mykenischen Sagenwelt wiederum verkörperte Minos nicht mehr einen von Zeus abstammenden Herrscher, sondern einen grausamen Tyrannen, der Menschenopfer forderte und den genialen Baumeister Dädalos arrestierte und ihn nach dessen sagenhafter Flucht durch die Lüfte lebenslang verfolgte. Was geschah mit dem Minos im Laufe der rund zwei Jahrhunderte?
Die Europasage bildete den legitimativen Kern der neuen Herrschaftsdynastie, die sich womöglich das Symbol der Doppelaxt gab, der „labrys“. In dieser gekreuzten Axt, die geschmückten Stierhörnern nicht allzu unähnlich war, wurden die beiden dynastischen Quellen der Kreter und Phönizier vereint. Ihr Palast in Knossos nannte sich entsprechend das „Labyrinth“, das „Haus der Doppeläxte“.
Im Rahmen der Machtentfaltung der neuen Dynastie der Doppeläxte erfuhr sicherlich auch der religiöse Kultus eine deutliche Anpassung in Form der Synthese zweier Kulte kretischer und phönizischer Herkunft. Die Fresken im Palast von Knossos zeigten diesen Kultus als Stiersprünge. Eine andere, noch berühmtere Quelle berichtet uns überdies von einer weiteren Kulthandlung: „Als aber das Volk sah, daß Mose ausblieb und nicht wieder von dem Berge zurückkam, sammelte es sich gegen Aaron und sprach zu ihm: Auf, mach uns einen Gott, der vor uns hergehe! Denn wir wissen nicht, was diesem Mann Mose widerfahren ist, der uns aus Ägyptenland geführt hat.
Aaron sprach zu ihnen: Reißet ab die goldenen Ohrringe an den Ohren eurer Frauen, eurer Söhne und eurer Töchter und bringt sie zu mir. Da riß alles Volk sich die goldenen Ohrringe von den Ohren und brachte sie zu Aaron. Und er nahm sie von ihren Händen und bildete das Gold in einer Form und machte ein gegossenes Kalb. Und sie sprachen: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägypten geführt hat! Als das Aaron sah, baute er einen Altar vor ihm und ließ ausrufen und sprach: Morgen ist des Herrn Fest. Und sie standen früh am Morgen auf und opferten Brandopfer und brachten dazu Dankopfer dar. Danach setzte sich das Volk, um zu essen und zu trinken, und sie standen auf, um ihre Lust zu treiben.“ (6) Als Mose zurückkam, sah er das Volk Israel um das goldene Kalb tanzen.
Hier noch besaß der Stierkult einen saturnalischen Charakter der Ausschweifung. Die Dynastie der Doppeläxte erweiterte den Stierkult jedoch augenscheinlich durch das Element von Menschenopfern, verkörpert durch die alle neun Jahre als Tribut zu stellenden Jünglinge und Jungfrauen, wie sie uns in der Theseussage begegneten. Kinderopfer waren Bestandteil des Kultes um den phönizisch-kanaanitischen und später karthagischen Hauptgott Baal, der auch als Stier dargestellt wurde. Ist dieser Kultus in Knossos auf dem Hintergrund der Europasage etwa zufällig?
Wohl kaum, übersetzt man die mykenische Sichtweise des kretischen Hegemons zur Zeit der Doppelaxt in politisches Handeln. Die Theseussage bezog sich auf den Minotauros als des furchtbaren Ungeheuers, das auch Athen unterdrückte. Dieser Minotauros sei das Kind der Frau des Minos, Pasiphae, die in Liebe zu einem Stier entbrannt sei und mit ihm verkehrt habe.
Poseidon habe diese sodomische Beziehung hergestellt, weil dieser weiße Stier ihm geopfert werden sollte, was Minos umging; der Minotauros sei Poseidons Rache an dem Frevel gewesen. Minos könnte also gemeinsam mit seiner Frau Pasiphae, die gleichzeitig Oberpriesterin gewesen sein muss, dem alten kretischen Kultus abgeschworen und sich dem phönizischen Baalkult zugewandt haben. Dabei kam es womöglich zu einer kultischen Verschmelzung oder Vereinigung beider Kulte, vielleicht in Form einer symbolischen Begattungsdarstellung, aus der die späteren mykenischen Sieger eine faktische sodomische Handlung machten und so die religiöse Abwertung besonders des phönizischen Elements der Doppelaxt betrieben.
Auch die Heraklessage berichtete von einem kretischen Stier, der bis auf den Peloponnes vordrang und dort große Verwüstungen anrichtete, bevor er von Herakles eingefangen wurde. Nachdem Herakles´ den Stier an König Eurystheus übergeben hatte, ließ dieser ihn vor Schreck frei, woraufhin er Attika verwüstete; erst Theseus fing ihn erneut ein und opferte ihn in Athen dem Apollon.
Die Herrschaft der Doppelaxt nahm offenbar also expansionistische Züge an und griff auf das griechische Festland über. Knossos besiegte viele mykenische Poleis und machte sie tributpflichtig. Zum Tribut schien auch die Opferung der Jungen und Mädchen zu gehören, von der die Theseussage erzählte. Auch hier also kann man einen realhistorischen Hintergrund vermuten. Vielleicht ergötzten sich die Mächtigen im Haus der Doppeläxte (Knossos) an den verzweifelten Versuchen der jungen Opfer, dem herannahenden Stier und dem sicheren Tode durch Überspringen zu entgehen, und bannten dieses wohl meistens blutige Vergnügen auf steinerne Fresken. Die unterworfenen Poleis jedenfalls mussten ein Interesse daran haben, diese Form der Fremdherrschaft abzuschütteln, daher verteufelten sie die Herrschaft der Doppelaxt als Menschen fressenden Minotauros.
Dabei konnten sich Theseus und seine Verbündeten auf eine hausinterne Opposition stützen, die in der Sage durch Ariadne verkörpert wurde. Sie versorgte Theseus mit allem, was er benötigte, um den Stier zu töten und damit die Allmacht Baals offen zu verneinen. Mit dem symbolischen Ende Baals in Knossos fiel auch die Legitimation der Doppelaxt in sich zusammen. Den Mykenern gelang die Flucht nach Naxos, wo Theseus Ariadne zurückließ; später heiratete er dem Mythos nach ihre Schwester Phädra.
Nachdem um 1450 vor Christus ein schweres Erdbeben Kreta erschütterte, brach die Herrschaft der Doppelaxt wohl endgültig zusammen, die Mykener übernahmen die Macht auf der Insel und bezogen sie in den griechischen Herrschaftsbereich ein.
5. Fazit:
Wenn es stimmen sollte, dass die klassische kretische Hochkultur der Mittleren Palastzeit von ca. 1645 bis 1450 vor Christus eine Epoche der Synthese kretischer sowie phönizischer gemeinsamer Herrschaft und Religion unter dem Symbol der Doppelaxt war, dann resultieren daraus gewiss einige neue Fragen an die Archäologie. Ebenso bekämen die Phönizier als einer von vielen Wurzeln unseres Kulturkreises einen bedeutenderen Stellenwert als bislang gedacht, gleichfalls müssten sie neben den Ägyptern, Hethitern und Mykenern zur vierten bedeutenden Großmacht des östlichen Mittelmeeres heraufgestuft werden, galten sie bislang doch vor allem als geschickte Händler. Ihre Rolle als „Hyksos“ in Unterägypten würde wohl ebenso neu bestimmt werden müssen. In jedem Falle aber nähmen sie neben den Sumerern, Ägyptern, Mykenern, Hebräern und Kretern eine wichtige Funktion im Rahmen des unsere Zivilisation gefördert habenden Kulturtransfers ein, die weitere Forschungen nach sie ziehen könnte.
Schlussendlich aber sehen wir erneut, wie viel „Morgenland“ doch unserem „christlich-abendländischen“ Denken und kulturellen Empfinden zugrunde liegt. Vielleicht enthebt uns diese Erkenntnis eines nicht allzu fernen Tages der Arroganz gegenüber den Völkern des Ostens.
Zeus aber bleibt Zeus: Ein Vegetationsgott, dem alljährlich zu Ostern an der Kapelle auf dem Jouchtas Brot geweiht wird, auch wenn hier Jesu Christi gedacht wird. Ein Erderschütterer, der alle Jahre wieder auf Kreta die Erde beben lässt. Und ein Berg mit einer Doppelspitze, der Psiloritis, der wie ein Stier inmitten auf Kreta zu liegen scheint und den auch die heutigen Kreter in ihren Volksliedern und Volkstänzen ehren.
Anmerkungen:
1) Leonard Cottrell, Der Faden der Ariadne, Athen 1993, S. 260
2) http://www.decadevolcano.net/studienreisen/santorin.htm, Zugriff am 9. April 2010
3) Theocharis Detorakis, Geschichte von Kreta, Heraklion 1997, S. 18
4) Ebenda, S. 3
5) Sir Alan Gardiner, Geschichte des Alten Ägypten, Augsburg 1994 (3), S. 171f
6) Zweites Buch Mose 32, Vers 1-6
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