Historisches: Kreta und die Entführung des General Kreipe.

Die Entführung von General Kreipe – Widerstand und Besatzungsterror auf Kreta 1944.

Historische Notiz 120 vom 19. Juli 2014, von Holger Czitrich-Stahl.

Diese abermals auf Kreta stattgehabte „Historische Notiz“ muss in dem kretischen Bergdorf Anogia ihren Anfang nehmen. Das am Psiloritis gelegene Bergdorf Anogia kennen viele Kreta-Liebhaber vor allem wegen seiner Fülle an bedeutenden kretischen Musikern. Als ersten muss man ihren bedeutendsten erwähnen: Nikos Xylouris (1936-1980), dessen Biographie-Urversion ich für Wikipedia geschrieben habe (1). Weiterhin von großer Bekanntheit sind seine Brüder Yannis Xylouris und Antonis Xylouris, genannt Psarantonis (2), Vassilis Skoulas, Nikephoros Aerakis sowie die nachfolgende Xylouris-Generation. Doch nicht die Musik bildet den Ausgangspunkt dieser Notiz, sondern ein deutsches Kriegsverbrechen. Gesichert 117 Bewohnern Anogias wurden von Soldaten der Wehrmacht als Vergeltung exekutiert, das Dorf wurde völlig verwüstet.

Dieser barbarischen Gräueltat lag folgender Befehl zugrunde:

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Das Bergdorf Anogia

„Befehl vom 13. August 1944: „Da die Stadt Anogia ein Zentrum der englischen Spionagetätigkeit auf Kreta ist, da die Einwohner Anogias den Sabotageakt von Damasta ausgeführt haben, da die Partisanen verschiedener Widerstandsgruppen in Anogia Schutz und Unterschlupf finden und da die Entführer Generals Kreipes ihren Weg über Anogia genommen haben, wobei sie Anogia als Stützpunkt bei der Verbringung nutzten, befehlen wir den Ort dem Erdboden gleichzumachen und jeden männlichen Einwohner Anogias hinzurichten der innerhalb des Dorfes oder in seinem Umkreis in einer Entfernung bis zu einem Kilometer angetroffen wird. Chania den 13. August 1944. Der Kommandant der Festung Kreta, H. Müller (3).“

Da die meisten Männer tatsächlich mit den Partisanen sympathisierend längst in die Berge geflohen waren, wurde das gesamte Dorf niedergebrannt. 950 Häuser mit den 117 Verbliebenen, zumeist Alte und Kranke, wurden Opfer der Feuer, alles Vieh wurde entweder geraubt oder getötet. Nach dem Krieg wurde Anogia mit amerikanischer Hilfe wieder aufgebaut.

Der Vergeltungsbefehl General Friedrich Wilhelm Müllers nennt die Hauptmotive dieses Kriegsverbrechens: Erstens der Anschlag auf deutsche und italienische Soldaten am 8. August 1944 in Damasta, wo die Andarten, also die kretischen Partisanen, eine strategisch wichtige Brücke sprengten, als deutsche Militärtransporter sie überqueren wollten, um einen Angriff auf Anogia zu vereiteln. Dabei kam auch der berüchtigte Feldwebel Ollenhauer ums Leben. Als Vergeltung exekutierten die Deutschen am 21. August 1944 auf Befehl des Generals Friedrich-Wilhelm Müller 30 männliche Einwohner des Dorfes. Der zweite und schwerwiegendere Grund lag bereits vier Monate zurück und hatte eine Demütigung der deutschen Besatzungsregimes ohnegleichen bedeutet:

Die abenteuerliche Entführung des Generalmajors Heinrich Kreipe durch Andarten und britische Geheimagenten am 26. April 1944 und dessen Verbringung nach Ägypten, wo er in Kairo dem britischen Kommando Mittlerer Osten überstellt wurde. Dieses Husarenstück stärkte den kretischen Widerstand gegen die deutschen Besatzer und die zu ihnen übergelaufenen Italiener – in Italien war Mussolini ja gestürzt worden – und ermutigte die Alliierten, im Südosten Europas die stockende Befreiung des Balkans von der deutschen Besatzungsmacht wieder mit vollem Elan voranzutreiben. Denn – was das Hitlerregime nicht mitbekommen sollte – im Westen Europas bahnte sich die alliierte Landung in der Normandie an, die am 6. Juni 1944 begann. Grund also genug, die Aufmerksamkeit der Nazis auf eine entferntere Region zu lenken. Kreta als Brücke zwischen Asien, Afrika und Europa und als scheinbar sicheres Aufmarschgebiet der Wehrmacht bot sich dafür an.

Der kretische Widerstand: die Andarten.

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Andartiko: Der Kretische Widerstand.

Den Kretern ist historisch alles zuwider, was für sie Fremdherrschaft bedeutet. Ob Araber, Venezianer, Osmanen, sie alle sahen sich stets mit dem Freiheitskampf der Kreter konfrontiert, der einen hohen Blutzoll forderte, aber am Ende stets die Oberhand behielt. Und so bildeten sich schon bald nach der deutschen Eroberung Kretas die ersten Andartengruppen, regional oder lokal aus dem Hinterhalt operierende Freischärler unter dem Kommando eines der Dorfhonoratioren oder eines Abkömmlings ihrer Familien, „Kapetanos“ betitelt. Da Kreta von West nach Ost von hohen Gebirgen durchzogen und nach Süden hin zumeist durch tiefe Schluchten durchfurcht ist, bietet es für den Guerillakampf und für Partisanenverbände nahezu ideale Bedingungen. Die zahllosen Höhlen bieten Unterschlupf, die Menschen halten zusammen und verbergen die Kämpfer, die Ortskenntnis und den Mut haben sie allen Eroberern voraus.

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Die Gedenktafeln in Kandanos.

Es gab verschiedene, aber miteinander verbundene und schon bald mit den Briten kooperierende Strukturen des Widerstands gegen die Wehrmacht: Scheinkooperation, um als Agent wichtige Informationen zu erlangen, ebenso eine Art Meldegängerei, um zwischen den Dörfern und Verbänden die Nachrichten zu übermitteln, wozu sich auch Hirten und Popen eigneten, Kontaktpersonen für die britischen Agenten und natürlich die kämpfenden Andarten. Und so gelang es den deutschen Besatzern nicht, den Widerstand völlig zu unterdrücken, selbst als es 1942 noch so schien, als könnte das „Afrika-Korps“ von Generalfeldmarschall Rommel die britischen Truppen unter dem Hauptkommando Mittlerer Osten aus Kairo vertreiben. Doch schon hier leisteten die vereinten Andartengruppen und die britischen Agenten ganze Arbeit.

Der Treibstoff, den die deutschen Panzer für die Schlacht bei El-Alamein benötigten und über Kastelli in Westkreta ausfliegen wollten, wurde durch Sabotageakte und britische Bomben so dezimiert, dass Rommel der Nachschub ausging und so die Wehrmacht bei El-Alamein in zwei Schlachten im Juli und im November 1942 unterlag und den Rückzug antreten musste.

Die Wehrmacht übte nach diesen Schlägen stets grausame Rache an den Kretern nach dem Motto „zehn Kreter für einen Deutschen“. Dieses Schicksal erreichte im Juni 1941 Kandanos genau so wie im September 1943 Ano Vianos. In Kandanos, einem Ort an der Straße nach Paleochora, hatten Andarten 39 Soldaten getötet, das Dorf wurde aus Rache bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Noch brutaler gingen die Besatzer in Ano Vianos im Süden Kretas vor: Für getötete Soldaten mussten 440 Dorfbewohner ohne Ansehen ihr Leben lassen, Frauen, Alte, und Kinder; drei umliegende Dörfer wurden völlig zerstört. (5) Doch mit jeder Untat wuchs die Zahl der Andarten, die längst mit britischen Sondereinheiten kooperierten. Und mit dem Näherrücken des D-Day in der Normandie musste eine spektakuläre Aktion den Mut weiter stärken und der Welt zeigen, dass Hitler nicht nur in der Sowjetunion den Krieg verlieren würde.

Der Coup: die Entführung Heinrich Kreipes.

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Die britischen Agenten Fermor und Moss in deutscher Uniform

Es waren zwei britische Geheimagenten, die die Entführung Kreipes planten, nachdem von allerhöchster Stelle, von Premierminister Winston Churchill, „grünes Licht“ gegeben worden war: William Stanley Moss und Patrick Leigh Fermor. Zu ihren Motiven lassen wir sie einmal mehr in Klaus Modicks wunderbarem Roman „Der kretische Gast“ sprechen. Moss: „Nach den Massakern von Ano Viannos im vergangenen Jahr haben wir dann beschlossen, uns General Müller zu schnappen, weil er die Verantwortung für die Massenerschießungen trug. Aber kaum, daß unser Kommando endlich vollzählig nach Kreta eingeschleust werden konnte, ist Müller durch Kreipe ersetzt worden.“…“Einen deutschen General entführen?“ Johann wunderte sich. „Welchen Sinn soll das haben?“ „Einen unmittelbar militärischen oder strategischen Sinn hat das nicht, da hast du schon recht“, sagte Moss. „Aber wenn es uns gelingt, einen hohen Repräsentanten der bei der Bevölkerung verhaßten Besatzungsmacht auf spektakuläre Art von der Insel zu bringen, dann verunsichert das nicht nur die Deutschen. Vielmehr, und das ist das Entscheidende, hebt es die Moral der Bevölkerung und stärkt den Zusammenhalt des Andartiko.“ (6)

Moss, Leigh Fermor und die mit ihnen kooperierenden kretischen Andarten Manolis Paterakis, Jorgis Tirakis, Kapetan Boutsalis und einige seiner Partisanen, Antonis Papaleonidas, Grigoris Chnarakis und Kimon Sografakis bereiteten sich in der Umgebung von Archanes auf den Coup vor. Kreipes Gewohnheiten wurden ebenso ausgespäht wie eine günstige Stelle, um seinen Wagen zu stoppen und ihn zu kidnappen. Gleichzeitig verfasste man ein Bekennerschreiben, das ausdrücklich die Kreter von der Verantwortung für die Entführung freisprach, um sie vor Massakern zu schützen. Wie wir heute wissen, war dieses Mühen um Schutz der Zivilbevölkerung vergebens. Leigh Fermor und Moss, als deutsche Soldaten verkleidet, sollten an einer Straßensperre den Wagen anhalten und die Entführung durchführen. Am 26. April 1944 war der Tag X gekommen: Nach 21.15 Uhr erreicht die Limousine Kreipes den Hinterhalt an der Straße von Ano Archanes, dem Sitz des deutschen Hauptquartiers, nach Heraklion.

Kreipe wohnt ausgerechnet in der „Villa Ariadne“ des Knossos-Ausgräbers Arthur Evans. In erlerntem akzentfreiem Deutsch stoppen Moss und Leigh Fermor den Wagen, betäuben den Fahrer, unterstützt von Tirakis und Chnarakis, und fesseln Kreipe. Die Gruppe trennt sich, ein Teil marschiert mit dem gefangenen Fahrer in Richtung Psiloritis in die Berge zum Versteck des britischen Agenten Tom Dunbabin, der dort eine Funkanlage betreibt. Moss und der als General verkleidete Leigh Fermor übernehmen die Limousine und fahren in Richtung Heraklion weiter. Sie passieren 22 deutsche Posten, ohne entdeckt zu werden, und teilen sich auf halbem Wege nach Rethymnon weiter auf. Moss schlägt sich mit Kreipe zu Fuß durch das ansteigende Gelände in Richtung Anogia durch, Leigh Fermor und Tirakis fahren das Auto weiter, um es bei Cheliana abzustellen. Dort hinterlassen sie neben einigen militärischen Abzeichen auch das Flugblatt, mit dem die alleinige britische Verantwortung dargelegt werden sollte. Darin heißt es: „Ihr General ist ein ehrenwerter Kriegsgefangener und wird die seiner Stellung entsprechende Behandlung erfahren. Strafaktionen gegen die Bevölkerung Kretas wären ungerechtfertigt und ungerecht. Wir hoffen auf ein baldiges Wiedersehen. Patrick Leigh Fermor (Major), William Stanley Moss (Hauptmann).“ (7)

Am Morgen des 27. April begannen auf Befehl des Kommandanten der „Festung Kreta“, General Bräuer, die Suchmaßnahmen rund um Anogia. Auf Flugblättern wurden Strafen gegen die kretischen Unterstützer der Entführung angedroht. Gleichzeitig wurden deutsche Wachposten in Richtung Südküste verlegt, weil man die Verschiffung Kreipes nach Kairo von dort erwartete. Nach drei Tagen erfolgten die ersten Beschießungen kretischer Dörfer, die als Widerstandsnester galten: Margarikari, Kamares und Lochria am Psiloritis werden zerstört.

Dies zwang die Entführer zur Änderung der Route. Statt den direkten Weg nach Süden zu nehmen, wichen sie zunächst nach Westen aus, stets gejagt von deutschen Spürtrupps. Man übernachtete in Höhlen, die nur den Einheimischen bekannt waren. In Gerakari am Kedros-Gebirge erfolgte die Übergabe der Gruppe an die Andarten um Efthimios Harokopos, dem Vater des im Text verarbeiteten Autors. Am 9. Mai schließlich neigte sich die Odyssee ihrem Ende zu. Das erwartete britische Landungsboot könne am Stand von Rodakino landen, einer Ortschaft zwischen Plakias und Chora Sfakion. Am 14. Mai schließlich gegen Mitternacht begaben sich Moss und Leigh Fermor mit General Kreipe an Bord, um mit den Kretern, die die Schlussphase der Entführung unterstützt hatten, nach Kairo auszulaufen, damit General Kreipe an das britische Kommando Mittlerer Osten überstellt werden konnte. Um 11.30 Uhr am Folgetag erreichen sie Ägypten.

Vergeltung und Rückzug der Wehrmacht.

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Patrick Leigh Fermor nimmt Abschied von General Kreipe.

Am 6. Juni 1944 landeten die Alliierten in der Normandie und eröffneten die ersehnte zweite Front, die die Befreiung Europas vom Joch des Hitlerfaschismus beschleunigte. War die Entführung General Kreipes für sich genommen militärisch betrachtet ein Husarenakt, so traf er doch in Griechenland und Europa auf eine Stimmung, die die Hoffnung auf ein Ende von Besetzung, Vergeltung, Morden und Krieg ausdrückte.

Tatsächlich musste die deutsche Heeresgruppe E schon bald den Südosten Europas räumen und den Briten und der Roten Armee überlassen; Churchill und Stalin hatten in Moskau die Einflussbereiche abgesteckt. Am 26. August 1944, keine zwei Wochen nach dem Massaker von Anogia, trat die Wehrmacht den Rückzug in Richtung Donau an. Am 8. September 1944 erklärte Bulgarien dem Deutschen Reich den Krieg, Rumänien war am 25. August vorausgegangen, aber besiegt worden. Dennoch musste die Wehrmacht im Laufe des Herbstes 1944 den nahezu gesamten Balkan aufgeben, Griechenland im Oktober. Der Krieg war hier schon längst verloren, die Partisanen um Josip Broz Tito im befreiten Jugoslawien trugen ihren Teil dazu bei. (8) Ein halbes Jahr später stand die Rote Armee im Berliner Zentrum, das Hitlerreich war besiegt.

General Heinrich Kreipe kam in Kriegsgefangenschaft und lebte bis zu seinem Tode 1976 in Hannover. Patrick Leigh Fermor starb 94jährig als geachteter Schriftsteller in London. Vorher wurde er von Elisabeth II. geadelt. Die beiden deutschen Generäle Friedrich-Wilhelm Müller und Bruno Bräuer wurden in Griechenland angeklagt und im Mai 1947 hingerichtet.

Der Sohn des Andartenführers Efthymios Harokopos, Georgios Harokopos, fasste die Geschehnisse, an denen auch er als Jugendlicher teilnahm, in einem für Touristen gut lesbaren Buch zusammen. Übrigens hieß der Kapetanos von Anogia, der die Entführung Kreipes deckte, Michalis Xylouris.

Anmerkungen

1) Nikos Xylouris, http://de.wikipedia.org/wiki/Nikos_Xylouris, Zugriff vom 16. Juli 2014, nicht meine Urversion.
2) Psarantonis bzw. Psarandonis, http://de.wikipedia.org/wiki/Psarandonis, Zugriff ebendann.
3) Anogia, http://de.wikipedia.org/wiki/Anogia, Zugriff ebendann.
4) Georgos Harokopos, Die Entführung von General Kreipe, Heraklion 2002, S. 269ff.
5) Eberhard Fohrer, Kreta, Erlangen 2009 (18.), S. 505 und 674f..
6) Klaus Modick, Der kretische Gast, Frankfurt am Main 2003, S. 341.
7) Harakopos, S. 149 f; Seine Schilderung beginnt auf S. 142.
8) Siehe dazu Percy E. Schramm (Hrsg.), Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht, Band 7 (1944-1945), München 1982, S. 702ff.


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Ein Kommentar

  1. ich bin erschüttert und berührt. ich fühle eine Verantwortung die ich nicht zu tragen habe und kann als Deutscher nur um Bergebung bitten. Nach all den Kahren.

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