„Das Coronavirus als Chance“, von Stephan Schleim.

Stephan Schleim.

Gedanken für die Zeit danach

Belgien, Frankreich, Italien, Österreich und Spanien haben nun schon Ausgangssperren verhängt. In Deutschland ist auch ohne Ausgangsverbot viel zum Stillstand gekommen. Es heißt abwarten, ob die Regierung noch schärfere Maßnahmen beschließen wird.

So oder so: Wegen der Inkubationszeit des Virus, bis es zu den Symptomen kommt, dann vielleicht eine Diagnose erfolgt, diese gemeldet und schließlich in Statistiken erfasst wird, vergehen einige Tage. Daher werden wir wohl erst nächste Woche wissen, was die Maßnahmen von heute bringen. Noch am Wochenende drängelten sich Münchner auf dem Viktualienmarkt auf der Suche nach Delikatessen. Hoffen wir, dass das gut ging!

Bis auf Weiteres steigen die Infektionszahlen in vielen europäischen Ländern exponentiell. Den Höhepunkt haben wir also noch nicht erreicht. Dabei muss man aber auch berücksichtigen, dass die Länder unterschiedlich testen. In der Milliardennation Indien, wo ich vor einer Woche noch war, soll es gerade einmal etwas mehr als hundert Infektionen geben. Das liegt meiner Meinung nach vor allem daran, dass man nicht nach dem Virus sucht. Die Leichtsinnigkeit vieler, die dort COVID-19 als ein ausländisches Problem ansehen, könnte sich bitter rächen.

In Italien (grün), Spanien (rot), Frankreich (blau) und Deutschland (gelb) steigt die Anzahl der berichteten Infektionen mit dem Coronavirus seit Anfang März exponentiell an. Daten von: ourworldindata.org/coronavirus-source-data/WHO
Während in China (rot) und Südkorea (grau) die Zahl der Infektionen kaum noch steigt, geht es damit in Deutschland (gelb) steil bergauf. Daten von: ourworldindata.org/coronavirus-source-data/WHO

Die Stagnation in China und Südkorea macht aber deutlich, dass sich die Erkrankung kontrollieren lässt. Politiker in Beijing sollen sogar schon den Sieg über das Virus ausgerufen haben. In den beiden asiatischen Ländern sind die allermeisten, bei denen eine Infektion festgestellt wurde, jedenfalls wieder genesen. Das macht sie zu den besten Kandidaten für Überlegungen zur Lockerung der Kontrollmaßnahmen. Man dürfte sich aber davor hüten, mit voreiligen Schritten die nächste Infektionswelle auszulösen.

Da es wohl bei nur weniger als 20% der Infizierten zu einem schweren Krankheitsverlauf kommt, wird das Coronavirus die Menschheit nicht dahinraffen. Laut den Zahlen der Johns Hopkins Universität starben bisher rund 4% der (weltweit bestätigten) Erkrankten. Warum es in Deutschland weniger als 1% sein soll, in den Niederlanden 2,5%, in Italien aber fast 8%, wird noch zu klären sein.

Jetzt, wo sich der Alltag für viele entschleunigt, können wir uns Gedanken für die Zeit nach der Pandemie machen. Dass sie kommt, ist klar; nur das Wann ist eine offene Frage. Das gibt uns die Gelegenheit, über die neue Normalität nachzudenken und so COVID-19 gar als Chance für die Zukunft zu verstehen.

Wie wir abhängig wurden

Das Virus macht uns erst einmal unsere große Abhängigkeit von der natürlichen Umwelt deutlich. Wir können eine noch so florierende Wirtschaft, ein noch so entwickeltes Gesundheitssystem haben – ein paar Moleküle, die zusammen genommen noch nicht einmal die Definition einer Zelle oder von Lebendigkeit erfüllen, eben das Virus, bringen das alles gerade aus dem Takt. Dafür nutzen sie einen alten biologischen Trick, mit dem sie unsere eigenen Zellen gegen uns verwenden.

Vielleicht ist sogar das Gegenteil wahr: dass uns nämlich die technisch gesteigerte Mobilität überhaupt erst so anfällig für so eine Erkrankung macht. In der Zeit, bis die Krankheitssymptome auftreten, kann man mehrmals die Welt umreisen; und manche haben das ja auch so gemacht. So schnell konnte die Politik gar nicht reagieren und bis Forscher spezielle Medikamente oder gar einen Wirkstoff entwickelt haben, dürfte es noch einmal viel länger dauern.

Die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie hängen auch davon ab, wie viel Reservekapazität im Gesundheitssystem und im Handel der Effizienzoptimierung zum Opfer gefallen ist. Die Brachen, die Zwischenlagerung und Redundanzen am stärksten abgebaut haben, kriegen jetzt am schnellsten Probleme. Das führt uns vor Augen, wie stark dieses Effizienzdenken auf dem Glauben in gleichbleibende Rahmenbedingungen basiert.

Die größte wirtschaftliche Keule kommt wohl erst noch, wenn das öffentliche Leben in den USA zusammenbricht. In der dort noch stärker gespaltenen Gesellschaft, dem für viele versperrten Gesundheitssystem, dem Leben auf Pump, einem Präsidenten, der Hass sät, und den vielen Waffen im Umlauf sind die Herausforderungen von ganz anderer Art. Vergessen wir aber nicht, dass Amerika auch immer wieder mit neuen Ideen überrascht.

Aus dem bisherigen Verlauf der Pandemie können wir aber schon ein paar Schlussfolgerungen ziehen:

  1. Das Argument von Politikern, etwas sei nicht bezahlbar, wird vom Coronavirus Lügen gestraft. Jahrelang hieß es: sparen, sparen, sparen. Jetzt hat die nächste Krise begonnen und plötzlich werden wie aus dem Nichts Milliarden verfügbar gemacht, um das System zu stabilisieren.
  2. Selbst alte Traditionen wie das Händeschütteln, die schon aus dem alten Rom überliefert sind, werden nun zumindest vorübergehend ausgesetzt. Ein Medizinprofessor aus meiner Zeit an der Uniklinik Bonn, der darin schon vor Jahren ein großes Infektionsrisiko sah, darf sich endlich bestätigt fühlen.
  3. Plötzlich ist es sogar in Deutschland möglich, sich von zuhause aus krank zu melden. Hier in den Niederlanden ist das schon seit vielen Jahren normal: Das geht sogar ganz ohne Arzt, erst nach ein paar Tagen wird ein Betriebsarzt eingeschaltet, für den man erst einmal ein paar Fragen beantworten muss.
  4. Auf einmal wird an vielen Orten Heimarbeit favorisiert. Die persönliche Anwesenheit im Büro ist also doch nicht notwendig. Das verringert auch Überfüllung und Stau im Pendelverkehr.
  5. Ein Großteil der Unterhaltungsindustrie, einschließlich des heiligen Fußballs, gilt auf einmal als verzichtbar; ebenso Geschäfte für reine Konsumgüter.

Man stelle sich einmal vor, zum Jahresbeginn hätte jemand diese Änderungen prophezeit. Nur wenige hätten geglaubt, dass sie schon Mitte März Realität sind – und bis auf Weiteres auch bleiben. Das zeigt uns, wie veränderlich selbst uralte Gewohnheiten unserer Gesellschaft sind. Damit wird aber auch deutlich, dass ein ewiges „Weiter-so!“ nicht zwingend ist. Es gibt Raum für Alternativen. Man muss sie nur denken und wagen.

Raum für Alternativen

Wenn man einmal unterstellen würde, dass die Erde so etwas wie eine höhere Intelligenz besäße, dann müsste man ihr gestehen, einen großen Coup gelandet zu haben: Mit einem wohl hunderttausende Jahre alten Trick, einer Virusinfektion, hat sie geschafft, was bisher keine Demonstrationen, keine Aktionen von Umweltschützern und noch nicht einmal den Klagen der niederländischen Urgenda-Initiative vermochten (Niederlande zu umfangreicheren Umweltschutzmaßnahmen verklagt) – dass wir nämlich weniger fliegen, weniger mit dem Auto fahren, weniger arbeiten, weniger produzieren und weniger Unnötiges konsumieren.

Die Zeit und die Ressourcen, die jetzt frei werden, können wir für wesentlichere Dinge im Leben verwenden: Welche Werte sind uns eigentlich am wichtigsten? Was wollen wir in der begrenzten Lebenszeit, die wir alle haben, erreichen? Dabei sollte man jüngere Menschen stärker einbeziehen, die immerhin noch am längsten auf diesem Planeten ausharren müssen – und auch die Schuldenberge der Vorangegangenen aufgebuckelt bekommen.

Mit den Wirtschaftskrisen seit den 2000ern, dem Dotcom-Crash, der Finanzkrise und jetzt der Epidemie, wurde wieder und wieder deutlich, dass das Wirtschaftsmodell, wie wir es kennen, keine andauernde Stabilität bringt. Durch eine Verkettung ungünstiger Umstände oder schlicht durch eine Überraschung wie das Corona-Virus erweist sich die Mühe wirtschaftlicher und politischer Entscheidungsträger weltweit immer wieder als vergeblich: Man kann alles richtig machen und am Ende doch verlieren. In diesem Sinne ist unser Leben nicht kontrollierbar.

Das Virus hat jetzt wahrscheinlich nur etwas schneller wirtschaftliche Hilfsmaßnahmen hervorgerufen, die wegen der stagnierenden Weltwirtschaft und drohenden Rezession früher oder später notwendig geworden wären. Der Vorteil ist, dass sich so ein paar geistlose Moleküle beschuldigen lassen und dafür keine Ausländer oder andere Minderheiten herhalten müssen. Die Unsichtbarkeit und Abstraktheit der Bedrohung erklärt vielleicht auch, warum es so wenig Widerstand gegen die Einschränkung von Grundrechten gibt.

Wirtschaftliche Illusionen

Geld, um das sich in unserer Zeit so viel dreht, hat nur deshalb seinen Wert, weil wir darauf vertrauen, damit in Zukunft Waren und Dienstleistungen bezahlen zu können. Ohne dieses Vertrauen eignen sich Geldscheine nicht mal mehr als Notizzettel und sind Zahlenwerte auf dem Konto bedeutungslos. Mit der Abkehr vom Goldstandard, der Krisen vorbeugen sollte, haben Banken sowieso die Möglichkeit, über Kredite wie mit einem Zauberstab Geld zu schaffen, und die Notenbanken freie Hand.

Ähnlich hartnäckig und ähnlich illusionär wie der Glaube ans Geld ist der Glaube ans Wirtschaftswachstum als Indikator für das Wohlergehen einer Gesellschaft. Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich immer mehr Volkswirtschaften auf die Optimierung des Bruttoinlandprodukts (Gross Domestic Product) ausgerichtet. Intuitiv wissen wir aber doch längst, dass dieses Wachstum bei den meisten Menschen überhaupt nicht ankommt. Im Gegenteil leiden immer mehr nicht nur unter relativer Armut, sondern sogar unter Krankheit (Die Deutschen sind kränker denn je).

Kritische Ökonomen haben längst aufgezeigt, dass dieser Wert nur steigt, weil er die schädlichen Auswirkungen unseres Wirtschaftswachstums ausblendet. Wenn man beispielsweise wie im Indikator echten Fortschritts (Genuine Progress Indicator) auch die Ausbeutung von Ressourcen, Kriminalität, Umweltverschmutzung oder den Zustand der Familien miteinbezieht, dann gab es seit den 1970ern bis 1980ern in den meisten westlichen Ländern keinen Fortschritt mehr, in vielen sogar Rückschritte. Der Glaube ans Bruttoinlandprodukt ist nicht besser als der biblische Tanz ums Goldene Kalb.

Das Bruttoinlandsprodukt (GDP – blau) im Vergleich mit dem Indikator echten Fortschritts (GPI – grün) in US-Dollar pro Kopf, hier aus Copyright-Gründen nur für Finnland. Bezieht man schädliche Effekt mit ein, gibt es seit den 1980ern bis frühen 1990ern keinen Fortschritt mehr, sondern sogar gesellschaftlichen Rückschritt. Für viele andere westliche Länder gilt das sogar schon seit den 1970ern. Daten von UNCTAD

Für die Stabilität der Gesellschaft ist es jetzt wichtig, nicht nur große Unternehmen zu stützen, sondern auch dafür zu sorgen, dass für die kleinen Menschen wenigstens das Existenzminimum gesichert ist. In der Überflussgesellschaft, in der wir inzwischen leben, sollte das ein Kinderspiel sein. Und es ist sogar eine Chance, uns von der Langeweile, der Sinnlosigkeit und den Krankheiten der Überfluss- und Konsumgesellschaft zu befreien.

Für Gesundheit und Sinn

In der Zeit, bis Forscher Medikamente oder gar einen Impfstoff gegen das Coronavirus finden, sind wir auf unsere eigenen Immunsysteme angewiesen. Neben ausreichender Bewegung sind dafür ausreichend Schlaf und eine gesunde Ernährung entscheidend. Aufgrund des Alltags- und Berufsstresses sparten viele an diesen Faktoren.

Laut einer neuen ARD-Dokumentation haben sich die Umsätze für Fertiggerichte in Deutschland seit 2008 verdreifacht! Dabei enthalten diese Produkte vor allem Fett, Salz, Zucker und künstliche Geschmacksverstärker oder Aromen – echtes Gemüse oder Fleisch hingegen nur in homöopathischen Dosen. In einem Test konnten Fachleute nicht einmal erahnen, um was für Gerichte es sich handeln könnte, nachdem man diese pürierte.

Politikerinnen und Politiker aller Couleur haben uns in den letzten Jahren immer wieder versprochen, dass alles gut würde, wenn wir nur weiter hart arbeiten und produktiv sind. Die Finanz- und Wirtschaftscrashs der 2000er beweisen, dass das nicht stimmt. Jetzt ist die Zeit für neue Gedanken, für echte Alternativen, für echten Sinn im Leben. In der Corona-Pandemie sehen wir, dass wir auch mit alten Denkmustern und Gewohnheiten problemlos brechen können.

Sorgen wir dafür, dass die neue Normalität nicht die alte wird. Der frühere Harvard-Ökonom David C. Korten hat beispielsweise schon ausformuliert, wie ein Wirtschaftssystem aussehen könnte, dass Natur und Leben auf der Erde einen hohen Stellenwert einräumt (Was kommt nach der Krisenerzählung?). Allem Leben! Packen wir es an.

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog „Menschen-Bilder“ des Autors.

Stephan Schleim ist studierter Philosoph, Psychologe und promovierter Kognitionswissenschaftler. Seit 2009 ist er an der Universität Groningen in den Niederlanden, zurzeit als Assoziierter Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie. Im Jahr 2012/2013 war er Universitätsprofessor für Neurophilosophie an der Ludwig-Maximilians Universität München.

Ein Kommentar

  1. Vielen Dank für diesen fabelhaften Bericht.
    Man kann nur hoffen, daß die Erkenntnisse mit der Entwicklung eines Impfstoffs nicht genauso minimiert werden wie das Virus selbst.
    Es ist z. Bsp. erstaunlich, daß selbst die Politik in diesen Zeiten in der Lage ist Telefonkonferenzen abzuhalten, anstatt aus aller Herren Länder zu einem gemeinsamen „Gipfel“ zu fliegen.
    Die Benzin – und Heizölpreise sind, jedenfalls hier auf Kreta, auf einem absoluten Tiefpunkt. Es ist noch gar nicht so lange her, da gefordert wurde, daß eben diese Preise zu Gunsten des Klimas extrem angehoben werden sollten.
    Es ist wahrlich ein Umdenken angesagt. Die Erde braucht uns nicht, aber wir die Erde.

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