Geschichten zur Weihnachtszeit.
Von Paul Gourgai.
Kleanthis Triposkiadis, der Ehrengast in der Runde, hatte über mehrere Stunden kräftig zugelangt, denn zu köstlich war das gewesen, was man ihm vorgesetzt hatte, als dass er sich hätte zurückhalten können.
Von seinem Nachbarn Nikolakopoulos war er an diesem Weihnachtsabend zum Festessen eingeladen worden. Die ganze Familie war zugegen, anfänglich noch ziemlich feierlich gekleidet, im Verlaufe des Abends und als Folge gewisser Bedrückungen durch zu eng sitzende Hosen und Jacken jedoch zunehmend legerer adjustiert. Kleanthis, der in feines dunkelblaues Nadelstreiftuch, einen gar edlen Zweireiher mit Gilet, gehüllt war, hatte sich, angeregt durch die vielen Gespräche, schlicht und einfach verplaudert. Unvermeidlicherweise, denn es waren doch überwiegend Menschen etwas fortgeschritteneren Alters anwesend, hatte man sich auch ausgiebig über diverse gesundheitliche Aspekte der Existenz unterhalten.
Insbesondere der Hausherr selbst hatte es sich nicht nehmen lassen, aus seiner reichhaltigen Erfahrung detailreich verschiedenste Fälle von Herzinfarkten zu schildern, mit denen er während seiner dreißig Jahre andauernden Tätigkeit als Kapitän der Handelsmarine zu tun gehabt hatte. Man mochte geradezu den Eindruck gewinnen, dass ein beachtlicher Teil seiner Mannschaft durch gezielt applizierte Herzmassagen seitens des umsichtigen Kapitäns gerade noch vor einem jähen Abgang gerettet worden war.
Elpida, seine Frau, die diese Schilderungen schon zu gut kannte, um ihnen über ein bestimmtes, im Laufe der Jahre kontinuierlich kleiner bemessenes Maß hinaus gebührende Aufmerksamkeit zu zollen, fing ihrerseits an, von alten volksmedizinische Rezepten zu erzählen, die in ihrem Geburtsort, unten im tiefsten Süden der Sfakia, noch in Gebrauch seien. Kleanthis, der Elpida immer schon sehr zugetan war, weil diese nicht nur exzellente Speisen kochte, den Besen im Hause schwang und den Garten pflegte, sondern, und vor allem deshalb, weil sie so richtig mit der Seele lachen konnte, war nicht wenig erstaunt zu vernehmen, dass man früher, als man noch Seepferdchen fangen konnte, diese in der Sonne gut austrocknete, um sie hernach in Stücke von der Größe von Kaffeebohnen zu zerschneiden, die dann in der Tat in der Kaffeemühle zu Pulver gemahlen wurden.
Dieses Pulver gab man den Kindern, die Bettnässer waren, aber auch Erwachsenen mit Nierenproblemen in den Tee. Nach dieser Therapie urinierten sie in der Nacht nicht mehr. Die Cousine von Elpida, die an diesem Abend ebenfalls anwesend war, wusste zu berichten, dass auf die gleiche Weise auch die Barbenlaus, ein Schmarotzer, der sich in der Fischhaut einniste, getrocknet und zerstampft wird. Die sei eine ausgezeichnete Medizin gegen den Keuchhusten. Elpida vergaß daraufhin nicht hinzuzufügen, dass die weißen Läuse nicht dieselben Eigenschaften hätten, alle anderen jedoch, namentlich die vom Barsch die gleiche Wirkung wie jene der Barbe hätten.
Man sollte sie am besten in einem Kohlebecken rösten und dann in den Tee geben. Das habe eine desinfizierende und blutstillende Wirkung. Kleanthis fragte die Frauen, ob es stimmen würde, dass die roten Fische, wie die Zahnbrasse aber auch der weiße Seebarsch, generell sehr empfehlenswert seien, weil sie fettarm seien. Dies wurde nachdrücklich bejaht. Dann aber rief plötzlich Nikolakopoulos Kleanthis zu: »Aber passen Sie bei Sardellen und vor allem beim Gavros auf! Die schaden der Prostata, besonders wenn sie gesalzen sind. Der Gavros, Kleanthi, ist überhaupt der Todfeind der Manneskraft!«
Kleanthis nickte verständnisinnig, die Frauen hingegen kamen gleich auf die Rina, einen Raubfisch zu sprechen, dessen Eier früher von den Gynäkologen als Mittel gegen Blutungen empfohlen worden sei. Man könne die Eier gemeinsam mit der Haut der Rina in der Sonne trocknen. Besonders die Haut würde man auch heute noch verwenden, denn sofern sie von guter Qualität wäre, und wenn man sie nach einem Fußbad in den Fuß einriebe, dann könne man hernach mit einem Schaber Hühneraugen vollkommen schmerzlos entfernen. Sie sprachen dann noch über das Haar der Pinna, das man, nachdem es sehr gut gewaschen worden sei, in Öl einlege. Bei Ohrenschmerzen brauchte man es nur in das Ohr zu geben. Der Schmerz würde bald nachlassen.
Kleanthis kam es nun infolge solcher Gespräche so vor, als ob ihm von so viel fischiger Medizin selbst die Ohren zu singen begännen, er entkam aber nicht einer von den Damen noch rasch nachgelegten Erzählung über die segensreiche Wirkung des Schweinefisches. Den würde man zwar nicht essen, weil er voll Öl ist, allerdings sei gerade dieses Öl eine hervorragende Medizin, früher Rotöl genannt, die gegen rheumatische Beschwerden Wunder wirke. Im Sommer habe man den Schweinefisch in die Sonne gehängt, bis er in der Hitze schmolz und das Öl ganz langsam in ein Gefäß floss, das man darunter gestellt habe.
Wenn alte Menschen an rheumatischen Beschwerden litten, rieben sie bis zum heutigen Tag diese Stellen mit dem Öl des Schweinefisches ein und schafen sich dadurch Erleichterung, denn diese Medizin wirke wie Kampfer. Kleanthis erhob sich nun doch etwas abrupt. Unwillkürlich fasste er sich an der Hüfte, die ihn vom langen Sitzen etwas schmerzte. Die Damen erkundigten sich lachend, ob er vielleicht etwas vom Rotöl ausprobieren wolle. Kleanthis aber, indem er wieder das abgelegte Jackett anlegte, entschuldigte sich bei Elpida, als der Frau des Hauses, sich solange bei ihnen aufgehalten zu haben, wiewohl er doch wissen müsse, dass er sie ungebührlich über das zuträgliche Zeitausmaß hinaus von ihrer eigenen Feier im Familienkreis abgehalten habe.
Man verzieh ihm, doch drohte ihm Alexandros Nikolakopoulos mit der Autorität des weitgereisten Kapitäns, dass er ihn nicht in diese heilige Nacht entlassen würde, bevor er sich nicht noch eine geistige Erquickung einverleibt hätte. Es war ein gut dreistöckiger Whisky pur, der ihm gereicht wurde, wobei die Höhe der einzelnen Stockwerke als beachtlich angesehen werden durften. Eine andere Art von Volksmedizin. Gleichzeitig mit dieser Einflößung wurde ihm auch die Zusage abgerungen, möglichst bald wieder zu einem abendlichen Essen zu erscheinen. Offenbar hatte er es den Damen angetan. Kleanthis aber mühte sich, dem Grundsätzlichen seiner Zusage eine Note von Unbestimmtheit beizumischen, denn er erinnerte sich: wird man wo gut aufgenommen, muss man nicht gleich wiederkommen. Nachdem er sich ziemlich zeremoniös verabschiedet hatte – die genossenen Speisen und vor allem die Getränke hatten ihn in eine durchaus exaltierte Laune versetzt -, begab er sich auf den, wie es nur zunächst schien, nicht allzu langen Heimweg.
Es war ein wunderbar lauer Abend, was angesichts der Verbrennungswärme, welche die dafür zuständigen Organe seines Körpers erzeugten, nicht unwesentlich auch auf eine gewisse Eigenleistung des Herrn Triposkiadis zurückzuführen war. Er war so guter Laune, dass es ihm schade schien, jetzt um Mitternacht schon zu Bett zu gehen. Der Zufall wollte es, dass eben ein Taxi von der Militärbasis heraufkam. Er hielt es an und gab dem Fahrer Bescheid, ihn zum venezianischen Hafen zu bringen. Dort angekommen fingerte er etwas mühselig die passenden Scheine und Münzen aus der Brieftasche, was sich angesichts der defekten Innenbeleuchtung des Taxis als eine Quizaufgabe mittleren Schweregrades erwies. Kaum aus dem Fahrzeug gestiegen, ließ ihn höllisches Krachen zusammenzucken. Einige jugendliche Spaßvögel ließen in einem Winkel der engen Gasse Feuerwerkskörper explodieren, was naturgemäß mit infernalischer Lärmentwicklung verbunden war.
Kleanthis entschloss sich daher, in ruhigere Gefilde auszuweichen. Er ging, von ständigem Krachen begleitet, an der Freitreppe eines Palazzo vorbei, auf der ein Weihnachtsbaum in Höhe von gut fünf Metern stand, den man aus den zusammengesteckten Zweigen von Nadelbäumen kunstvoll errichtet und mit Hunderten von elektrischen Kerzen erleuchtet hatte. An der nächsten Ecke bemerkte Kleanthis die beleuchtete Auslage eines Schreibwarengeschäfts, die mit allerhand Kram aufgefüllt war. In der untersten Etage waren einige Engel ausgestellt, deren Flügel goldfarben bemalt worden oder gar mit Blattgold überzogen waren, seitlich davon gab es eine Schar rustikal gekleideter Hirtenfiguren zu sehen, die vergoldete Kuhglocken in ihren Händen trugen, darüber standen ganz in Weiß doppelt so hohe Figuren, deren zwei als Ministranten angezogen waren, während zwei andere, weibliche, als Bräute oder Brautjungfern ausstaffiert waren.
Mitten darunter stand eine Madonna mit Kopftuch und blauer Schürze. Dahinter wiederum waren auf den drei unteren Ebenen eines Holzgestells Krippenfiguren verschiedenster Größen und Stilrichtungen, soweit von Stil hier denn überhaupt die Rede sein konnte, wahllos durcheinander hingestellt, während von ganz oben vier verschiedenfarbige Teddybären, einer davon in besonders auffälligem Lichtgrau und Pink, aus der Auslage herauslugten. Kleanthis hatte genug gesehen. Dieses weihnachtlich geschmückte Geschäft beeindruckte vielleicht mit der Reichhaltigkeit und dem Glanz, aber wenn man etwas Bestimmtes suchte, wie beispielsweise eine kleine einfache Krippe, so würde man es vielleicht gerade hier nicht finden, und bei hartnäckigem Nachfragen auf die Antwort stoßen, dass man solch simple Artikel nicht führe. Er überlegte. Es war ein Uhr. Es war nun fast still.
Die Lokale waren zu. Es fiel ihm ein, dass ihm Bekannte gesagt hatten, dass sie zur Weihnachtsmitternachtsmette hinunter zur Franziskanerkirche nahe am Hafen fahren würden, um dort ein Fest zu feiern, dass ihnen Gefühle der Vertrautheit und der Geborgenheit entlocken würde. Allerdings, so hatten sie hinzugefügt, würde die Messe erst weit nach Mitternacht beginnen und bis in den frühen Morgen andauern. Kleanthis entschloss sich, der Sache nachzugehen. Er betrachtete seinen Anzug. Er hatte den Eindruck, dass er der Zeremonie angemessen gekleidet sein würde. So ging er kreuz und quer, verlief sich zweimal im verwinkelten Gewirr der Gassen, als ihn plötzlich eine grau gescheckte halbwilde Katze eher wissbegierig als misstrauisch beäugte. Auf einer breiten Steinstufe machte er Halt.
Er drehte sich langsam herum und sah dann das Wunder: unter ihm lag der hell beleuchtete Hafen, lag das schimmernde Meer. Es war der Friede von Wesen, die über all diesem ihre Flügel beschützend ausgebreitet hatten. Kleanthis ging dann wieder mit rascheren Schritten durch die engen Gässchen der mittelal- terlichen Ansiedlung, am wütenden Bellen eines aufgebrachten Hundes vorbei, überholte einige für den Feiertag herausgeputzte Männer und Frauen, stieg dann die letzte steile Treppe hinauf und langte bei der Kiche an. Es war nicht zu leugnen, er war ziemlich geschafft. Die Anstrengung des Weges und des langen Abends insgesamt hatten auch seinen Magen in Aufruhr versetzt, denn deutlich spürte er nun den Nachgeschmack und die Erhitzung des reichlich konsumierten Whiskys. Er sah gleich, dass die Menschen schon dicht gedrängt um das Eingangsportal wie eine Mauer standen. Es war gar nicht daran zu denken, dass hier ein Durchkommen sein sollte. Dann hörte er einige Leute sagen, dass man den Seiteneingang des Gebäudes geöffnet habe, dort könne man vielleicht noch in das Innere der Kirche gelangen.
Kleanthis folgte ihnen und in der Tat konnte man sich mit einigem Geschick in das Seitenschiff drücken. Von den weiter nachdrängenden Menschen wurde er aber immer mehr im Gang nach vor geschoben. Die Wärme der Leiber erhitzte ihn noch mehr. Er hatte das Gefühl, unter Jackett, Gilet und Hemd klatschnass zu sein. Er beschloss, sich die Krawatte nicht zu richten, da er fürchtete, bei fest gebundenen Schlips Beklemmungen zu erleiden. Im Übrigen wäre es in diesem dichten Gedränge auch kaum möglich gewesen, die Arme bis zum Hals hochzuziehen, um das feine silbergraue Lätzchen korrekt zu justieren.
In diesem Moment standen die Leute, die in den Bänken dicht gedrängt saßen, auf und wandten ihre Gesichter nach links, alle mit gespanntem, erwartungsvollem Ausdruck. Kleanthis konnte nun nicht mehr weiter als auf den Rücken seines Vordermannes sehen, und gerade als er sich herumdrehte und ehe er sich noch anschicken konnte, gegen den unaufhörlichen Druck von hinten anzukämpfen, wurde er heftig am Arm gerissen. Es war ein gutmütiges, aber entschlossenes, von hektischen Flecken gerötetes Gesicht, das ihm zumurmelte: »Sie nehmen diese Kerze und gehen hinter dem Bischof!«
Der Mann mit dem milden Gesicht drückte ihm einen schweren silbernen Kerzenleuchter von gut einem Meter Länge, in dem eine blütenweiße brennende Kerze steckte, in die Hand, und ohne dass sich Kleanthis hätte dagegen sträuben können, wurden ihm die Finger um den Leuchter gebogen. Dann wurde er von dem Mann, der nicht größer als Kleanthis selbst war, aber einen Griff wie ein Schmied hatte, am Ärmel zur Seite gezogen. Zwei junge Männer, auch sie mit Leuchtern und brennenden Kerzen bewehrt, schritten an ihm vorbei. Dahinter kam ein Mann mit weißem, kurz geschnittenem Bart, der ein rosiges Gesicht umrandete. Er trug eine schwere grüne Kutte und führte einen mannshohen, oben gebogenen Stab in seiner Rechten. Er ging so knapp an Kleanthis vorbei, dass dieser den Atem des Mannes riechen konnte.
Sofort erkannte Kleanthis den Geruch von Anis. Im nächsten Moment schob ihn sein Bewacher weiter. Nun sah er, dass links neben ihm ein anderer Mann, der etwa ebenso alt wie er selbst war, ebenfalls mit einer brennenden Kerze im Leuchter, gemessenen Schrittes dem Würdenträger folgte. Erst jetzt bemerkte er, dass lauter Gesang eingesetzt hatte. Eine durchdringende Frauenstimme sang, der Gemeinde den Bruchteil eines Augenblicks vorauseilend, eine eintönige Melodie. Der Mann vor ihm im grünen Ornat, zu dessen Eskorte Kleanthis unversehens geworden war, mischte Brummtöne darunter. Ehe Kleanthis noch den Kopf zur Seite drehen konnte, spürte er wieder den stählernen Arm, der ihn unerbittlich gerade ausrichtete.
Der Blick von Kleanthis fiel auf die Hand des Bischofs vor ihm, die sich fest an den Stab gekrallt hatte. Da durchzuckte es Kleanthis heiß. Wachs war glühend von der Kerze auf seine Hand getropft. Und wieder, kaum dass er für einen Augenblick zusammengezuckt war, spürte er die eiserne Klammer im Rücken. Kleanthis spürte das unwiderstehliche Verlangen, den Kerzenleuchter fallen zu lassen, um sich durch die Menschenmasse hinauszuwühlen, aber der Griff von hinten drückte ihn wie mit einem Bleirohr auf seinen Platz. Dann wurde sein Blick nach oben gelenkt.
Es kam ihm vor, er würde in das Gemälde über dem großen Altar hineingezogen. Eine mächtige Gestalt mit einem spitzen Speer rammte mit voller Wucht das Eisen in den Rachen eines grässlichen Ungeheuers, aus dessen Schlund Flammen schlugen und ein Fluss eitrigen Fleisches drang. Die Menschen standen wie eine Mauer. Schaurige Gesänge hallten durch den Dom. Wieder spürte Kleanthis den eisernen Griff am Rückgrat, der ihn nun herumdrehte und so neben den Bischof schob, dass er wie dieser frontal vor den Reihen der ernst und entschlossen auf ihn starrenden Gläubigen stand. Der Bischof begann, beschwörende Rufe des Klagens auszustoßen.
Jedenfalls schien es Kleanthis so, denn er hörte nicht darauf, was der Mann rief, er sah nur diese starren Gesichter vor sich. Die Eisenhand zwang ihn auf den Boden, der Leuchter wurde ihm entwunden, noch ein Wachstropfen brannte sich auf seiner Haut ein. Der Bischof drückte ihm das auf Holz gemalte Bild einer Frau so lang ans Gesicht, bis seine Lippen fest auf die Ikone gepresst waren. Dann wurde er weggerissen, das Bild wurde nach oben gehoben, die Mauer der Menschen rückte heran. Die an vorderster Stelle standen, traten auf das Bild zu und küssten es. Dann wichen sie zur Seite und Kleanthis spürte, wie er weggeschoben wurde. Er drängte zum Ausgang. Ellbogen und Schultern wurden ihm hineingerammSchwet. Er befreite sich mit zwei, drei Stößen, die er links und rechts in die träge Masse schlug. Nur hinaus, nur weiter durch! Jemand schrie auf. Rufe kamen von draußen. Irgendwie schaffte es Kleanthis hinaus aus dem Wirrwarr.
Paul Gourgai ,Dezember 2019