Schwankender Grund.
Begleiterscheinungen, Teil 50 für www.radio-kreta.de vom 25. Oktober 2021
Seismische Bewegungen gehören zur Alltäglichkeit auf Kreta, wenngleich die momentane Häufung von Erdbeben sicher eher ungewöhnlich sein dürfte. Allerdings geschehen die meisten von ihnen unbemerkt von uns, nur die Messstationen bekommen Notiz von ihnen. Zwei Erdstöße mit Stärken von um die 6 auf der Richter-Skala binnen zwei Wochen (28.9., 12.10.) erinnern uns in jedem Fall daran, dass wir auf Kreta auf schwankendem Grund verweilen. Als Urlauber tangiert uns dies weniger, als Bewohner dieser herrlichen Insel jedoch lernt man schnell, sich an die Existenz auf zwei sich berührenden Erdplatten zu gewöhnen. Ein Menschenleben kostete das Erdbeben bei Arkolohori. Viele Gebäude wurden zerstört oder unbewohnbar.
Auf der politischen Ebene geriet bei den Bundestagswahlen in der Bundesrepublik ebenfalls einiges ins Schwanken. Die Unionsparteien erlebten ihr eigenes Erdbeben mit der Folge einer Erdrutschniederlage. Zu lange hatten sie die Menschen in der Scheinsicherheit abgegriffener Konzepte gehalten. Die SPD, deren politischer Grund seit der Schröderschen Agenda 2010 deutlich schwankte und erheblich einbrach, erreichte wieder festeren Boden. Die Grünen hätten sich sicherlich eine größere Wählerinnen- Wählerinsel erhofft, zeigten allerdings zu wenig Trittsicherheit in einer Zeit, in der sich viele Menschen vorsichtig neu orientieren und nach identifizierbaren Landmarken Ausschau halten. Die FDP profitierte von der Suche nach neuen festen Bodenbeschaffenheiten, weil sie einen digitalen Kompass und reiche Belohnung versprach. Letzteres Mittel funktioniert ja bekanntlich seit ewigen Zeiten. Dass die AfD verlor liegt vor allem daran, dass es Niemandem nutzt, im Prozess des Kampfes gegen das Ertrinken auf Schuldige zu verweisen. Die Linkspartei brach ebenfalls, wies schon die CDU/CSU, heftig ein. Jahrelang hatte sie über Wege zu sicheren Plätzen und über Auswege aus den Krisen gestritten, so dass immer weniger Menschen ihre Stimme wahrnehmen konnten oder wollten.
Diese Wahlen sind Momentaufnahmen. Die Ruhe ist trügerisch. Wie auf Kreta an jedem Tag ein neues starkes Erdbeben die Menschen auf die Straße treiben könnte, ist eine neue Regierung an sich noch keine Problemlösung. Ob die Menschen in Deutschland wieder auf sicherem Grund zu stehen glauben oder ob sie den Boden durch die Klimakrise, die Coronakrise und andere Probleme als nach wie vor schwankend betrachten hängt auch davon ab, ob die Politik die seismographischen Bewegungen tatsächlich aufmerksam verfolgt oder doch nur ein „Weiter so“ betreibt. Also weiteres Schachern um Klimaziele, Vorfahrt ohne Tempolimit für SUVs etc, Pflegenotstand, Altersarmut zulässt. Davon hatte die Mehrheit am 26. September 2021 nach 16 Jahren genug. Was bleibt ist, dass die Politik sich mit dem schwankenden Grund weiter auseinander setzen muss. Das ist wie mit den Kretern, die wissen, dass ihre Insel an der Nahtstelle zwischen ägäischer und afrikanischer Platte an exponierter Stelle sitzt. Auf schwankendem Grund zu stehen ist eine Lebenserfahrung, die die Politik, so scheint es, erst einmal gründlich erlernen muss.
Dr. Holger Czitrich-Stahl
(Geschrieben am 13. Oktober 2021 in Pitsidia)
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